Gelockt - meine Zeit an der Reling der Welt (eBook)
166 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7557-0670-0 (ISBN)
Als Autorin und Herausgeberin erzähle ich meine eigene Geschichte.
Am „Tor zur Welt“
in Hamburg
Hamburger Hafen, 24.07.1993
Der forsche Ton eines Schiffshorns durchbrach die Luft, so gewaltig und kraftvoll, als käme er aus dem tiefen Rumpf. Wie ein Startschuss für die Geburt eines neuen Lebensabschnitts. Im Spiel der Hafenkulisse schlugen Wellen platschend an die Kaimauern und die wilden Schreie der Möwen erfüllten den Himmel. Die Kielwasser rauschten so laut, dass sie die Motoren der Schiffe beinahe übertönten. Mit einem großen Koffer an ihrer Seite stand Sabine auf einer der Kaianlagen und lauschte nachdenklich dem Hafentreiben. Eine Windböe nach der anderen jagte durch ihre dunklen Locken. Endlich war sie hier. An der Schwelle, hinter der die Welt wartete. Sie wusste es, aber noch mehr fühlte sie es. Alles Weite lag jetzt so nah, als hätte sie plötzlich Flügel. In wenigen Stunden würde sie Deutschland für mehr als ein halbes Jahr verlassen. Sie spürte den Freigeist in sich, wie er ihren Herzschlag beschleunigte. Schneller und schneller. Ein erhebendes, weiches Gefühl überkam sie, so als würden gleißende Sonnenstrahlen sie durchfließen. Nichts konnte sie mehr halten.
Tief atmete sie die Seeluft ein, die der Elbwind in den Hafen brachte. Wohin sie ihren Blick auch richtete, er fiel doch immer wieder zurück auf das eine Schiff dort auf dem Wasser. Sie betrachtete seine Wände und Fenster, wobei ihre Augen vom Bug bis zum Heck wanderten, vor und zurück. Dabei wirkte es, als stünde sie vor einer riesigen künstlichen Leinwand, so direkt und unmittelbar lag die MS Hanseatic vor ihr. Seltsam märchenhaft und doch absolut real. Da sie sie bisher nur von Fotos kannte, war der Anblick in der Wirklichkeit nun umso einnehmender. Wie geblendet war sie von diesem Schiff, dessen Farbe noch weißer zu sein schien als der Schnee. Es verbildlichte ihre ganze Sehnsucht nach dem Meer und alles Glück, das sie in diesem Moment empfand. Im Gepäck hatte sie große Träume und Hoffnungen, von denen sie auf einmal glaubte, dass sie sich wirklich erfüllen könnten. Da oben, auf diesem Schiff.
Aber am höchsten Punkt der Freude kam er auf einmal wie von der Seite auf sie zu. Der Schatten einer leisen Angst. Sabine senkte für einen Augenblick den Kopf und starrte auf den Boden vor ihr. Dies hier war keine Urlaubsreise. In den nächsten sieben Monaten würde es nicht einen einzigen freien Tag geben. Vielleicht würde sie das alles überhaupt nicht durchhalten, es einfach nicht schaffen. Natürlich war sie nicht alleine, aber trotzdem nagte da etwas an ihr, das sie nicht ganz einordnen konnte. Ja, sie freute sich auf die Arbeit. Sie hatte ein breitgefächertes Fachwissen und mit ihren zweiundzwanzig Jahren schon sehr viel Berufserfahrung. Doch war es das erste Mal, dass sie auf einem Schiff arbeiten würde. Und ihr war bewusst, dass sie die Stelle des von Bord gehenden Stewards sofort übernehmen musste, da gab es keine Einarbeitung. Aus Ungewissheit wurde Unsicherheit. Das trieb sie wieder einmal dazu, an so vieles zu denken. An all das, was noch nicht existierte und im Nebel der Zukunft verschwamm. Aufgaben, auf die man nicht vorbereitet war. Herausforderungen, die noch keinen Namen hatten. Und erst die Seekrankheit! Genau aufs Stichwort tanzten die Fahrgeschäfte der Volksfeste wieder vor ihrem inneren Auge vorbei. Nicht einmal mit einem Karussell konnte sie fahren, wie wäre ihre Verfassung dann erst auf einem Schiff, das den gnadenlosen Wogen des Ozeans ausgeliefert war? Langsam versuchte Sabine, das Rad der schwarzen Gedanken in ihrem Kopf anzuhalten. Freude und Angst lagen oft viel zu eng beieinander. Es war nichts anderes als Licht und Dunkelheit. Welche unangenehmen Sachen ihr auch noch einfallen mochten, sie würde nicht umkehren. Sie wollte das hier viel zu sehr. Und wenn sie an ihre Eltern dachte, dann wusste Sabine, warum sie die Schifffahrt so sehr liebte und warum der nächste Schritt, den sie tun würde, der richtige war. In ihrer Vorstellung materialisierte sich das kleine Sportboot auf der Wasseroberfläche, mit dem sie in fast jedem Urlaub unterwegs gewesen waren. Es hatte immer seinen festen Platz auf dem Anhänger hinter dem Wohnmobil. Erinnerungen an warmes Mittelmeerklima, das Glitzern der See und die weiße Gischt unter ihren Wasserskiern zeichneten sich in ihrem Gedächtnis ab.
Passagiere schlenderten an ihr vorüber und sie musste an ihre Kollegin Anja denken. Schmunzelnd fiel ihr das Telefongespräch ein, das sie vor einigen Wochen geführt hatten. Zugegeben, es war wirklich nicht einfach gewesen, zu entscheiden, was man auf eine so lange Reise durch die unterschiedlichsten Klimazonen an Kleidung mitnehmen sollte. Vor allem hatte man in einem Koffer ja nicht allzu viel Platz, selbst, wenn man sich eines der größten Modelle zulegte.
„Weißt du, was du da mitnimmst, Sabine?“, hatte Anja neugierig gefragt.
„Na ja, ich habe mir den größten Samsonite-Koffer gekauft, den ich finden konnte.“
„Was, das reicht dir? Mir reicht das nicht.“ Anja klang fast entsetzt.
„Ja, was hast du denn dabei? Was sollte man denn sonst mitnehmen, wenn nicht einen großen Koffer?“ Es wurde immer interessanter.
„Ich habe mir die größte Tasche gekauft, die es überhaupt gibt und in die ich alles reintun kann, was ich auf der Reise benötige.“
Seit diesem Gespräch hatte sich Sabine die verschiedensten Taschen ausgemalt, die voluminöser sein sollten als ihr Koffer. Was würde Anja da wohl im Schlepptau haben? Die Spannung stieg mit jeder Minute. Da sie auf dem Schiff hauptsächlich ihrer Arbeit nachgehen würden, sie selbst als Cocktail- und Weinstewardess, Anja als Restaurantstewardess, war neben den Freizeitklamotten vor allem die Arbeitskleidung wichtig. Die bestand aus einer weißen Bluse und dem dazugehörenden schwarzen Rock.
Fünf Garnituren davon befanden sich in Sabines Koffer, dagegen hatte sie für die Landgänge nur das Nötigste dabei. Kleidung konnte man sich auf der Reise schließlich genug kaufen, wenn man noch etwas brauchte.
Plötzlich lächelte ihr aus einem der haltenden Taxis Anjas heiteres Gesicht entgegen. Freudig winkte Sabine ihr zu und kam näher.
„Hallo! Wartest du schon lange?“
„Nein, vielleicht zehn Minuten. Schön, dass du da bist!“
Der Taxifahrer öffnete geräuschvoll den Kofferraum, so als wollte er die Aufmerksamkeit der beiden Frauen jetzt darauf lenken. Sabine schaute ganz automatisch unter den angehobenen Deckel, sie blinzelte zur Sicherheit noch einmal, um eine Täuschung wirklich ausschließen zu können.
„Schon gut, wir machen das“, meinte Anja freundlich und nickte dem sichtlich überforderten Mann zu. „Hilfst du mir, Sabine?“
Sie war sprachlos. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht damit. Ein schleichender Schock befiel Sabines Glieder. Dennoch ließ sie ihren Koffer stehen und legte gemeinsam mit Anja Hand an das riesige Ding.
Als sie es schließlich mit aller Macht auf den Boden gewuchtet hatten, präsentierte es sich erst in seiner ganzen stolzen Pracht. Es sah aus wie ein schwarzer Seesack und war doch keiner, denn niemals hätte man ihn sich nach Matrosenart über die Schulter werfen können. Er war beinahe menschengroß und fast eine ganze Armlänge breit.
„Anja, was hast du denn da alles drin?“ Sabine deutete auf die unglaubliche Tasche und blickte kurz auf ihren eigenen Koffer, der mit einem Mal ameisenhaft wirkte.
In Anjas Augen blitzte es keck auf, die langen braunen Haare umwehten ihr grinsendes Gesicht.
„Alles, was ich brauche, mach dir keine Sorgen! Wir sind ja ein halbes Jahr unterwegs und nicht nur sieben Tage.“
Vor lauter Fassungslosigkeit über Anjas Begleiter fiel Sabine jetzt erst auf, dass der Taxifahrer sich unbemerkt aus dem Staub gemacht hatte. Angestrengte Laute drangen an ihr Ohr. Anja versuchte, ihre Tasche irgendwie hochzuheben. Es half alles nichts, sie mussten sie zusammen auf das Schiff tragen. Sabine begutachtete kurz die Gangway, sie verlief zum Glück gerade ohne eine Steigung.
Das Bild, das sie jetzt abgaben, wäre wirklich filmreif gewesen und einen Oscar hätten sie hundertprozentig auch bekommen. Anja ging voran und hielt ein Ende des Sacks mit beiden Händen umfasst. Hinter ihr folgte Sabine, eine Hand an dem Koloss zwischen ihnen, die andere am Griff ihres eigenen Koffers. Amüsiertes Gelächter schallte von einem Deck, denn dort hatte sich bereits ein Teil der Crew versammelt, um diese komischen Neuankömmlinge zu beobachten. Sabine und Anja sahen sich kurz an und schüttelten beide lachend die Köpfe. Einen spaßigeren Start konnte man nicht mehr hinlegen, da waren sie sich sicher.
Als sie an der Rezeption ankamen, nahm Sabine den Raum erst richtig wahr. Dass es sich bei der MS Hanseatic um ein Fünf-Sterne-Schiff handelte, sagte einem bereits ein kurzer Augenaufschlag. Wie gemalt, lag über allem eine zeitlose Eleganz. Die Wände ähnelten rotbraunem Holz und verkörperten neben Stil und Klasse eine ganz besondere Erlesenheit. Glänzende Spiegel fingen jede Bewegung auf und machten das Ambiente noch lebendiger. Ganz...
Erscheint lt. Verlag | 2.3.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
ISBN-10 | 3-7557-0670-9 / 3755706709 |
ISBN-13 | 978-3-7557-0670-0 / 9783755706700 |
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