Mörderische Brise (eBook)
320 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-7517-1000-8 (ISBN)
So hat Clara Clüver sich ihre besten Jahre nicht vorgestellt: Nach der Trennung von ihrem Ex kehrt die Großstadtpfarrerin eher widerwillig in die alte Heimat Travemünde zurück. Kaum dort, stolpert sie zu allem Überfluss auch noch über eine Leiche! Erich Konstantin, strenger Patriarch und lokaler Gastro-König, liegt tot am Niendorfer Hafen. Clüver folgt den Geistern der Vergangenheit und gerät in die Tiefen einer von Neid zerfressenen Unternehmerdynastie. Und irgendwann steht sie selbst im Visier des Mörders ...
Christian Humberg wurde 1976 in Gerolstein geboren und studierte in Mainz Buch- und Literaturwissenschaft. Er arbeitet als freier Autor von Büchern und Theaterstücken, als Comicszenarist, Literaturübersetzer und Lektor. Seine Werke erreichen Leser:innen auf der ganzen Welt und wurden bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Humberg lebt in Mainz, verreist aber schon seit Jahren regelmäßig an die "mörderische" Ostsee.
Christian Humberg wurde 1976 in Gerolstein geboren und studierte in Mainz Buch- und Literaturwissenschaft. Er arbeitet als freier Autor von Büchern und Theaterstücken, als Comicszenarist, Literaturübersetzer und Lektor. Seine Werke erreichen Leser:innen auf der ganzen Welt und wurden bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Humberg lebt in Mainz, verreist aber schon seit Jahren regelmäßig an die "mörderische" Ostsee.
KAPITEL 1
Juni 2018
Mittwoch
Das Innere der Kirche war still und trocken. Die dicken Mauern, die seit knapp zweihundert Jahren im Kern der Travemünder Altstadt aufragten, hatten schon unzählige Stürme überstanden. Auch das soeben – und noch immer hörbar widerwillig – endende Unwetter hatte ihnen nichts anhaben können.
Erleichtert sah Pastor Kruse sich um. Der alte Geistliche stand auf der Kanzel, allein auf weiter Flur, und sein Blick wanderte über die leeren Bankreihen, die gewölbte Decke und die Pfeifen der großen Orgel. Draußen vor der zweiflügeligen Eingangspforte fielen letzte Regentropfen, und ein scharfer Wind pfiff noch immer um die ehrwürdigen Mauern. So manche Dachschindel lag zerbrochen auf den Gehwegen des malerischen Küstenortes, und drüben auf der Halbinsel Priwall, die am anderen Ufer der Trave begann, versperrten angeblich umgefallene Bäume die Straßen. Doch das Haus des allmächtigen Herrn, dessen schmaler Turm weit über die Dächer Travemündes ragte, hatte das Unwetter mühelos überstanden, das in der vergangenen Nacht mit unerwarteter Härte über die Lübecker Bucht gekommen war.
»Nichts anderes habe ich von dir erwartet«, murmelte der Geistliche.
Er hatte sich Zeit gelassen. Erst am Nachmittag, als die Straßen zumindest wieder halbwegs frei und sicher wirkten, war er aus seiner bequemen Dienstwohnung im Pfarrhaus aufgebrochen, um in der Kirche nach dem Rechten zu sehen. Seine Fantasie hatte ihm schon seit Stunden zerborstene Butzenfenster vorgegaukelt, breite Pfützen auf dem Fußboden und Berge an herbeigewehtem Unrat auf den Eingangsstufen.
Doch nichts davon hatte sich bewahrheitet. Unkraut verging nicht, das wusste Kruse genau – und so manche prächtige Blume stand dem minderwertigen Kraut da in nichts nach. Einzig die Tür seiner stolzen Kirche hatte der Wind offenbar aufbekommen, aber selbst durch den schmalen Spalt zwischen den beiden hölzernen Flügeln, den Kruse bei seiner Ankunft schnell wieder geschlossen hatte, war kaum ein Regentropfen ins Innere gelangt.
Zufrieden trat der Pastor von der Kanzel und wandte sich zum Gehen. Er war nicht mehr so gut zu Fuß wie in Jugendjahren, und das heimische Sofa rief mit wachsender Lautstärke seinen Namen. Außerdem fror er stets, wenn er dieses alte Haus betrat.
Er lachte leise. Was die Quacksalber in ihren Psycho-Praxen wohl von diesem Detail halten würden? Vermutlich würden sie darin eine psychosomatische Reaktion sehen – den Beweis dafür, dass er tief in seinem Inneren eine Aversion gegen den eigenen Beruf und die eigene Berufung entwickelt hatte. Ein Pastor, der in der Kirche fror? Vor allem in der Kirche?
Der alte Seelenschäfer Kruse hielt wenig von der Psychoanalyse. Niemand war im Kern schwach. Selbst der größte Sünder wusste, welche Gräuel er beging. Es lag allein an ihm, sie zu unterbinden – an seinem eigenen freien Willen und in seiner eigenen Macht. Wer das mit Kindheitstraumata oder unterdrückten Sehnsüchten wegerklären wollte, suchte nur nach Entschuldigungen, wo keine angebracht waren. Und wer in der Kirche fror, der musste sich eben warm anziehen und die Zähne zusammenbeißen – so einfach war das.
Dann klapperten sie auch gleich viel weniger.
Schweigend ging Kruse auf den Ausgang zu. Er hatte die gusseiserne Klinke der Pforte schon so gut wie in der Hand, als er plötzlich eine fremde Stimme hörte.
»Es war richtig so. Doch, das war es.«
Kruse stutzte. Die Stimme war von rechts gekommen, aus den Schatten unter der alten Empore, die seit Jahrzehnten ungenutzt blieb. Aber wie konnte das sein? Er war doch mutterseelenallein im Gotteshaus.
»Es hätte natürlich anders enden können«, fuhr die Stimme fort. Sie war leise, doch in der Stille des Kircheninneren trotzdem klar zu vernehmen. »Das steht außer Frage. Aber es ist jetzt, was es ist – und die Situation verlangte ohnehin danach. Seien wir doch ehrlich: Es war nichts anderes als eine schlichte Reaktion auf die Umstände.«
Der Geistliche kniff die Lider zusammen. Erst dann fand er die Quelle, aus der die Stimme zu ihm dringen musste.
Der alte Beichtstuhl war seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr in Benutzung. Den moderner ausgerichteten Mitgliedern der Gemeinde kam das klobige Ding mit den schwarzen, kunstvoll verzierten Holzwänden vor wie ein Relikt aus vergangener Zeit. Selbst Kruse, der generell ein starker Verfechter der guten alten Sitten und Gebräuche war und sich mit modernen Moden meist schwertat, hatte stets mit diesem Beichtstuhl gefremdelt. Die Evangelische Kirche war beileibe kein Feind der Beichte per se, aber klobige Kabinen mit dicken Vorhängen und engmaschigen Gitterfenstern, durch die man nicht einmal die gröbsten Gesichtszüge seines Gegenübers erkannte, waren auch ihm stets falsch vorgekommen. Gewissermaßen wie ein urkatholisches Detail in einem durch und durch unkatholischen Umfeld.
Doch jetzt schien ein Schäfchen den Weg in dieses Detail gefunden zu haben. Oder etwa nicht? Wer auch immer da zu ihm sprach – und Kruse konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte –, suchte ein offenes Ohr. Einen Hafen im Sturm.
Das Sofa muss offenbar warten, dachte er.
Kruse seufzte innerlich. Er arbeitete ausgesprochen ungern außerhalb der normalen Zeiten, und im Grunde war seine Kirche momentan geschlossen. Aber er war hier und diese verirrte Seele ebenfalls. Er musste auf sie reagieren – schon allein, um sie aus dem Gebäude zu bekommen.
Ich bin selbst schuld. Ich hätte eben einfach zu Hause bleiben sollen, dann hätte mich auch niemand behelligt.
Langsam trat er auf den Beichtstuhl zu. Die linke Kabine war frei, vor der rechten hing der zugezogene Vorhang. Die Schatten waren so dicht, dass Kruse nicht einmal erkennen konnte, ob wirklich zwei Beine unter diesem hervorragten.
Na bravo.
Er nahm ebenfalls Platz. Seine alten Kniegelenke dankten es ihm mit einem stechenden Schmerz, und das Gesäß, das schon wieder ganz auf Sofakissen eingestellt gewesen war, rebellierte fühlbar gegen das harte und ungepolsterte Holz der schmalen Sitzbank.
Ich bin zu alt für diesen Quatsch, dachte er, ein bitteres Gefühl im Hals. Nicht für die Kanzel – das niemals! Aber definitiv für das hier.
»Vergib mir, Vater«, sagte die Stimme in der Nachbarkabine, kaum dass er sich halbwegs arrangiert hatte. »Denn ich habe gesündigt.«
Kruse hätte fast laut gelacht. Die Formulierung war pures Klischee. Wo sind wir denn hier?, dachte er spöttisch. Im Vatikan?
Doch über seine Lippen drang nur ein knappes »Mhm.« Dass er dabei ungeduldige Kreisbewegungen mit der Hand machte, sah sein Gegenüber ja zum Glück nicht.
»Es ging allerdings auch nicht anders«, fuhr die Stimme fort. »Es war nötig so, richtig so. Ja, das war es.«
Der Wind heulte nun wieder lauter. Auch er machte es Kruse unmöglich, die Stimme genauer zu charakterisieren. War das da neben ihm nun ein Mann oder eine Frau? Die Person sprach leise, und obwohl ihm ein helles Timbre in diesen Worten auffiel, blieb er unsicher.
»Was haben Sie denn getan?«, fragte er und sah zum kleinen Gitter in der Seitenwand der Kabine.
Dahinter bewegte sich ein nahezu gestaltlos wirkender Schemen. »Nichts, was jetzt noch eine Rolle spielen würde«, antwortete die fremde Person.
Kruse streckte die Beine ein wenig aus, die prompt schmerzhaft knackten, und verzog das Gesicht. »Nun ja. Sie sind hier, von daher spielt es ganz offensichtlich doch eine Rolle.«
Die andere Person schwieg.
»Sie haben sich extra hierher begeben, mein …« Er zögerte. Konnte er es wagen, »Freund« zu sagen? Oder war »Kind« das bessere, da neutralere Wort? Er konnte sich einfach nicht festlegen, wer da vor ihm saß. Die Stimme war so leise und der Wind so laut. »Mein Gast«, sagte er ebenso schlicht wie ungelenk. »Bei diesem Wetter … Das zeigt doch, wie sehr es Sie belastet.«
Abermals machte er eine Pause, wartete auf die Reaktion seines Gegenübers. Und abermals wartete er vergebens.
»Wahre Buße«, sagte Kruse fest, »kann nur beginnen, wo wahre Reue existiert. Sie müssen sich Ihr Tun eingestehen. Dann kann der Herr Ihnen helfen. Nur dann.«
Schweigen.
Kruse spähte in das Dunkel jenseits des Gitters und sah absolut nichts außer der allgegenwärtigen Schwärze. »Sind Sie dazu bereit?«, fragte er und spürte, wie seine Bandscheiben unter der Macht der kalten Holzbank kapitulierten. »Hallo?«
Als auch nach einer geschlagenen Minute keinerlei Reaktion folgte, hielt Kruse es nicht länger aus. Er stand auf – auch zum Wohle seiner alten Knochen –, trat aus der Kabine und streckte sich. Dann sah er zum Vorhang. »Lassen Sie uns offen sprechen, einverstanden?«, schlug er vor. »Von Angesicht zu Angesicht. Ich höre Ihnen zu, und ich kann Ihnen helfen, wenn Sie es zulassen. Aber es muss von Ihnen ausgehen, nur dann hat es Wert.«
Nichts. Die fremde Person regte sich nicht.
Ist da jemand spontan eingeschlafen, oder was?, ärgerte sich Kruse. »Hallo?«, fragte er erneut – und ganz schön ungeduldig. »Ich rede mit Ihnen!«
Dann tat er, was selbst er in jüngeren Jahren nie und nimmer gewagt hätte: Er griff nach dem Vorhang und zog ihn kurzerhand zur Seite!
Dahinter saß niemand mehr. Die Kabine war gähnend leer.
Kruse runzelte die...
Erscheint lt. Verlag | 25.3.2022 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Anette Hinrichs • Eva Almstädt • Klaus-Peter Wolf • Krimis • Küstenkrimi • Lübecker Bucht • Morden im Norden • Niendorf • Nina Ohlandt • Ostseekrimi • Urlaubskrimi |
ISBN-10 | 3-7517-1000-0 / 3751710000 |
ISBN-13 | 978-3-7517-1000-8 / 9783751710008 |
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