Abendrot (eBook)

Ein Fall fu?r Giulia de Medici

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
352 Seiten
Kampa Verlag
978-3-311-70324-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Abendrot -  Philipp Gurt
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Das Abendrot spiegelt sich im See am Fuße des Haupterhorns. Während das Vieh friedlich weidet, blickt eine junge Frau ins Wasser. Sie sieht ein Gesicht, ihr eigenes, doch sie erkennt sich nicht. In der Hand hält sie ein blutiges Messer - und weiß nicht, warum ... Giulia de Medici, Chefermittlerin der Kantonspolizei Graubünden, wollte ein paar Tage in ihrer Hütte im Hochtal Sapün verbringen, in der Abgeschiedenheit der Berge, auch um ihre große Liebe Erkki zu vergessen. Doch dann steht mitten in der Nacht eine verstörte Frau mit einem blutverschmierten Messer vor Giulias Tür: Woher kommt sie? Ist sie Täterin oder Opfer? Braucht sie Hilfe, oder will sie Giulia etwas antun?Noch in derselben Vollmondnacht begeben sich Giulia und ihre Kollegin Nadia Caminada auf Spurensuche. Schnell wird klar, dass die Alpweiden nicht so verlassen sind, wie sie scheinen: Die Polizistinnen geraten in Lebensgefahr, und ihre Ermittlungen führen sie zurück bis ins Jahr 1984, als der Linthebene-Mörder im Unterland Angst und Schrecken verbreitete.

Philipp Gurt wurde 1968 als siebtes von acht Kindern einer armen Bergbauernfamilie in Graubünden geboren und wuchs in verschiedenen Kinderheimen auf. Bereits als Jugendlicher verfasste Gurt Kurzgeschichten, mit zwanzig folgte der erste Roman. Schon immer hatte er ein inniges Verhältnis zur Natur, das auch sein hochatmosphärisches Schreiben prägen sollte. Seine Verbundenheit mit dem Kanton Graubünden, wo er noch heute als freier Schriftsteller lebt, ist in jedem seiner Romane spürbar.

Philipp Gurt wurde 1968 als siebtes von acht Kindern einer armen Bergbauernfamilie in Graubünden geboren und wuchs in verschiedenen Kinderheimen auf. Bereits als Jugendlicher verfasste Gurt Kurzgeschichten, mit zwanzig folgte der erste Roman. Schon immer hatte er ein inniges Verhältnis zur Natur, das auch sein hochatmosphärisches Schreiben prägen sollte. Seine Verbundenheit mit dem Kanton Graubünden, wo er noch heute als freier Schriftsteller lebt, ist in jedem seiner Romane spürbar.

1


Mit unsicheren Schritten ging sie durchs Abendrot, das flammend ihr Gesicht und die Felswand hinter ihr erglühen ließ, deren Fuß sie talwärts gefolgt war, ehe sie die steilen Bergweiden erreicht hatte. Ihr linker Arm baumelte wie ein Stück fremdes Fleisch an der Schulter, ihr unverletztes Auge spiegelte stummes Grauen.

Unvermittelt blieb sie stehen, als wollte sie die Schönheit der Bergwelt bestaunen. Die weitläufigen Alpweiden atmeten lauwarm die Tageshitze aus, das Läuten der Glocken und Schellen war das einzige Geräusch in der Stille dieser Abgeschiedenheit. Ihr Blick wanderte talwärts über die Sommerweiden, durch die ein Wildbach purzelnd einen Trichter gezogen hatte. Ein paar Mutterkühe weideten mit ihren Kälbern nahe dem weiter unten gelegenen Bergsee, der, in einer Mulde eingebettet, die grellen Farben des Himmels einfing. Auf der anderen Seite des Baches graste das Galtvieh; zahlreiche Rinder, Jungstiere und Ochsen. Gemeinsam mit den Jährlingen und den Färsen punkteten sie dunkel das Grün.

Wieso sie Namen dafür wusste, war ihr schleierhaft, ebenso, warum sie sich inmitten dieser ihr fremden Bergwelt befand und vor allem, weshalb sie ein blutiges Messer umklammert hielt.

Was war geschehen?

Diese Frage wiederholte sich in ihrem Innersten wie das stetige Tropfen eines Wasserhahns. Und so wie jeder Tropfen nichts von dem davor gefallenen wusste, so wusste auch sie nicht, dass sie sich diese Frage schon viele Male gestellt hatte.

Sie blickte an sich herunter, so als gehörte dieser Körper nicht zu ihrem fragenden Geist; gebräunte Beine ragten aus kurzen Jeans, Füße steckten in leichten Bergschuhen, das linke Knie war aufgeschlagen. Ihr apricotfarbenes Shirt war dreckig und verzogen. Wer immer ich auch bin, dachte sie, ich muss sportlich und noch recht jung sein. Weshalb sie ihren linken Arm nicht bewegen konnte, wusste sie nicht. Beim erneuten Versuch ihn zu heben verspürte sie einen brennenden Schmerz in der Schulter.

»Vielleicht ist sie ausgekugelt?«, fragten ihre aufgeschwollenen Lippen stumm. Sie hob ihre rechte Hand mit dem Messer vors Gesicht und starrte es mit dem rechten Auge an, denn das linke war zugeschwollen. Ihre Gedanken und ihr Geist waren in einem Käfig eingesperrte Vögel, die vergeblich flatterten. Zudem war ihr übel und schwindlig, sodass sie sich übergeben musste.

Mit unrhythmischen Schritten und gefolgt von ihrem wachsenden Schatten, der sich mit dem Verschwinden des bergwärts kletternden Sonnenlichts allmählich hinter ihr auflöste, stieg sie die Flanke zum kleinen See hinab. In der baumlosen Weidenlandschaft setzte sie sich am seichten Ufer ins sattgrüne Gras. Nur noch mattorange leuchteten die lichten Anhöhen über ihr, während die Schattenberge bedrohlich anwuchsen, als wollten sie den Tag vollends verschlingen.

Unwillig legte sie das Messer zur Seite, beugte sich übers Wasser, das ihr Spiegelbild als dunkle Silhouette wiedergab, und trank gierig aus der hohlen Hand. Danach umklammerte sie sofort wieder den Schaft der Waffe, nur beäugt von zwei Kühen und deren Kälbern, die in gebührendem Abstand zu ihr standen und wegen der sie umschwirrenden Fliegen mit den Ohren wackelten.

Das Hirn der jungen Frau schien sich mitsamt ihrem Zeitgefühl verflüssigt zu haben. Sie kriegte keinen Gedanken zu fassen, während sie bewegungslos am Ufer saß. Nur ein tief in ihr verborgenes Gefühl schwappte zaghaft hoch, als die Dämmerung wie aus einer riesigen Salzmühle über die Szenerie gestreut wurde. Dabei überkam sie so etwas wie Friede, der sie an irgendetwas weit Entferntes erinnerte.

Erst als sich die Nacht wie ein Film auf ihre Haut legte, das Gras feucht vor Tau wurde und die Sterne auf dem rabenschwarzen Seelein so lebendig schimmerten, als fehlten sie am Himmel, trieb ihr Instinkt sie wieder auf die Beine.

Auf der anderen Uferseite angekommen, dort wo der See in den Wildbach abfloss, stieg schräg hinter ihr der Mond über einer Felswand hoch und warf ihr ihren Schatten vor die Füße. Sie drehte sich um. Verstörend schnell wuchs die Kuppe zu einem Vollmondriesen an, der die Bergwelt mit seinem Glanz versilberte. Geblendet schloss sie das Auge, nur für einen Moment, wie ihr schien, da prangte die gleißende Scheibe seltsamerweise bereits eine Handbreit höher.

Nun folgte die junge Frau ihrem blassen Nachtschatten talwärts, als leite sie ein stummer Berggeist, um sie vor den Irrlichtern der Bergwelt zu bewahren. Das Plätschern des Wildbachs und das vereinzelte Läuten der Schellen begleiteten sie, bis sie in den ruhenden Matten eine Hütte ausmachte. Es roch vertraut nach Kaminfeuer.

Mit geweiteter Pupille, das Messer umklammert, näherte sie sich dem Maiensäß, aus dessen geschlossenen Fensterläden gelbliches Licht schimmerte.

 

Giulia de Medici war allein. Die dreiunddreißigjährige Ermittlerin der Kantonspolizei Graubünden hatte die hölzernen Fensterläden und die Haustür ihrer Berghütte verriegelt.

Erst am Nachmittag war sie an diesem Montag hier oben angekommen, nachdem sie Chur am späten Vormittag bei brütender Sommerhitze verlassen hatte. Während der kurvenreichen Fahrt das Schanfigg hoch plätscherten ihre Gedanken dahin wie das Programm des Regionalsenders.

Den Eingang zum Hochtal Sapün erreichte sie gegen Mittag. Danach folgte sie der Straße weiter bergwärts und fuhr am Dörfli vorbei. Auch hinten, im kleinen Tobel, war es kaum kühler. Durch das offene Schiebedach wehte der warme Duft der Tannen herein. Diese krallten sich, wo immer sie konnten, an den steilen Wänden fest, während tief unter Giulia der Sapünerbach kräftestrotzend durch die Enge rauschte.

Hinter dem Tobel öffneten sich zur Linken wieder die Alpweiden, die sich sanft an die Bergflanken schmiegten, als hätte es die Schlucht nie gegeben. Nur das massige Bett des Sapünerbachs, in das vereinzelt Steinmuren aus den stetig näher zusammenrückenden Bergflanken stürzten, teilte das Tal. Der in dieser Höhe lichter werdende Bergwald wuchs nur noch an der steilen Westflanke etwas geschlossener, bevor er auch dort der mächtigen steinernen Chüpfenflue weichen musste, deren Gipfel, wie der des Haupterhorns gegenüber, schneebedeckt war.

Beim jahrhundertealten Berggasthaus Heimeli angekommen, parkte Giulia ihren knallroten Audi Q5 unter dem einzigen Baum am Ende der Bergstraße.

Nachdem sie auf der Sonnenterrasse unter einem der verblichenen Sinalco-Schirme gegessen und eine Schorle getrunken hatte, saß sie vor ihrem Cappuccino. Gut gelaunt trat die junge Wirtin, Babina Candraia, an den Zweiertisch.

»Und, Giulia, wie hat dir heute dein Essen geschmeckt?«

»Soll ich wie immer ehrlich sein?«

»Was meinst du, warum ich ausgerechnet dich frage?«

»Nicht, dass ich hier früher schlecht gegessen hätte, doch das Menü heute war schlicht großartig. Wie kommt’s?«

Babina, die ein schickes, blaues Dirndl trug, lächelte. »Ich hatte gehofft, das zu hören, denn ich durfte in der Zwischensaison einem bekannten Koch über die Schultern schauen und habe einige Menüs mit ihm zusammengestellt. Das hier war nur eines davon.«

»Schön, das freut mich für dich und auch für mich.« Giulia wusste, dass Babina erst seit drei Jahren Eigentümerin des Berggasthauses war und in der ersten Saison Probleme gehabt hatte, was die warme Küche betraf.

Giulia zahlte, gab ein gutes Trinkgeld und schulterte den schweren Rucksack mit den Vorräten drin. Danach stieg sie durch die Weiden den Berg hoch. Der kornblumenblaue Himmel, mit den wenigen schneeweißen Schönwetterwolken, spiegelte sich in ihrer Sonnenbrille. Ihr schwarzes Haar trug sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, der ihr aus dem Cap ragend eine Handbreit über die Schulter fiel. Bis auf das Läuten der Schellen und das leise Brummen eines Doppeldeckers, der in der Ferne im Blau entschwand, war es still. Hin und wieder blieb sie stehen und blickte in die Weite der Berglandschaft. Dabei erspähte sie durch ihr Fernglas in den steinernen Planggen der Chüpfenflue ein Rudel Hirsche, das sich mühelos auch im steilsten Gelände fortbewegte.

An diesem Tag stellte sich das Gefühl, in den Himmel zu steigen, nicht wie sonst bereits beim Aufstieg ein, während die Berggipfel um sie mit jedem Höhenmeter schrumpften. Doch sie wusste, es würde kommen, denn hier oben galten andere Gesetzmäßigkeiten als im Tal.

 

Nach einer Dreiviertelstunde Aufstieg erreichte sie am Nachmittag ihre Hütte. Sie liebte den Geruch im Innern, wenn sie nach längerer Abwesenheit die uralte Tür aufstieß: Es roch nach Holz und der Asche aus dem gusseisernen Herd, den sie fürs Kochen oder Heizen einfeuern musste.

Als Erstes entriegelte sie, dem immer gleichen Ritual folgend, die roten Läden, stieß sie nach außen auf und ließ die drei Fenster sperrangelweit geöffnet, ehe sie die kleine Solaranlage, die auf dem Dach installiert war, überprüfte, den Minikühlschrank einschaltete und die Vorräte verstaute.

In Gedanken versunken richtete sie weiter alles her und kontrollierte den steinernen Brunnentrog neben der Hütte, der unter dem einzigen Baum hier oben, einer uralten Arve, stand. Das Quellwasser plätscherte munter aus dem rostfarbenen Hahn, der Überlauf versickerte nach zwanzig Metern im aufgeweichten Boden, so wie immer. Sie beugte sich vor und trank das sprudelnde Nass. Beim Aufrichten wischte sie sich mit dem Handrücken über den Mund, blickte auf die Hütte und dachte an ihren Ex-Freund Erkki Korhonen, der Mitte März nach Norwegen gereist war, weit in den Norden, in die hellen Nächte. Er hatte Arkon, ihren gemeinsamen Schäferhund, mitgenommen, was zu einer heftigen Diskussion geführt...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2022
Reihe/Serie Ein Fall für Giulia de Medici
Ein Fall für Giulia de Medici
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Berge • Graubünden • Kantonspolizei • Linthebene • Polizei
ISBN-10 3-311-70324-3 / 3311703243
ISBN-13 978-3-311-70324-2 / 9783311703242
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