Ich bin der Abgrund -  Donato Carrisi

Ich bin der Abgrund (eBook)

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2022 | 1. Auflage
360 Seiten
Atrium Verlag AG Zürich
978-3-03792-189-0 (ISBN)
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Der Müllmann lebt ein Leben der Gewohnheit und Routine, mit Ausnahme des gelegentlichen, aber denkwürdigen besonderen Abends. Was er nicht weiß, ist, dass alles in wenigen Stunden auf den Kopf gestellt werden wird - durch die Begegnung mit einem Mädchen mit einer lila Haarsträhne. Er, der sich entschieden hat, unsichtbar zu sein, ein kaum wahrnehmbarer Schatten am Rande der Gesellschaft, wird in die unsägliche Geschichte dieses Mädchens verwickelt werden. Und noch etwas weiß der Müllmann nicht: dass da draußen schon jemand nach ihm sucht. Die Fliegenjägerin hat sich eine Mission gesetzt: den Schatten im Herzen des Abgrunds zur Strecke zu bringen.

Donato Carrisi, geboren 1973 in einem Dorf in Apulien, lebt in Rom. Er studierte Jura und spezialisierte sich auf Kriminologie und Verhaltensforschung. Nach einer kurzen Tätigkeit als Anwalt arbeitet er heute als Autor und Regisseur. Neben seinem Bestseller Der Nebelmann mit Jean Reno wurde auch sein Thriller Diener der Dunkelheit mit Dustin Hoffman fürs Kino verfilmt.

Donato Carrisi, geboren 1973 in einem Dorf in Apulien, lebt in Rom. Er studierte Jura und spezialisierte sich auf Kriminologie und Verhaltensforschung. Nach einer kurzen Tätigkeit als Anwalt arbeitet er heute als Autor und Regisseur. Neben seinem Bestseller Der Nebelmann mit Jean Reno wurde auch sein Thriller Diener der Dunkelheit mit Dustin Hoffman fürs Kino verfilmt.

7. Juni


Bei der Leuchtreklame oben auf dem Dach fehlen ein paar Buchstaben, andere sind schief und krumm. Auch wenn er erst fünf Jahre alt ist und noch nicht zur Schule geht, kennt er schon das G und das H. Und er weiß, dass der Buchstabe O die Form eines Kreises hat, so wie gerade sein staunender Mund.

»Grand Hotel« liest Vera ihm im Näherkommen vor und zeigt auf das hohe verschlafene Gebäude vor ihnen. Die Fenster sehen aus wie blinde Augen. Lange bröckelnde Risse, wie Spuren getrockneter Tränen, ziehen sich über die Fassade. Die bunten Werbeschilder lassen das Haus wie einen gedemütigten Riesen erscheinen, statt heitere Betriebsamkeit auszustrahlen. Die Eingangstür erinnert an ein kaputtes Drehkarussell und ist mit Holzbalken verrammelt. Auf dem Vorplatz ragen Unkrautbüschel wie die Finger eines Skeletts, das seiner Gruft entfliehen will, zwischen den Steinplatten hervor.

Abgesehen vom Chor der Zikaden ist nur das Klappern von Veras Holzschuhen zu hören. Und das Schlurfen des kleinen Jungen. Er trägt ein ärmelloses T-Shirt, blaue Shorts und Plastiksandalen und kann kaum Schritt halten mit Vera, die in ihren Pantoletten mit den glänzenden Schnallen grazil wie ein Flamingo voranstrebt.

Die Sonne blendet. Doch der Junge kann seinen Blick nicht von der Frau lösen, während er hinter ihr herstolpert. Vera trägt ihre dunkle Katzenaugenbrille, und die drei dicken Armreifen rutschen ihr fast über den Ellbogen, da sie ihren Strohhut mit dem rosa Band festhalten muss. Der Junge mag den Hut, sie haben ihn zusammen in einem Souvenirgeschäft gestohlen. Er hat sie gebeten, ihn aufzusetzen, bevor sie am Morgen das Haus verlassen haben, und sie hat ihm den Gefallen getan. Unter ihren Shorts und der leichten Bluse trägt Vera einen Bikini mit grünen und gelben Blumen. Wie ein Filmstar. Ihr dichtes hellblondes Haar glänzt in der Morgensonne. Ihre Haut ist weich und glatt und mit winzigen Sommersprossen übersät, die man nur sieht, wenn man ganz nah vor ihr steht.

Der Junge schaut sie an und wird traurig. Manchmal denkt er, dass er so eine hübsche Mama nicht verdient hat. Dick und plump, wie er ist. Und sie so perfekt.

»Los, komm, wir sind fast da«, treibt Vera ihn an.

Der Junge ist außer Atem, am liebsten würde er sie bitten, langsamer zu gehen, doch er hat Angst, dass sie dann seine Hand loslässt. Sie haben so selten Körperkontakt, der Junge kann kaum glauben, dass sie sich noch nicht von seiner verschwitzten Hand befreit hat.

Doch heute ist ein besonderer Tag.

Über Veras Schulter hängt eine große Tasche, in die sie Badetücher und Proviant gestopft hat: zwei Brötchen und ein paar Flaschen Cola. Es riecht nach Mortadella, und die Flaschen stoßen mit leisem Klirren gegeneinander.

Heute ist der Tag ihres »großen Abenteuers«.

Seit Wochen sprechen sie davon. Es war ihre Idee, und allein das ist schon außergewöhnlich genug. Der Junge hatte gedacht, sie würde es vergessen, wie sonst auch. Aber nein, sie hat ihm etwas versprochen, und offensichtlich hält sie sich daran.

Dass der Schauplatz des großen Abenteuers anders aussieht, als er sich vorgestellt hat, macht ihm nichts aus. Wenigstens sind keine »Schmeißfliegen« da. Auf der Straße drehen sie sich immer nach Vera um, sie umzingeln sie mit ihren tausend Blicken und ihrem unflätigen Brummen. Sie scheint es als Einzige nicht zu bemerken. Manchmal schafft es einer der Brummer, sie zum Lachen zu bringen, und dann lässt Vera ihn in ihr Leben eindringen, ohne den Jungen zu fragen, ob er damit einverstanden ist. Doch heute ist es anders. Heute wird niemand seine Mutter zum Lachen bringen, sodass sie ihr Kind vergisst.

Heute gehört sie nur ihm allein.

Immerhin hat er inzwischen gelernt, dass die Schmeißfliegen kommen und gehen. Niemand bleibt. Entweder hat Vera irgendwann genug oder andersherum. Normalerweise kümmern sie sich nicht um ihn, was dem Jungen nur recht ist. Manchmal bemerkt ihn aber doch einer und versucht, den Vater zu spielen, der er nicht ist, und ihn zu erziehen. Vom letzten Erziehungsversuch hat er noch ein Brandmal unter der Achsel übrigbehalten, der Kuss einer glühenden Zigarettenspitze.

Der Junge weiß nicht, wer sein Vater ist. Er hat Vera nie danach gefragt. Wahrscheinlich eine von den Schmeißfliegen auf der Durchreise. Ein besonders dickes, hässliches Exemplar, das noch schnell seine ganze Widerwärtigkeit in Veras Bauch zurückgelassen hat, bevor es wieder verschwunden ist. Das Resultat ist er. Vielleicht hat Vera ihm deshalb verboten, »Mama« zu ihr zu sagen. Er nennt sie nur in Gedanken so. Auch das Wort »Familie« gibt es bei ihnen nicht. Aber sogar Vera weiß, dass man dem Kind, das man in die Welt gesetzt hat, bestimmte Dinge erklären muss. Und zwar so, dass es sie begreift. Also haben sie vor ein paar Wochen zusammen einen Film über eine Familie angeschaut, die einen Ausflug ans Meer gemacht hat. Da war ein Junge, so wie er. Sein Vater hat ihm eine Taucherbrille geschenkt und ihm gezeigt, wie man sie benutzt.

Das große Abenteuer besteht darin, dass Vera versprochen hat, ihm heute das Schwimmen beizubringen.

Er hat allerdings keine Badehose, worauf er sie vor dem Weggehen aufmerksam gemacht hat. Aber Vera hat nur gesagt: »Du brauchst keine Badehose, deine Unterhose reicht vollkommen.«

Inzwischen ist es ihm egal, es wird auch so gehen. Mit klopfendem Herzen bahnt er sich zusammen mit ihr den Weg durchs Gestrüpp, über Bauschutt und Glasscherben hinweg. Sie gehen einmal um das Grand Hotel herum, bis sie auf der Rückseite angelangt sind.

»Was habe ich dir gesagt?«, ruft Vera begeistert und zeigt auf das Becken vor ihnen, das wie eine Bohne geformt ist.

Ohne es zu merken, löst der Junge seine Hand aus der der Mutter und bleibt wie angewurzelt stehen. Obwohl er erst fünf Jahre alt ist, weiß er schon, wie schmerzhaft es sein kann, wenn man sich zu sehr auf seine Fantasie verlässt. Vor allem, wenn Vera etwas anderes im Kopf hat. Doch diesmal ist es schlimmer. Die Wirklichkeit schnürt ihm die Kehle zu.

Das Wasser ist schwarz und glänzend wie eine Filmrolle. Dicht über der Oberfläche schwirren Insekten und ein paar Libellen.

»Was ist denn jetzt schon wieder?«, fragt Vera genervt.

»Nichts«, erwidert der Junge, doch ihm ist klar, dass sie ihm seine Enttäuschung anmerkt.

»Sag schon, was ist?«

Er kann einfach keine Begeisterung heucheln.

»Wir können auch wieder nach Hause fahren«, sagt Vera drohend.

»Nein, nein!«, beeilt er sich, sie von dem Gedanken abzubringen. Er hat Angst, alles kaputtgemacht zu haben. »Lass uns bleiben«, sagt er fast flehentlich.

Für einen Moment schaut Vera ihm ins Gesicht, eine Augenbraue hebt sich über die dunklen Brillengläser. Dann blickt sie sich um.

»Suchen wir uns einen Platz, wo wir uns hinlegen können«, beschließt sie und holt ein Badetuch aus ihrer Tasche.

Sie entscheiden sich für ein freies Stück Betonboden zwischen ein paar durchgesessenen Liegestühlen. Vera zieht Shorts und Bluse aus und legt sich auf das Badetuch.

»Ziehst du dich nicht aus?«, fragt sie. »Komm schon, nur nicht so schüchtern!«

Der Junge beginnt mit der Hose, dann ist das T-Shirt an der Reihe. Seine Mutter lässt ihn nicht aus den Augen. Er schämt sich. Er wartet darauf, dass Vera einen ihrer üblichen Scherze macht, ihn »Dickerchen« oder »Moppel« nennt. Aber diesmal passiert es nicht.

»Warum gehst du nicht ins Wasser?«, schlägt sie vor.

Er dreht sich zu dem Becken um, schweigt.

Vera lacht, als sie seine Reaktion bemerkt. Aber es ist ein gutmütiges Lachen. Sie fängt an, in ihrer Tasche zu wühlen.

»Ich habe dir was mitgebracht«, sagt sie.

Eine Überraschung? Normalerweise sind die Überraschungen seiner Mutter mit Vorsicht zu genießen. Wie bei dem einen Mal, als sie gesagt hat, sie geht ihm ein Geburtstagsgeschenk kaufen, und er drei Tage lang allein zu Hause war.

Aber jetzt zieht sie ein Paar Schwimmflügel aus der Tasche.

»Für den Anfang nimmst du die«, erklärt sie und beginnt, sie aufzublasen. »Damit lernst du ganz schnell schwimmen.«

Ein Geschenk – er kann es nicht glauben. Vera hat höchstens mal etwas für ihn gestohlen, wenn sie zusammen in einem Geschäft oder im Supermarkt waren. Meistens Schuhe oder Kleidung. Alles, was er besitzt, seine wenigen Spielsachen inbegriffen, ist geklaut oder hat früher jemand anderem gehört, der es nicht mehr haben wollte.

Als seine Mutter fertig ist mit Aufblasen, hilft sie ihm, die Schwimmflügel überzustreifen. Zufrieden blickt er auf die dicken orangefarbenen Ringe um seine Oberarme. Jetzt muss er nur noch den Mut aufbringen, in dieses Wasser zu gehen.

»Jetzt bist du bereit«, ermutigt sie ihn.

Tapfer nähert sich der Junge dem Becken, doch auf halber Strecke bleibt er stehen. Er sieht den Schatten seiner Mutter nicht mehr neben sich. Also dreht er sich um: Vera sitzt noch immer auf ihrem Badetuch, sie zündet sich eine Zigarette an.

»Kommst du nicht?«, fragt er.

»Ich rauche die noch zu Ende, dann komme ich«, verspricht sie. »Geh schon mal rein.«

Lieber würde der Junge auf sie warten. Sie errät seinen Gedanken sofort.

»Was ist … hast du Angst?«

Der Junge mag diesen Tonfall nicht. Aber Vera spricht oft so mit ihm. Manchmal auch, wenn eine von den Schmeißfliegen dabei ist. Dann machen sie sich zusammen über ihn lustig.

»Ich habe keine Angst«, sagt er.

Er will die Stimmung nicht verderben und gibt sich mutiger, als er ist. Am Beckenrand angekommen, taucht er den großen Zeh ins Wasser. Er muss an Brombeergelee denken, so dunkel und glibberig ist es. Er weiß, dass Vera ihn beobachtet, er fühlt ihre Blicke zwischen den...

Erscheint lt. Verlag 16.2.2022
Übersetzer Susanne Volxem, Olaf Roth
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Comer See • Fliegenjägerin • Gespaltene Persönlichkeit • Häusliche Gewalt • Italien • Kindesmissbrauch • Monster von Foligno • Müllmann • Suizid • Wahre Begebenheit
ISBN-10 3-03792-189-7 / 3037921897
ISBN-13 978-3-03792-189-0 / 9783037921890
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