Das Fundbüro der verlorenen Träume (eBook)

Roman
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2022 | 1. Auflage
368 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-44011-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Fundbüro der verlorenen Träume -  Helen Frances Paris
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Wer nichts sucht, kann auch nichts finden Seit dem bitteren Verlust, der ihr Leben erschütterte, hat sich Dot von der Welt zurückgezogen. Sie vergräbt sich in ihrer Arbeit im Londoner Fundbüro und geht ganz in ihrem Job als Hüterin verlorener Dinge auf. Ihre größte Freude ist es, wenn sie jemandem einen vermissten Gegenstand wiedergeben kann. Denn hinter ihrer stachligen Fassade schlägt ein sehr großes Herz. Als ein bekümmerter älterer Herr in ihr Fundbüro kommt, der eine Tasche mit einem Andenken an seine verstorbene Frau darin verloren hat, setzt Dot alles daran, Mr. Applebys Tasche wiederzufinden. Dabei findet sie schließlich auch etwas, womit sie gar nicht gerechnet hätte: Sich selbst und ihr wirkliches Leben.

Helen Frances Paris ist künstlerische Leiterin des Londoner Theaters Curious. Ihre international ausgezeichneten und geförderten Theaterinszenierungen und Performances werden auf der ganzen Welt gezeigt, von Edinburgh über New York bis Sydney und Taiwan. Sie hatte fast zehn Jahre lang eine Professur für Theaterwissenschaft an der Stanford University in Kalifornien inne und lebt jetzt wieder in Großbritannien. Für ihre Lyrik erhielt sie den renommierten englischen Bridport Prize.

Helen Frances Paris ist künstlerische Leiterin des Londoner Theaters Curious. Ihre international ausgezeichneten und geförderten Theaterinszenierungen und Performances werden auf der ganzen Welt gezeigt, von Edinburgh über New York bis Sydney und Taiwan. Sie hatte fast zehn Jahre lang eine Professur für Theaterwissenschaft an der Stanford University in Kalifornien inne und lebt jetzt wieder in Großbritannien. Für ihre Lyrik erhielt sie den renommierten englischen Bridport Prize.

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VERLOREN Monatskarte

BESCHREIBUNG Oyster-Card (mit Guthaben) in Kazuo Ishiguro, Alles, was wir geben mussten

ORT 42er Bus

 

Jeden Morgen fahre ich mit einer Bahn und zwei Bussen und dann marschiere ich in flottem Tempo die Baker Street hinauf. Auf dem Weg zur Arbeit halte ich stets die Augen offen. Ich kann nicht anders, das ist der Beruf. Ich habe es im Gespür, wenn etwas im Begriff ist, verloren zu gehen, zu verschwinden. Da ist so eine bestimmte Stille. Ein Innehalten. Manchmal warte ich richtig darauf. Im Bus vier Sitze vor mir hält die Frau mit dem koriandergrünen Mantel zwar ihre Tasche umklammert, aber sie achtet nicht auf das Seidentuch, das ihr von den Schultern rutscht und über die Stange auf den Sitz dahinter fällt. Zum Glück bemerkt es das Mädchen mit den beeindruckend riesigen Kopfhörern, das neben ihr sitzt, und gibt ihr das Tuch zurück. Oder der junge Mann mit der nagelneuen Aktentasche, unter deren weichem Leder sich das Quadrat seiner Brotdose abzeichnet. In ein paar Wochen ist die Brotdose abgemeldet, wenn er erst mal begriffen hat, dass er, wenn er dazugehören will, mittags im Pub essen und die erste Runde übernehmen muss, statt sich mit einem selbstgeschmierten Brot auf eine Parkbank zu verkrümeln. Aber noch ist er neu, hoffnungsvoll. Nur dass er die Aktentasche zu fest hält. So gehen häufig Dinge verloren.

Wie üblich bin ich die Erste im Fundbüro. Ich schließe auf und mache mir eine Tasse Lapsang in der sogenannten Teeküche, die nicht viel mehr ist als eine Nische in der Verwaltung mit einem Wasserkessel und einer Schachtel Teebeutel für alle (ich bringe mir meinen eigenen losen Tee mit), aber zumindest ist Brian, unser Chef, großzügig mit den Keksen, wenn auch nicht sehr originell. Ich frage mich, ob die Ledertasche des netten Mr Appleby schon abgegeben wurde. Am Kundenschalter logge ich mich in den Computer ein. Wenn etwas in einem Londoner Bus liegen bleibt und vom Fahrer gefunden wird, bleibt es drei Tage im Busdepot, bevor es zu uns kommt. Ich überfliege die Online-Einträge. Mein Interesse ist eine Spur übertrieben, das gebe ich zu – wenn ich mir bei jedem verlorenen Gegenstand so viel Mühe machen würde, wo kämen wir da hin? Wir würden in einem Meer unregistrierter Regenschirme ertrinken. Es ist bloß … na ja … es wäre einfach so schön, ihn anrufen und ihm die gute Nachricht übermitteln zu können. Ich suche unter »Appleby«, dann unter »Reisetasche« und sicherheitshalber unter »Tasche« (»Sport-«, »Wochenend-«, »Schultertasche«), »Gepäck«, »Leder«. Das Ergebnis ist ein Ledergürtel mit einer Schnalle in Form von Texas und ein perlenbesticktes Damenhandtäschchen. Nichts für Mr Appleby. Enttäuscht logge ich mich wieder aus. Vielleicht hat ein Fahrgast die Tasche gefunden; dann kommt sie möglicherweise im Lauf der Woche herein. Wenn etwas abgegeben wird, dann meistens recht schnell. Einstecken und austeilen ist der Modus Operandi der Menschheit, im Guten wie im Bösen. Wohlgemerkt, ich habe kein schlechtes Wort über Leute zu sagen, die Fundsachen zurückbringen. Letztes Jahr wurden über dreizehntausend Schlüssel abgegeben, von denen bloß ein Bruchteil abgeholt wurde – eine Diskrepanz, die für zwei Tendenzen steht: 1) den herzerwärmenden Wunsch zu helfen und 2) völlige Hoffnungslosigkeit.

Es ist kaum halb neun, das Fundbüro öffnet erst in einer halben Stunde, und es sind noch keine Kollegen da. Ich fahre mit dem Lastenaufzug hinunter ins Magazin und verbringe zwanzig sehr entspannende Minuten damit, die neu registrierten Artikel von gestern in die Regale einzusortieren. Einsortieren ist wie Meditation für mich. Die lavendelblaue Damenstrickjacke kommt in Regal fünf – »Damenkleidung: Pullover und Strickwaren« –, wo sie einen fröhlichen Kontrast zu dem verblichenen gelben Rippenstrickpullover abgibt. Die Damenhandtasche mit der kaputten Schnalle kommt in Regal sieben – »Diverse Taschen, Aktenkoffer, Trolleys« –, wo sie neben der extravaganten Kork-Schultertasche mit dem Stempel »Made in Portugal« auf dem Riemen zu einer, wie ich finde, ziemlich gelungenen Shabby-Chic/Cosmopolitan/Bohémien-Fusion beiträgt.

Es dauert einen Moment, bis ich im Regal »Jacken und Outdoor-Kleidung« den richtigen Ort für den Parka mit den Polo-Mints finde. Der Platz neben der kiloschweren kugelsicheren Armeejacke in Tarnfarben wäre völlig falsch. Nein, nein, nein. Der organisatorische Umgang mit Verlust ist eine Kunst, das sollte man wissen, es ist eine Welt, die ihre eigenen Heldinnen und Helden hat. Meine héroïne veritable ist Phyllis Pearsall, die, nachdem sie sich mit einem suboptimalen Stadtplan in London verirrt hatte, den berühmten London A–Z erfand. Welche Pionierin! Eine wahre Pfadfinderin. Sie hat einen unübertroffenen Beitrag im Kampf gegen den Verlust der Orientierung geleistet und hilft uns bis heute, den Weg durch die Metropole zu finden. Natürlich fingen die Leute sofort an, ihre A–Zs zu verlieren. Früher hatten wir zwei ganze Regale voll: Hardcover, Softbacks und – weniger attraktiv, aber unleugbar praktisch – mit Spiralbindung. Heute kommen kaum noch welche rein, weil die Menschen lieber gesenkten Hauptes einem beweglichen Punkt auf ihrem Smartphone durch die Stadt folgen, und inzwischen sind es die Smartphones, die die Regalfächer bei den Wertsachen füllen. Wie gesagt, Verlust gibt es immer. Aber wenn ich daran denke, dass Phyllis Pearsall bei ihrer Mission, uns vor Verirrungen zu bewahren, dreitausend Meilen zu Fuß ging, um persönlich nachzusehen, ob die an den Hauptstraßen eingezeichneten Hausnummern an der richtigen Stelle waren, bin ich ihr für ihre Akribie und Sorgfalt ewig dankbar. Sanft schiebe ich den Parka zwischen eine kirschrote Kapuzenjacke und einen azurblau glänzenden Regenmantel mit Gürtel, trete einen Schritt zurück und bewundere das Triptychon. Ich hoffe, dass ich auf meine eigene Art für die verlorenen Dinge in meiner Obhut etwas bewirke.

»Na, wie geht’s uns heute?« Nach dem übergriffigen Gebrauch der ersten Person Plural zu schließen, kann das nur Neil Burrows sein.

Ich drehe mich um, und richtig, da lauert er hinter mir.

»Sie sind ja früh dran«, sage ich und sehe mich instinktiv nach einem Fluchtweg um. Der Gang zwischen den Regalen sechs und sieben sieht gut aus, bis auf einen karierten Einkaufstrolley, der ungeordnet im Weg steht.

»Ich habe ein wichtiges Meeting mit Brian«, erklärt er. »Bei den Verkehrsbetrieben gibt es einige interessante Entwicklungen.«

Wenn ich Neil Burrows bei seinem Rundgang sehe, mit geschwellter Brust, dem rasselnden Bund mit den sechs Schlüsseln am Gürtel und einer Haltung, als unterstünde ihm das ganze Fundbüro statt nur die bescheidene Wertsachenverwahrung, muss ich unwillkürlich an Miss Hydes Derbyshire-Redcap-Hahn mit Namen Chaunticleer denken.

Ein paar misstönende Jahre lang wurde ich zu Miss Hyde in die Klavierstunde geschickt. Der Hahn Chaunticleer stakste verdrießlich im Garten ihrer Doppelhaushälfte aus den fünfziger Jahren herum und scharrte halbherzig in den Ritzen zwischen den rosa Terrassenplatten. Altersbedingt war sein Nacken kahl und entblößte breite Schneisen gelber, narbiger Haut. Wie oft blickte ich durch Miss Hydes Terrassentür, wenn sie wegen einer falschen Note oder Antwort auf mir herumhackte (»Presto? Ich wünschte, du wärst ein bisschen mehr presto beim Verstehen, junge Dame!«), beobachtete Chaunticleer, der sich kratzte, und tröstete mich mit dem Gedanken, dass sein Los noch schlimmer war als meins.

Eines Tages, gewappnet für eine weitere quälende Stunde Clair de lune, fand ich Miss Hyde am Fenster stehen und selbst wie hypnotisiert in den Garten starren.

»Dot! Komm und sieh dir meine Mädels an!« Eine Galgenfrist witternd, bevor es ernst wurde mit Debussy, eilte ich zu ihr. Zu meiner Überraschung drängte sich ein halbes Dutzend neue Hühner im Hof wie fluffige braune, weiße und orangefarbene Bälle.

»Ich habe sie nach den Suffragetten benannt«, erläuterte Miss Hyde mit vornehm hochgezogenen Augenbrauen. »Dann haben sie ein Ziel, das sie anstreben können, verstehst du?« Eifrig folgte ich dem feuchten Blick der Klavierlehrerin auf Lady Constance Lytton, General Flora Drummond und die vier Pankhursts Emmeline, Christabel, Sylvia und Adela. Miss Hydes Mädels waren ein lustiger Haufen und brachten in ihr einen Hauch Ausgelassenheit zum Vorschein, von der ich bis dahin nichts geahnt hatte. Doch Miss Hydes Verwandlung war nichts im Vergleich zu der von Chaunticleer. Der alte Hahn war kaum wiederzuerkennen. Der mürrische Schlurfgang gehörte der Vergangenheit an, stattdessen scharwenzelte er krakeelend im Walzerschritt um seine Mädels, mit leuchtenden Augen, erwartungsvoll und hoch aufgerichtet.

Ja, Neil Burrows ist das Ebenbild von Chaunticleer.

»Brian und ich sind so eng«, er wickelt den Mittelfinger um den Ringfinger. Dann macht er einen Schritt auf mich zu und sagt mit einem Schwall Mundgeruch: »Wenn Sie wollen, lege ich ein gutes Wort für Sie ein.«

»Nein danke, nicht nötig.« Ja, an dem karierten Trolley vorbei ist die schnellste Route, dann zum Ende der Regale und mit dem Aufzug hoch zum Kundenbereich.

»Denken Sie darüber nach. Ich sehe Sie in einer Position mit mehr Verantwortung. Vielleicht gehen wir mal was trinken, um Strategien zu besprechen?« Er rasselt mit den Wertsachen-Schlüsseln und macht noch einen Schritt auf mich zu.

In exakt demselben Moment schwinge ich mich im Wiegeschritt wie bei einem komplizierten Squaredance zur Seite und an ihm vorbei.

»Ich muss hoch«,...

Erscheint lt. Verlag 16.3.2022
Übersetzer Sophie Zeitz
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Baker Street • Debütroman • Demenz • Depression • Einsamkeit • Familie • Familiengeschichte • Feelgood-Roman • Frauenroman • Frauenroman London • Frauenunterhaltung • Freundschaft • Fundbüro • Fundsachen • Gegenwartsroman • Geschenk Freundin • Kindheit • Leben • Lebensfreude • Liebe • London • Lost and Found • Lost Property Office • Miteinander • Mutter • Romane für Frauen • Romane zum Lachen und Weinen • Roman Neuerscheinung • Schwestern • Tod • Transport for London • Trauer • U-Bahn • Unterhaltungsliteratur • Urlaubslektüre • Urlaubsromane Frauen • Vater • Verlust
ISBN-10 3-423-44011-2 / 3423440112
ISBN-13 978-3-423-44011-0 / 9783423440110
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