Wie man seine Tochter liebt (eBook)
320 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-8047-9 (ISBN)
Hila Blum, 1969 in Jerusalem geboren, lebte auf Hawaii, in Paris und New York. Sie war als Journalistin tätig und arbeitet seit vielen Jahren als Lektorin. Nach dem internationalen Achtungserfolg ihres ersten Romans, »Der Besuch«, gelang ihr mit »Wie man seine Tochter liebt« ein literarischer Bestseller. Hila Blum lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Jerusalem.
Hila Blum, 1969 in Jerusalem geboren, lebte auf Hawaii, in Paris und New York. Sie war als Journalistin tätig und arbeitet seit vielen Jahren als Lektorin. Nach dem internationalen Achtungserfolg ihres ersten Romans, »Der Besuch«, gelang ihr mit »Wie man seine Tochter liebt« ein literarischer Bestseller. Hila Blum lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Jerusalem.
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In Leas erstem Lebensjahr kam meine Mutter uns häufig besuchen, niemals mit leeren Händen, immer mit Plastikdosen voll Essen, das sie für uns gekocht, oder mit Geschenken, die sie überteuert für uns gekauft hatte (sie entfernte die Preisschilder nicht). Sie setzte sich mit Lea aufs Sofa und schnalzte ihr zu, wiegte sie oder setzte sich zu ihr auf den Teppich und wedelte ihr mit den Händen vor den Augen herum, und wenn sie genug gespielt hatten, fütterte sie sie, führte ihr den Teelöffel zum Mund und wischte ihr gleich danach das Kinn ab, ein Löffelchen, ein Wisch und so weiter. Ich lauerte auf den Moment, in dem meine Mutter aus sich herauskommen, ihr das Herz übergehen würde. Wie konnte man Lea widerstehen? Sie würde ihre Oma zum Schmelzen bringen.
Meine Mutter half mir in allem mit dem Kleinkind, und Meir desgleichen. Jeden Morgen zog er Lea an, fuhr sie manchmal sogar noch zur Tagesmutter, und jeden Mittag holte ich sie dort ab. Bis er von der Universität heimkehrte, machten wir es uns gemütlich, nur wir zwei oder mit meiner Mutter. Und dann kam Meir nach Hause und stürzte sich auf die Kleine. Bombardierte sie mit Umarmungen und Küssen, mit Gejubel und Fragen, mit Betteln um ein Küsschen und noch ein Küsschen und mit Fußstampfen, wenn er leer ausging, und die so geherzte Lea lachte und lachte. Doch kaum war er da, höchstens ein oder zwei Minuten später, machte meine Mutter sich auf den Weg, die Tür fiel hinter ihr ins Schloss, und nur ich war noch da, um ihnen zuzusehen, Vater und Tochter, die auf der Polstergarnitur johlten. Meine Mutter mochte das nicht mit ansehen, konnte dem nichts abgewinnen. Ich wusste nicht so mit Lea zu jubeln, ihr ins Mäulchen zu brummen und zu brüllen, solche Laute zu machen, war aber fasziniert. Bisweilen übertrieb Meir es jedoch, und Leas fröhliches Kreischen drohte in einen Tränenausbruch umzuschlagen.
Ich fotografierte Lea immerzu. Die Entdeckung Amerikas, die Landung auf dem Mond, unsere erstgeborenen Sprösslinge. Klar hält die Welt den Atem an. Aber es braucht Jahre, bis wir beim Anschauen dieser Babyalben erkennen können, wie die Liebe zu unseren Kindern die Realität vertuscht und sie für unsere Augen retuschiert. In ihren ersten Lebenstagen war Lea erschreckend blass, fast durchscheinend, wie Milch in einer Plastiktüte. Sie war sonderbar. Und doch stockt mir kurz das Herz angesichts ihres kühnen Ausdrucks schon auf jenen frühen Bildern, ihres Selbstbewusstseins von Beginn an. Und jedenfalls erkannte ich, wenn auch erst später, dass ich anderer Leute Kinder zu lieben lernte, die Liebe zu Lea jedoch das Gegenteil eines Lernprozesses war, es war ein Alles-Vergessen.
Außerhalb des Bildes presse ich für Lea Orangensaft, und auf dem Foto trinkt sie ihn schon mit zögernden Schlucken aus ihrem rosa Plastikbecher. Die Säure frappiert sie, und das ist ein bisschen lustig. Die Vitamine strömen in sie hinein, werden absorbiert und wirken in ihrem Innern, vor meinen Augen gesundet sie, ohne überhaupt krank gewesen zu sein. Und auch nachts, wenn sie schläft, spüre ich ihr Wachstum, die Ofenwärme und das Größerwerden (im Bett liegend, sieht sie unwahrscheinlich lang aus). Selten mal, wenn sie tatsächlich krank ist – Erkältung oder ein Virus oder Infekt –, entflammt ein anderes Temperament unter ihrer Haut. Sie ist nie geschwächt oder benommen, im Gegenteil, erhöhte Temperatur macht sie stürmischer, unglaublich redselig. Ich halte das für eine Manie. Ihre Augen blitzen, ihr Gesicht läuft hochrot an, und ihre Stimme wird tief und heiser. Sie jagt mir Angst ein. Zu solchen Zeiten erkenne ich, dass ich nichts für sie tun kann, dass sie in die Arme ihres Schicksals entrückt ist. Aber nach einem, höchstens zwei Tagen beruhigt sich alles wieder. Meine Mutter ruft ständig an, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, ist sehr besorgt, ihre vierzig Jahre als Krankenschwester haben sie vieles über die Launen des Schicksals gelehrt, hohes Fieber bei Kleinkindern erschreckt sie, jede Form von Übertreibung, wie ich schon sagte. Lea ist völlig okay, versichere ich ihr. Das Fieber ist gesunken, und sie schläft.
Am nächsten Morgen kräht Lea wieder fröhlich auf ihrem Kinderstuhl. Erstmals haben wir eine Digitalkamera gekauft, und jetzt kann ich sie nach Herzenslust fotografieren, noch und noch, so viel ich will. Unter bestimmten Lichtverhältnissen wirken die Augen meiner Tochter auf Fotos leer vor lauter Himmelblau. Ich habe braune Augen, wie auch ihr Vater. Die blaue Augenfarbe unserer Tochter ist ein rezessives Merkmal in unseren Körpern, eine Kreuzung von Erbfaktoren, die zwei Generationen zurückgreift. Meine Großmutter mütterlicherseits hatte blaue Augen ebenso wie Meirs Großvater väterlicherseits. In solchem Licht wirkt auch Leas Haar beim Fotografieren sehr hell, fast blond. Die Bilder dieser Dämonin lösche ich sofort, und unter den verbliebenen suche ich das schönste aus, um es später meiner Mutter zu zeigen. Eine Stunde danach, unterwegs zum Kindergarten, will die gesunde Lea wieder alles drücken. Den Lichtschalter im Treppenhaus. Den Fahrstuhlknopf. Die Fernbedienung des Autoschlüssels. Und auch am Nachmittag, auf dem Rückweg – die Tasten des Bankautomaten drücken, die Scheine rausziehen, die Münze in den Einkaufswagen stecken, den Kreditkartenbeleg unterschreiben. Mit dreieinhalb Jahren kann sie ihren Namen kritzeln, und auch eine Unterschrift hat sie, kringelig, ein Schmuckband. Zu Hause schreibt sie wieder und wieder auf Papierbögen: Lea, Lea, Lea, Lea. Sie bittet nicht darum, weitere Worte schreiben zu lernen.
Ich behaupte, dass das Problem der Liebe nicht wieder auftrat. In sämtlichen Monaten der Schwangerschaft hatte ich mich mit dem Rätsel der Liebe herumgeschlagen, aber als meine Tochter zur Welt kam, war mir plötzlich alles klar. In den langen Nachmittagsstunden, in denen wir beide allein zu Hause waren, rief ich meine Mutter an und berichtete ihr, wie wunderbar Lea war. Ich erzählte beharrlich, ließ sie nicht das Thema wechseln, weigerte mich, ihren Geschichten zu lauschen, bevor sie sich meine angehört hatte, und fand Methoden, dies wie absichtslos zu erreichen. Der Verkäuferin im Eckladen sagte ich (überlaut – meine Stimme hatte ich damals nicht immer im Griff): Was habe ich bloß getan im Leben, bevor meine Tochter auf die Welt kam? Ich wollte sagen, dass ich mich an nichts erinnerte, alles war ausgelöscht, ich war neugeboren mit dem Mädchen. Meiner Mutter konnte ich mit so was nicht kommen, ich hätte uns beide in Verlegenheit gebracht, sie hätte all das herausgehört, was sie zu hören fürchtete, aber es war Verliebtheit, ich war verliebt, wollte meine Liebe zu Lea herausschreien, ohne Rücksicht auf irgendwen. Ich war glücklich, genoss die Erfindung meiner eigenen Mutterschaft. Die unzähligen Umarmungen, die zarten Küsschen, das liebevolle Plappern und Gurren. Ich stillte sie, wann immer sie wollte, Tag und Nacht. Sie schlief und wachte, wann es ihr passte. Kein Ratgeberbuch wollte ich lesen. Ich roch an ihren Söckchen und Höschen, bevor ich sie in die Waschmaschine steckte, beschnupperte ihr fettiges Haar, ihren Mundhauch am Morgen, all ihre süßen Stinkereien. Sie krabbelte barfuß im Sandkasten, grapschte den Nachbarshunden ins Fell. Ich ignorierte alle Grenzen und Regeln und demonstrierte das stur gegenüber meiner Mutter, diese Liebe zu meiner Tochter, die ich ganz allein entdeckt hatte, so gänzlich anders als die Liebe meiner Mutter zu mir.
Nur selten war ich wütend auf Lea. Ich erkläre, dass es keine Wut gab, nicht in den ersten Jahren und auch nicht später. Manchmal war sie mir über, dann verzog ich die Miene und hob die Stimme, aber innerlich war ich nicht wütend. Ich hatte meinen Spaß. Was ich sagen will, ist, dass ich es auch genoss, sie ein bisschen zu erziehen, ihr zu predigen, die Mutter herauszukehren. Aber auf eines achtete ich: Wenn die wütende Lea mit ihren Ärmchen fuchtelte und mir damit aufs Bein oder auf die Brust trommelte oder sie mir zornig auf die Lenden hieb, packte ich sie fest an den Handgelenken und sagte: Nein! Niemals Mama hauen! Auch nicht im Spaß! Und dann brach sie in Tränen aus. Aber nach einigen Versuchen wagte sie nicht mehr, auf mich einzuschlagen. Trotzdem war ich manchmal beleidigt ihretwegen. Wenn sie völlig ruhig, nicht verärgert, ganz bewusst, »geh weg, lass mich in Ruhe«, sagte, konnte ich ihr nicht ins Gesicht sehen, sondern kehrte ihr lange den Rücken zu, und dann wurde sie ganz unglücklich.
...Erscheint lt. Verlag | 27.1.2022 |
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Übersetzer | Ruth Achlama |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | איך לאהוב את בתך |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Familienroman • Jerusalem • Mutter-Tochter Beziehung • Mutter-Tochter-Roman • Niederlande |
ISBN-10 | 3-8270-8047-9 / 3827080479 |
ISBN-13 | 978-3-8270-8047-9 / 9783827080479 |
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