Die Rache ist mein (eBook)

Eine Anwältin wird beauftragt, eine Mutter zu verteidigen, die ihre drei Kinder ermordet hat.

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
236 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76969-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Rache ist mein - Marie Ndiaye
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Was ist Wahrheit, was Lüge? Und ist es möglich, ohne Gewissheit zu leben? Marie NDiayes aufwühlender Roman über eine Frau in einer Extremsituation ist ein raffiniertes, abgründiges Spiel mit uns und unseren Erwartungen und Ängsten.

Maître Susane, Anwältin in Bordeaux, erhält in ihrer Kanzlei Besuch von einem gewissen Gilles Principaux. Sie glaubt in ihm den Jungen aus ihrer Kindheit wiederzuerkennen, bei dem sie einmal zu Besuch war. Etwas war damals geschehen, aber sie erinnert sich kaum. Andeutungen ihres Vaters, der Junge könne ihr zu nahegekommen sein, weist sie empört zurück. Principaux bittet sie, die Verteidigung seiner Frau Marlyne zu übernehmen, die ein entsetzliches Verbrechen begangen hat: sie hat ihre drei Kinder getötet. Maître Susane übernimmt den Fall - und stürzt ins Bodenlose. Was ist los mit dieser Mutter? Wer ist dieser Gilles Principaux wirklich? Und ist sie selbst überhaupt diejenige, die sie zu sein glaubt?



Marie NDiaye, 1967 in Pithiviers bei Orl&eacute;ans geboren, ver&ouml;ffentlichte mit 17 Jahren ihren ersten Roman; weitere Romane und Theaterst&uuml;cke folgten. F&uuml;r ihre B&uuml;cher erhielt sie zahlreiche Preise, u. a. den Prix Goncourt f&uuml;r <em>Drei starke Frauen</em>. NDiaye lebt in Paris.

Dem Mann, der am 5.Januar 2019 schüchtern, beinahe ängstlich ihre Kanzlei betrat, war Maître Susane, wie sie sofort wusste, schon einmal begegnet, vor langer Zeit und an einem Ort, an den sie sich so genau, so jäh wieder erinnerte, dass es sich anfühlte wie ein heftiger Schlag gegen ihre Stirn.

Ihr Kopf kippte leicht nach hinten, so dass sie nicht gleich auf den verlegen gemurmelten Gruß ihres Besuchers antworten konnte und eine Befangenheit zwischen ihnen bestehen blieb, auch nachdem Maître Susane sich wieder gefasst und seinen Gruß freundlich erwidert hatte, lächelnd, herzlich, beruhigend, denn es war für sie Ehrensache, jeden so zu empfangen, der sie in ihrer Kanzlei aufsuchte.

Zweimal rieb sie sich unwillkürlich die Stirn, wo sie eine dumpfe Verletzung zu spüren meinte, dann dachte sie nicht mehr daran.

Am Abend dieses Tages würde sie in ihrem Bett sitzen und erneut eine langsame, schwere Hand an ihre Stirn führen, in der Bewegung jedoch innehalten, weil sie in Wahrheit keinerlei Schmerz verspüren würde, bis ihr plötzlich wieder einfiele, wie weh es ihr getan hatte, als sie diesen diskreten, schmalen, vom Gesicht wie von der Statur her unauffälligen Mann in ihr Büro hatte treten sehen.

Groß war ihr Erstaunen: Warum hatte sie Schmerz empfunden und nicht vielmehr Freude?

Warum hatte sie, überzeugt, nach zweiunddreißig Jahren jemanden wiederzusehen, der sie hingerissen hatte, das Gefühl gehabt, man wolle sie töten?

Me Susane hörte Gilles Principaux lange an und dachte dabei mehrmals: Ich kenne dich und ich kenne deine Geschichte, wobei sich ihre Gewissheit, früher einmal mit diesem Mann zu tun gehabt zu haben, mit dem vermengte, was sie, weil sie in der Zeitung davon gelesen hatte, über das große Unglück wusste, das ihn traf.

Kein einziges Mal während dieser Unterredung gab er zu erkennen, ob er sich erinnerte, ihr schon einmal begegnet zu sein, ja ob diese ferne Erinnerung vielleicht zu seiner Entscheidung beigetragen hatte, sie aufzusuchen.

Denn welcher wichtigen Fälle konnte Me Susane sich schon rühmen?

Was mochte, so fragte sie sich, einen verzweifelten, jedoch klar denkenden, gutsituierten Mann dazu bewogen haben, Me Susane für die Verteidigung seiner Frau zu erwählen, wenn nicht, möglicherweise, eine nebulöse, abergläubische Treue zu den strahlenden Augenblicken, die das Leben ihnen geschenkt hatte?

Doch Principaux sagte ihr nichts über die vielleicht unklaren, vielleicht törichten Gründe für seine Wahl.

Er betrachtete Me Susane mit einem zunächst verstohlenen, jedoch immer sicherer werdenden Blick, während er auf ihre Fragen antwortete, und trotz ihrer Bemühungen konnte Me Susane in diesem auf ihr Gesicht gerichteten Blick keine Spur von irgendetwas erkennen, das besagt hätte: Ich kenne dich.

Da sie ihn nicht fragen konnte: Warum sind Sie zu mir gekommen, wo ich doch nicht zu den renommierten Anwältinnen von Bordeaux gehöre, und angesichts der Schwere des Falls?, belehrte sie ihn darüber, dass seine Frau, die unter Anklage stand, offiziell darin einwilligen musste, dass Me Susane sie vertrat.

Ob sie einverstanden sei?

»Selbstverständlich«, antwortete er ihr mit einer solchen Überzeugung, einem plötzlich so harschen, unangenehmen Zug in seinem angespannten Gesicht, dass Me Susane eine Sekunde lang daran zweifelte, tatsächlich denjenigen vor sich zu haben, den sie nie vergessen hatte.

»Maître Lasserre war bisher der Anwalt meiner Frau, und wir mögen ihn nicht, weder Marlyne noch ich«, hatte Principaux ihr eingangs erklärt. »Daher liegt mir daran zu wechseln, zu Marlynes Wohl.«

Als Principaux aufstand, um zu gehen, fragte sie ihn, ob er möglicherweise früher einmal im Viertel Caudéran gewohnt habe.

»Ja«, sagte er, »als ich jung war, warum?«

Da lächelte er sie an und sein ganzes Gesicht heiterte sich auf, fröhlich, kindlich, plötzlich von einem Charme erfüllt, den Me Susane umso bereitwilliger vermerkte, als dieses gleiche Gesicht ihr eine Minute zuvor und zu ihrer großen Enttäuschung beinahe widerwärtig erschienen war.

Aber warum sollte sie sich enttäuscht fühlen, ob nun Principaux derjenige war, an den sie sich erinnerte, oder ob er mit alldem nichts zu tun hatte?

Leicht überrumpelt antwortete sie ihm, sie habe in ihrer Kindheit eine Familie in Caudéran gekannt.

Sie brauchte nicht erst zu hören, wie er ausrief: Da gibt es viele!, um sich der Absurdität ihrer Antwort bewusst zu werden.

In der Tat, viele Menschen lebten in Caudéran.

Wer war Gilles Principaux für sie?

Wie konnte sie das wissen, wie sollte sie sich auf diese berauschende, verletzende, beunruhigende Intuition verlassen, dass er der Jugendliche gewesen war, in den sie sich damals, in einem Haus in Caudéran, das sie heute nicht mehr wiedererkennen würde, unsterblich verliebt hatte?

Me Susane nuschelte irgendetwas.

»Wie hieß diese Familie?«, fragte Principaux und sah sie mit erwartungsvoller Erregung an, als freue er sich bereits über die Verbindung, die er sicher zwischen diesen Leuten und sich selbst herstellen könnte, oder, dachte sie, als freue er sich, nötigenfalls eine Verbindung zwischen dieser Familie und sich selbst zu erfinden und glaubhaft zu machen, um Me Susane die Freude einer Gemeinsamkeit, eines Zusammenhangs zwischen allen Dingen zu verschaffen.

»Ich weiß nicht, ich meine, ich weiß nicht mehr«, murmelte Me Susane.

Schließlich schlug sie wieder ihren Anwältinnenton an und sagte ihm, sie erwarte den Brief von Madame Principaux, der sie mit ihrer Verteidigung beauftragen würde.

Sie öffnete die Tür und trat zurück, um ihn hinauszulassen.

Da lehnte er sich an den Türrahmen und flüsterte mit ersterbender, tiefer Stimme: »Sie allein können uns retten.«

Später würde Me Susane an ihrem Gedächtnis zweifeln und nicht mehr mit Gewissheit sagen können, ob er »uns retten« oder »mich retten« gesagt hatte.

Dann fügte er noch etwas Banales hinzu wie: »Sie werden uns aus diesem Albtraum herausholen, nicht wahr?«

Das versetzte Me Susane in Erstaunen.

Die Hoffnung, vor den Folgen eines schrecklichen Justizirrtums, eines entsetzlichen Fehlers errettet zu werden, konnte sie natürlich gut verstehen.

Im vorliegenden Fall jedoch beruhte der Albtraum auf keiner Verwechslung, keinem Missverständnis, er war das Leben dieses Mannes selbst, und die Taten, die dieses Leben zerstörten, hatten tatsächlich stattgefunden und konnten nicht ungeschehen gemacht werden, denn die Toten würden nicht aus seinem Traum heraustreten, um ein zweites Mal geboren zu werden.

Wollte Principaux, so fragte sie sich, tatsächlich geweckt werden?

Dachte er wirklich, in seinem Leben danach würden eines klaren, durchscheinenden Morgens seine Kinder wieder auf ihn zugerannt kommen, unversehrt, fröhlich und arglos?

Von welchem Traum genau wollte er dank Me Susane erlöst werden?

Als sie sich an diesem Abend auf den Heimweg machte, hatte der überfrierende Regen gerade die Straßenbahn lahmgelegt.

Noch tags zuvor hätte ihr erster Gedanke, wenn sie ihre Schuhe über das Glatteis hätte rutschen fühlen, Sharon gegolten.

Ich hoffe, sie konnte noch rechtzeitig die Straßenbahn nehmen, hätte Me Susane sich gesagt, die es nicht gerne sah, wenn ihre Putzfrau mit dem Fahrrad durch die eisige Nacht nach Hause fuhr.

Aber an diesem Abend dachte sie nicht an Sharon, so sehr war sie damit beschäftigt, sich an jedes Detail des Besuchs von Principaux zu erinnern, bereits beunruhigt festzustellen, dass manche seiner Worte sich ihrem Gedächtnis nicht ganz genau eingeprägt hatten (hatte er »meine Frau« oder »meine Gattin« gesagt, hatte er ihren Vornamen genannt oder meinte Me Susane sich nur an ihn zu erinnern, weil sie diesen Namen, Marlyne, in der Zeitung gelesen hatte?), und ungeduldig, ihre Wohnung zu erreichen, um alles zu notieren, was sie im Kopf behalten hatte.

Wer war Gilles Principaux für sie?

Daher reagierte sie kurz mit Schrecken, als sie ihre Wohnungstür öffnete und den Flur, das Wohnzimmer, die Küche überall hell erleuchtet vorfand,...

Erscheint lt. Verlag 10.10.2021
Sprache deutsch
Original-Titel La vengeance m'appartient
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte aktuelles Buch • Anwältin • Black History Month • Bordeaux • bücher neuerscheinungen • Erinnerung • Frankreich • Frauenleben • Frauenporträt • Frauenroman • Gericht • Herkunft • Kindsmord • La vengeance m'appartient deutsch • Medea • menschliche Abgründe • Missbrauch • Nelly-Sachs-Preis 2015 • Neuerscheinungen • neues Buch • Österreichischer Staatspreis für Europäische Literatur 2023 • Psychoroman • Roman Noir • Spannung • Spycher: Literaturpreis Leuk 2011 • ST 5282 • ST5282 • suhrkamp taschenbuch 5282 • Verbrechen
ISBN-10 3-518-76969-3 / 3518769693
ISBN-13 978-3-518-76969-0 / 9783518769690
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