Wo die wilden Väter wohnen (eBook)

Eine Stadtfamilie wagt sich aufs Land

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
176 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46234-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wo die wilden Väter wohnen -  Björn Kern
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'Mach den Fisch wieder lebendig!' Den Traum vom Landleben - Björn Kern und seine kleine Familie wollen ihn wahr machen, und so ziehen sie von Berlin ins Oderbruch. Statt Etagenwohnung: ein verfallener Hof. Statt überfüllter Spielplätze mit quengelnden Helikopter-Eltern: wilde Natur und wortkarge Landväter, von deren stoischer Lässigkeit sich so einiges lernen lässt. Doch das Landleben hat auch seine Tücken: Denn während seine Tochter sich rasend schnell akklimatisiert, realisiert Björn Kern, dass es ihm an den zentralen Fertigkeiten eines Landvaters mangelt. Er scheitert am Aufbau eines Wurf-Zeltes ebenso wie am fachgerechten Ausnehmen eines versehentlich geangelten Fischs. Doch zum Glück gibt es den schnoddrigen märkischen Nachbarn, der ihm in heiklen Situationen immer wieder mit liebevollem Spott auf die Sprünge hilft ... In seiner neuen Landlustfibel, einem starken Buch voller Pointen und von großer Herzenswärme, macht sich Björn Kern vor allem über einen lustig: sich selbst. 'Wo die wilden Väter wohnen' ist der perfekte Lesespaß für alle, die aufs Land ziehen wollen. (Und für alle, die das Landleben lieber aus der Ferne genießen, erst recht.) • Witzig, selbstironisch, unterhaltsam - großer Lesespaß, nicht nur für Eltern • Von der Stadt aufs Land - ein ungeahnter Kulturschock • Vom Autor des Buches 'Das Beste, was wir tun können, ist nichts'

Björn Kern, 1978 geboren im Südschwarzwald, lebte über zehn Jahre in Berlin und ist nun mit seiner Familie ins Oderbruch gezogen. Für seine Bücher erhielt er das Casa-Baldi-Stipendium der Villa Massimo, den Brüder-Grimm-Preis sowie zuletzt das Stipendium des Landes Brandenburg. Das Beste, was wir tun können, ist nichts (2016) wurde zum Bestseller. Es folgten Im Freien. Geschichten vom Draußensein (2019) und zuletzt sein großer Beziehungsroman Solikante Solo (2021).

Björn Kern, 1978 geboren im Südschwarzwald, lebte über zehn Jahre in Berlin und ist nun mit seiner Familie ins Oderbruch gezogen. Für seine Bücher erhielt er das Casa-Baldi-Stipendium der Villa Massimo, den Brüder-Grimm-Preis sowie zuletzt das Stipendium des Landes Brandenburg. Das Beste, was wir tun können, ist nichts (2016) wurde zum Bestseller. Es folgten Im Freien. Geschichten vom Draußensein (2019) und zuletzt sein großer Beziehungsroman Solikante Solo (2021).

Angeln für Städter


Sophie hat einen Fisch gefangen. Seither ist sie am Boden zerstört. Vielleicht hätte ich sie über das Zusammenwirken von Angelhaken, Schnur und Fischmaul genauer aufklären sollen. Aber das ist ja das Problem mit der Aufklärung. Sie kommt immer zu spät. Ich erwäge ernsthaft, einen Kindertherapeuten aufzusuchen, falls ihr Zustand weiter anhält. Ihr Zustand? Völlige Teilnahmslosigkeit. Gesenkte Schultern. Tränen bei jedem Anlass. Frage ich beispielsweise: »Soll ich dir Pfannkuchen braten?«, lautet die Antwort: »Papa, du bist gemein!« Dann wieder Tränen.

Ich habe gelesen, dass das typisch ist für eine posttraumatische Belastungsstörung. Anlässe, die mit dem Trauma nicht das Geringste zu tun haben, werden auf verschlungenen Wegen mit ihm in Verbindung gebracht.

Erst nach vorsichtigem Herantasten erfahre ich: Die gebratenen Pfannkuchen erinnern Sophie an den gebratenen Fisch! Ich denke, ich werde Gespräche, die ums Essen kreisen, ganz einstellen oder mit einem Codewort versehen müssen. »Willst du Paradies zum Abendessen, Liebes? Soll ich dir das Paradies schneiden?«

 

Ich gestehe, dass ich mir Vorwürfe mache. Auch aus ethischer Sicht. Immerhin geht es hier nicht um einen Teddy, sondern um ein Tier. Andererseits gibt es einiges, was ich zu meiner Verteidigung vorbringen kann. Sophie angelte nämlich mehrere Tage lang lediglich mit einer plastinierten Büroklammer, die an die Kordel ihres Sommerkleides geknotet war. Man muss kein Angler sein, um die Fangaussicht eines derartigen Vorhabens auf null zu schätzen. Jeden Tag nach dem Mittagessen sagte sie: »Papa, ich gehe dann angeln!« Und ich sagte: »Natürlich, Süße. Viel Glück!« Das war zu unserem kleinen Ritual geworden. Niemand hatte die Absicht, einen Fisch zu fangen!

 

Zwei volle Sommerwochen ging das gut. Kein Haken, kein Fisch. So einfach, sollte man meinen. An dieser Stelle kommt nun Sophies Landfreundin ins Spiel. Annelie ist nur zwei Jahre älter als Sophie, aber im Gegensatz zu uns im Dorf fest verwurzelt. Mein märkischer Nachbar ist ihr Großvater. Was ich nur lautstark behaupte (dass wir nächstes Jahr dann aber wirklich Himbeeren-autark sind!), lebt Annelie mit größter Selbstverständlichkeit vor. (Und bringt schon mal breit grinsend einen Eimer Himbeeren vorbei.)

Hinter meinem Rücken – und, ganz wichtig: ohne meinen Segen – schien sich nun mit Annelies Hilfe eine Art Hakenwechsel vollzogen zu haben. Die Kleiderkordel war zur Nylonschnur geworden, die Büroklammer zum Friedfischhaken. Noch einmal ganz deutlich, an alle Freunde weidgerechter Tötung gerichtet: Davon hatte ich nicht das Geringste mitbekommen! Ich lag nämlich derweil im Hof im ungemähten Gras und analysierte die Vorteile meines neuen Daseins als Landvater. Der größte Vorteil in diesem Moment: Sophie war nicht da!

So etwas gesteht man sich ja normalerweise nur nach Mitternacht ein, wenn der Mond aufgeht und der Pegel in der Bierflasche sinkt. Aber es war die pure Erholung. Die totale Entspannung. Eine nervliche Befreiung wie nach einer Ganzkörpermassage. Nichts zupfte an mir! Nichts rief nach mir! Nichts und niemand wollte etwas von mir! Ich durfte, was ich zum letzten Mal vor Sophies Geburt gedurft hatte: einfach nur sein. Die Schmetterlinge tanzten im Hof umher. Der Flieder duftete. Und ich tat nichts.

Auf einmal aber ein Schrei. Heftiges Rütteln am Hoftor. Mein kinderloses Dasein hatte etwa dreizehn Minuten gedauert. Völlig aufgelöst stand nicht Sophie, sondern Annelie vor mir. Braune Haare, sommerlich gebräunte Haut. Nervös zappelnde, dünne Mädchenarme. Annelie stieß einige unverständliche Wortfetzen hervor und zog an meiner Hand. Mein Puls beschleunigte sich. Was war passiert? Lag Sophie im Graben? Kämpfte sie gegen die Strömung? Trieb sie bereits ab? Ich rannte über die Landstraße, an der alten Bettfedernfabrik vorbei, unter der Bahnlinie durch. Sophie stand an der Angelstelle und weinte. Zu ihren Füßen zappelte etwas von beachtlicher Größe.

»Oh Gott!«, rief ich. »Was ist denn das?«

»Eine Rotfeder«, sagte Annelie.

»Und was machen wir jetzt damit?«

»Also, mein Bruder macht immer so«, sagte Annelie und vollführte eine fürchterlich rohe Handbewegung über der Bordsteinkante.

Ich war entsetzt. Der Fisch war kaum zu greifen, so zappelte er. Konnte man ihn nicht einfach wieder schwimmen lassen? Ich meinte, so etwas schon einmal gehört zu haben, und machte mich daran, den Haken aus dem klappenden Maul zu entfernen. Unmöglich. Die Konsistenz der Unterlippe werde ich noch auf meinem Sterbebett aufrufen können. So knorpelig zäh und gleichzeitig so weich, dass in keinem Fall ein Angelhaken hineingehörte.

Ich merkte, dass ich als Landvater soeben versagte. Mein Auftritt war lächerlich. Das Tier tat mir leid. Also packte ich allen Mut und auch den Fisch, schloss die Augen und knallte den Kopf des Tieres mit voller Wucht gegen die Bordsteinkante. Dreifaches Schreien. Sophie schrie. Annelie schrie. Und ich schrie offenbar auch. Der Fisch immerhin war tot. Sein Maul klappte nicht mehr auf und zu, seine Schwanzflosse wedelte nicht mehr in der Luft. Nur ein paar letzte Zuckungen vollführte er noch.

Er hat nicht lange gelitten, beruhigte ich mich. Ich setzte zu einer kleinen Ansprache an, die um die Themen Tierethik, fachgerechte Tötung und den Unterschied zwischen toter und belebter Materie kreisen sollte, als ich feststellte, dass Sophie einen Weinkrampf erlitt. Einen der stillen Sorte. Der verzweifelten. Einen der Sorte, der meine pädagogischen Anwandlungen sofort untergrub. Ich erklärte behutsam, dass der Tod zum Leben dazugehöre. Doch das machte alles noch schlimmer.

Die Tränen liefen und liefen.

Ich klemmte mir den Fisch unter den linken Arm und meine Tochter unter den rechten, selbst die forsche Annelie ging ziemlich geknickt nach Hause. Als wir den Hof erreichten, stellte ich Sophie wieder auf ihre eigenen Füße.

»Wollen wir den Fisch nicht einfach in unseren Teich setzen?«, fragte sie.

»Ähm? Sophie?«

»Dann kann er doch wieder schwimmen!«

»Süße. Er ist tot.«

»Dann mach ihn sofort wieder lebendig!«

 

Als angehender Landvater glaube ich ja an Geschichten. Daran, dass mein Kind besser zurechtkommt, wenn ich den kleinen und großen Absonderlichkeiten des Lebens einen nacherzählbaren Plot verpasse, mit Anfang und Ende. Es war also klar, dass das Kapitel »Fang des ersten (und allem Anschein nach auch letzten) Fisches ihres jungen Lebens« keineswegs mit einer nutzlosen Tierleiche enden durfte. Da fehlte noch was.

Wenn es um den Kreislauf des Lebens geht, bin ich als angehender Landvater recht resolut. Es fällt mir schwer, Reste von Tieren in den Hausmüll zu geben. Knochen, Gräten, Knorpel: So etwas will ich mir nicht in der Müllverbrennungsanlage vorstellen. Es stand also fest: Der Fisch war dem großen Kreislauf wiederzugeben! Seinem Tod war ein tieferer Sinn zu verleihen! Ich musste aus dem Trauma eine Geschichte machen, mit Anfang und Ende. Was würde sich mehr anbieten, dachte ich, als zu diesem Zwecke ein wenig Öl in die Pfanne zu träufeln und die Rotfeder wieder in die Nahrungskette einzugliedern? Doch weit gefehlt. Was der Fisch in der Pfanne vollführte, machte Sophies Trauma erst perfekt.

 

Zunächst stand freilich das Ausnehmen bevor. Ich meinte mich zu erinnern, dass man an einer bestimmten Stelle auf jeden Fall, an einer anderen Stelle hingegen auf keinen Fall in den Fisch stechen sollte. Alles in allem eine unzureichende Arbeitsgrundlage. Was tun? Ich schielte zu Sophie, der meine neue Ratlosigkeit nicht verborgen blieb. Derlei Situationen häuften sich, seit ich zum Landvater wurde. Das natürliche Hierarchiegefälle zwischen Vater und Tochter war in seinen Grundfesten zerstört. Ständig sah sie mich fragend an, und ich zuckte mit den Schultern.

In der Stadt war es übersichtlicher gewesen. Geordneter. Hier die Autos, da die Dealer. Mit beiden bitte nicht in Kontakt treten. Doch hier draußen? Sophie durfte alles, und ich konnte nichts. Wie hatte ich nur in diese Lage geraten können? Warum waren wir nicht in Berlin geblieben?

 

Ich weiß nicht, ob es an der Stadt lag oder an mir, aber in letzter Zeit hatte etwas nicht mehr gestimmt in Berlin. Wo ich eben noch die ganze Nacht ausgegangen war und Fahrten in überfüllten U-Bahnen als höchst inspirierend empfunden hatte, räumte ich auf einmal Spritzen vom Spielplatz. Für die spätnächtlichen Treffen vor dem Spätkauf war ich, seit Sophie auf der Welt war, nur noch eines: zu müde. Und waren schon immer so viele Stoßstangen auf Kinderkopfhöhe herumgefahren?

Wenn Sophie in Berlin etwas erleben wollte, musste ich sie erst einmal irgendwo hinbringen. Dann fand das Erlebnis unter einem Dach statt (Schwimmbad, Boulderhalle). Kindheit, hatte ich im letzten Jahr immer öfter gedacht: War das nicht ein viel großzügigeres Konzept? Eines, das dem Leben in der Stadt mit all seinen Regeln diametral entgegenstand? So eine Kindheit, das war doch etwas mit Wald und Wiese gewesen? Mit Wegbleiben, solange man will? Mit freihändigem Fahrradfahren auf der Dorfstraße? Mit Verabredungen von Tür zu Tür? Mit selbstständigen Erkundungen von Waldrändern und Bachufern?

Nichts davon war in Berlin möglich gewesen. Sah Sophie einen Busch, erleichterte sich darunter ein Chihuahua. Fand sie eine Wiese, steckte ein Fakirteppich aus Kronkorken darin. Und allein auf die Straße würde sie vor ihrem vierzehnten Lebensjahr keinesfalls dürfen. (Und nach dem vierzehnten erst recht nicht mehr!) Um Missverständnissen vorzubeugen: Keinesfalls will ich an dieser Stelle die großartige Stadt Berlin schlechtmachen! Ich fürchtete nur: Sie ist für...

Erscheint lt. Verlag 1.9.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte alleinerziehend • Alleinerziehender Vater • Alltagswahnsinn • Berlin • Björn Kern • Brandenburg • Buch • Das Beste • Das Beste, was wir tun können, ist nichts • Erziehung • Familie • Familienalltag • Familienleben • Familienwahnsinn • Geschenk • Geschenkbücher für Familie • Geschenkbücher für Väter • Geschenk Eltern • Geschenk Familie • Geschenk Papa • Geschenk Umzug • Geschenk Vater • Humor • ist nichts • Kinder • Kindererziehung • Land • Landleben • Landlust • Landvater • Leben auf dem Land • lustig • Natur • Oderbruch • Ostdeutschland • Papa • Pubertier • Speckgürtel • Stadtflucht • Taschenbuch • Tochter • Umzug aufs Land • Umzug Buch • Unterhaltsam • Vater • was wir tun können • witzig
ISBN-10 3-426-46234-6 / 3426462346
ISBN-13 978-3-426-46234-8 / 9783426462348
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