Fast ein Vater (eBook)

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2021 | 1. Auflage
459 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76792-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Fast ein Vater - Alejandro Zambra
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Als er nach neun Jahren seine erste Liebe wiedersieht, erhält Gonzalo eine zweite Chance. Und mit ihr eine Aufgabe: Vater sein. Denn während er sich in all der Zeit mit Haut und Haaren der Poesie verschrieb, bekam Carla einen Sohn. Der ist jetzt sechs, liebt Katzenfutter und wirkt mindestens genauso überrumpelt. Nicht nur deshalb will Gonzalo es besser machen als all die nichtsnutzigen Männer aus seiner Familie, sondern auch um seinem eigenen Scheitern endlich etwas entgegenzusetzen. Doch trotz allem bleibt er immer nur fast ein Vater. Und als er mit seiner Poesie eine zweite Chance erhält, scheint nichts naheliegender als der Verrat an sich und seinen Idealen.

Ein Roman über das Gewicht der Liebe, über Vaterschaft und die tragischen, die komischen Befreiungskämpfe eines Mannes, der etwas anderes erwartet hat. Alejandro Zambra ist der große Virtuose der lateinamerikanischen Literatur, Fast ein Vater sein unbestrittenes Meisterwerk.



<p>Alejandro Zambra, geboren 1975 in Santiago de Chile, gilt als einer der wichtigsten lateinamerikanischen Autoren seiner Generation. Der promovierte Hispanist leitet den Studiengang Editionswissenschaft an der Universität Diego Portales in Santiago und arbeitet als Kritiker für namhafte Tageszeitungen, darunter das chilenische El Mercurio und das spanische El País.</p> <p>Seine Romane, Erzählungen und Gedichte erscheinen in über zwanzig Ländern und erhielten zahlreiche nationale und internationale Preise. Sein Romandebüt <em>Bonsai</em> verhalf Zambra zum Durchbruch. Unter der Regie von Christián Jiménez wurde es für die Leinwand adaptiert und 2011 in Cannes uraufgeführt.</p>

Während Gonzalo


Während Gonzalo mit den Tränen und den Fünfhebern kämpfte, hörte Carla wieder und wieder »Losing my Religion« von R.E.M., damals ein Erfolgshit, der laut Carla perfekt ihren Gemütszustand spiegelte, auch wenn sie nur einige Wörter davon verstand (»life«, »you«, »me«, »much«, »this«) und den Titel, den sie mit der Sünde in Verbindung brachte, als hieße der Song in Wirklichkeit »Losing my Virginity«. Obwohl sie bei den Nonnen zur Schule ging, war ihr Schmerz kein religiöser oder metaphysischer, sondern ein strikt physischer, denn, Scham und Symbolik beiseite, die Penetration hatte höllisch wehgetan: Dasselbe Glied, das sie sich sonst so ungeniert heimlich in den Mund gesteckt und Tag für Tag mit gehöriger Kreativität massiert hatte, kam ihr nun wie ein erbarmungsloser, heimtückischer Drillbohrer vor.

»Niemand steckt ihn mir je wieder rein, niemals. Weder Gonzalo noch sonst jemand«, sagte sie ihren Freundinnen, die sie jeden Nachmittag besuchen kamen, fast gegen Carlas Willen, die in alle Winde verkündete, sie wolle allein sein. Doch sie kamen trotzdem.

Carlas Freundinnen teilten sich von selbst in die engelhafte, langweilige und umfangreiche Gruppe der Noch-Jungfrauen und in die zusammengewürfelte, schmale Gruppe der Nicht-mehr-Jungfrauen. Die Menge der Jungfrauen bestand wiederum aus der kleineren Teilmenge derer, die als Jungfrau in die Ehe eingehen wollten, und der größeren, schwankenden Teilmenge der Nur-jetzt-noch-nicht, zu der Carla kurzzeitig gehört hatte. In der Gruppe der Nicht-Jungfrauen stachen zwei Freundinnen heraus, die Carla spöttisch und bewundernd »die Linken« nannte, eigentlich nur, weil sie in fast jeder Hinsicht radikaler oder vielleicht bloß weniger gehemmt waren als alle anderen, die Carla kannte. (Eine von ihnen wollte, dass Carla ihren Lieblingssong wechselte, denn sie hielt »I Touch Myself« von Divinyls, auch ein Erfolgshit damals, in der gegenwärtigen Situation für passender als »Losing my Religion«. »Lieblingssongs wählt man nicht aus«, gab Carla zurück, völlig zu Recht.)

Nachdem sie sich den Schwall von Ratschlägen aus beiden Lagern angehört und vor allem die Meinungen der Linken zu Herzen genommen hatte, hielt Carla es für das Vernünftigste, ihre erste sexuelle Erfahrung so schnell wie möglich zu vergessen, wozu sie logischerweise dringend eine zweite sexuelle Erfahrung benötigte. An einem Freitag rief sie nach der Schule Gonzalo an und zitierte ihn ins Zentrum. Der konnte sein Glück nicht fassen. Er rannte los zur Bushaltestelle, seltsam für ihn, da ihm rennende Leute auf der Straße lächerlich vorkamen, vor allem in langen Hosen. Er erwischte einen Bus ohne freien Sitzplatz, schaffte es aber dennoch, einen Großteil der zweiundvierzig Gedichte, die er im Rucksack bei sich trug, im Stehen noch einmal zu lesen.

Zur Begrüßung saugte sich Carla an seinem Mund fest und stellte gleich klar, dass sie wieder zusammen sein und in ein Stundenhotel gehen sollten, obwohl sie ebendas fast ein ganzes Jahr lang verweigert und als Grund Anstand, Geldmangel, Ungesetzlichkeit, Bakteriophobie oder alles zusammen angeführt hatte, doch jetzt versicherte sie in einem schon übertrieben lüsternen Ton, ja, das wolle sie, komme um vor Verlangen.

»Beim Kunsthandwerkmarkt gibt’s eins, hab ich gehört, ich hab Kondome besorgt und Geld dabei«, sagte Carla in einem einzigen überstürzten Satz. »Los!«

Das Hotel war ein elendes Loch, das nach Räucherstäbchen und ranzigem Öl roch, denn man konnte sich gebratene Käse- und Hackfleisch-Empanadas aufs Zimmer bestellen, außerdem Bier, Pichuncho und Piscola, was sie alles verwarfen. Eine Frau, das Haar rot gefärbt, die Lippen blau, nahm das Geld entgegen und verlangte natürlich keinen Ausweis. Sobald sie die Tür des winzigen Zimmers hinter sich geschlossen hatten, zogen Carla und Gonzalo sich aus und betrachteten einander erstaunt, als hätten sie gerade erst die Nacktheit entdeckt, was im Grunde auch stimmte. Fünf Minuten lang beschränkten sie sich aufs Küssen, Lecken und Beißen, dann zog Carla Gonzalo eigenhändig das Kondom über – sie hatte am selben Vormittag mit einem nackten Maiskolben geübt –, und er drang langsam in sie ein, mit der Beherrschung und dem tiefen Empfinden dessen, der sich den Augenblick einprägen will, und alles lief wunderbar. Doch die Verbesserung war minimal, weil der Schmerz anhielt (Carla tat es sogar noch mehr weh als beim ersten Mal), und die Penetration dauerte letztlich so lange, wie ein Hundertmeterläufer für die ersten fünfzig gebraucht hätte.

Gonzalo zog die Jalousien ein wenig hoch und sah den Leuten zu, die von der Arbeit nach Hause gingen, mit einer Langsamkeit, die ihm aus der Entfernung phantastisch vorkam. Dann kniete er sich vor das Bett und betrachtete eingehend Carlas Füße. Noch nie hatte er auf ihre Fußlinien geachtet. Eine ganze Minute lang folgte er, als suchte er den Weg aus einem Labyrinth, diesen chaotischen Fährten, die sich bis ins Unsichtbare verästelten, und dachte daran, ein langes Gedicht über jemanden zu schreiben, der barfuß auf einem endlosen Pfad wandert, bis seine Fußlinien verwischt sind. Dann streckte er sich neben Carla aus und fragte, ob er ihr seine Sonette vorlesen könne.

»Ja«, antwortete Carla gedankenverloren.

»Aber es sind zweiundvierzig.«

»Lies mir das vor, das dir am besten gefällt.«

»Schwer zu entscheiden. Ich lese dir zwanzig vor.«

»Drei«, handelte ihn Carla hastig herunter.

»Fünf.«

»Gut.«

Gonzalo begann, ihr mit feierlicher Intonation seine Sonette vorzutragen, und obwohl Carla sie gern gut gefunden hätte, konnte sie in Wirklichkeit nichts damit anfangen. Beim Zuhören dachte sie an Gonzalos Hals, an seine Brust, glatt wie Eis und doch so warm, an sein fast sichtbares, so komisches Skelett, an seine Augen, mal braun, mal grün und immer eine Spur seltsam. Sie hielt ihn für schön, und es wäre fabelhaft gewesen, wenn ihr auch seine Gedichte gefallen hätten, die sie dennoch respektvoll und mit einem Lächeln anhörte, das heiter und entspannt sein sollte, aber eher von Melancholie zeugte.

Als Gonzalo mit dem fünften Sonett anfing, schwoll ein Stöhnen aus dem Nebenzimmer an, von dem sie nur eine dünne Wand trennte. Die unfreiwillige Intimität mit diesen Unbekannten löste Unterschiedliches aus: Gonzalo empfand es als Privileg, einen echten Porno mitzuerleben, live und in Direktübertragung – wirklicher Sex, unverfälscht, mit quietschendem Bett und leicht versetzten Schreien, die auf einen bestimmt denkwürdigen Ansturm folgten. Für Carla dagegen war so viel Nähe zunächst verstörend, sie dachte sogar daran, an die Wand zu klopfen und um mehr Diskretion zu bitten, aber dann konzentrierte sie sich lieber auf dieses Stöhnen und überlegte, ob die genießende Unbekannte unten lag oder obenauf oder in einer dieser seltsamen Stellungen, die ihre Klassenkameradinnen in der Pause tollkühn an die Tafel malten. Die Vorstellung, ebenfalls so zu stöhnen, wie eine unschlagbare Siegerin von Roland-Garros, hielt sie für grandios, wenn auch momentan für unmöglich, denn dort wurde aus Lust gestöhnt, und mochten sich auch manchmal Schmerz und Lust vermischen, bei Carla war das nicht der Fall, bei ihr war es reiner, ausschließlicher Schmerz.

Mit dem plötzlichen Verlangen, lauter zu schreien als ihre Nachbarin, schwang sich Carla auf Gonzalo und begann, ihm den Hals zu lecken. Er packte mit beiden Händen ihren Hintern und spürte, dass die volle Erektion sofort zurückkehrte und einem zweiten Vögeln an diesem Nachmittag, ihrem dritten Mal, das die Erinnerung an die vorhergehenden auslöschen oder zumindest relativieren sollte, nichts im Wege zu stehen schien. Gonzalo versuchte, sich eigenhändig ein neues Kondom überzustreifen, und obwohl er mit fast würdevollem Ungeschick vorging, reichten diese zusätzlichen Sekunden, Carla davon abzubringen, penetriert zu werden, und das Scharmützel endete mit gegenseitigem Masturbieren, bewährt und effektiv.

Gonzalo lehnte sich gegen Carlas Brüste und wäre sogar...

Erscheint lt. Verlag 20.6.2021
Übersetzer Susanne Lange
Sprache deutsch
Original-Titel Poeta chileno
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bolaño • Bonsai • Chile • Dichter • Familienroman • Kunst und Leben • Lateinamerikanische Literatur • Literatur • Lyrik • Mejores Obras Literarias 2012 • Patchworkfamilie • Patchwork-Familie • Poeta chileno deutsch • Stiefvaterschaft • ÜERSETZERPREISE DER BOTSCHAFT VON SPANIEN 2005 • Vater • Vater-Sohn-Beziehung
ISBN-10 3-518-76792-5 / 3518767925
ISBN-13 978-3-518-76792-4 / 9783518767924
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