Der falsche Gruß (eBook)
128 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30243-1 (ISBN)
Maxim Biller, geboren 1960 in Prag, lebt seit 1970 in Deutschland. Von ihm sind bisher u.a. erschienen: der Roman »Die Tochter«, die Erzählbände »Sieben Versuche zu lieben«, »Land der Väter und Verräter« und »Bernsteintage«. Seinen Liebesroman »Esra« lobte die FAS als »kompromisslos modernes, in der Zeitgenossenschaft seiner Sprache radikales Buch«. Billers Bücher wurden in neunzehn Sprachen übersetzt. Bereits nach seinem Erstling »Wenn ich einmal reich und tot bin« (1990) wurde er von der Kritik mit Heinrich Böll, Wolfgang Koeppen und Philip Roth verglichen. Zuletzt erschienen sein Memoir »Der gebrauchte Jude« (2009), die Novelle »Im Kopf von Bruno Schulz« (2013) sowie der Roman »Biografie« (2016), den die SZ sein »Opus Magnum« nannte. Sein Bestseller »Sechs Koffer« stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2018. Über den Roman »Der falsche Gruß« (2021) schrieb die NZZ: »Das ist große Kunst.«
Maxim Biller, geboren 1960 in Prag, lebt seit 1970 in Deutschland. Von ihm sind bisher u.a. erschienen: der Roman »Die Tochter«, die Erzählbände »Sieben Versuche zu lieben«, »Land der Väter und Verräter« und »Bernsteintage«. Seinen Liebesroman »Esra« lobte die FAS als »kompromisslos modernes, in der Zeitgenossenschaft seiner Sprache radikales Buch«. Billers Bücher wurden in neunzehn Sprachen übersetzt. Bereits nach seinem Erstling »Wenn ich einmal reich und tot bin« (1990) wurde er von der Kritik mit Heinrich Böll, Wolfgang Koeppen und Philip Roth verglichen. Zuletzt erschienen sein Memoir »Der gebrauchte Jude« (2009), die Novelle »Im Kopf von Bruno Schulz« (2013) sowie der Roman »Biografie« (2016), den die SZ sein »Opus Magnum« nannte. Sein Bestseller »Sechs Koffer« stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2018. Über den Roman »Der falsche Gruß« (2021) schrieb die NZZ: »Das ist große Kunst.«
4
Der ungewöhnlich kurze, schweflige Wintertag im Dezember des Umbruchsjahrs 2000, an dem sich die Sache mit meiner Magisterarbeit innerhalb von ungefähr neunzig Sekunden für immer erledigte, hatte mit einem großen englischen Frühstück im Café Einstein begonnen, natürlich Unter den Linden. Ich war noch nie vorher dort gewesen – zu teuer, zu laut, zu viele berühmte Leute, sagten meine braven Kommilitonen –, aber weil ich vor meinem Termin bei Professor Sartorius so aufgeregt war, dachte ich, ich bräuchte irgendwelche Superkräfte, um ihn von meinem Thema zu überzeugen, und die, beschloss ich, würde ich mir genau hier holen. Bacon, Rührei, Toast mit Butter, dazu Earl-Grey-Tee mit warmer Milch – das alles war schon mal sehr gut für den Anfang, obwohl mir die sechzehn Euro, die ich dafür ohne Trinkgeld bezahlen würde, so ähnlich verrückt und verboten vorkamen wie früher meine heimliche Nazigymnastik oder mein regelmäßiges lustloses Onanieren, wenn endlich alle in der Gustav-Adolf-Straße schlafen gegangen waren und ich versuchte, mich wie ein richtiger Teenager zu verhalten. Eine ziemlich drastische Art, die Dinge miteinander zu vergleichen, ich weiß, aber ich habe es an diesem aufregenden Morgen genauso empfunden.
Während ich frühstückte – so langsam und ehrfürchtig, als wäre es das erste Frühstück meines Lebens –, bemerkte ich in der hintersten Ecke des hell erleuchteten Cafés mit all seinen mich wild umkreisenden Spiegeln, blitzenden Kaffeetassen und weißen, oft fleckigen Kellnerschürzen jemanden, der genauso aussah wie der frühere Außenminister. Er saß, halb verdeckt von einem vollgehängten Kleiderständer, neben einer kleinen schwarzhaarigen Frau, die mich an eine alte DDR-Sportmoderatorin erinnerte, in die früher bei uns in der Schule alle verliebt waren, auch die Mädchen. An einem anderen Tisch entdeckte ich gleich drei Männer in sehr weiten Anzügen – rote Gesichter, tote Augen, schnelle Bewegungen –, aus deren leisem Gespräch ich immer wieder die Worte »Kommission« und »durchpeitschen« heraushörte. Offensichtlich waren sie echte Abgeordnete aus dem echten, nahegelegenen Reichstag, was ich mir aber zugleich absolut nicht vorstellen konnte. Und dann gab es noch einen Tisch mit einem kleinen, einsamen Mann mit einem schneeweißen Sieben-Tage-Bart und permanent umherschweifendem, geilem Blick, kurzum, eine ziemlich gute Kopie des berüchtigten israelischen Botschafters, der in seinen vielen TV-Interviews die Sache seiner Regierung immer ein bisschen zu selbstbewusst und überzeugt vertrat. Natürlich saßen hier noch ein paar andere Leute, die mich zwar an niemanden erinnerten, aber sie alle strahlten so viel unneurotisches Selbstbewusstsein und professionelle Ellbogenhaftigkeit aus, dass ich mit jeder Minute, die ich mit ihnen in einem Raum sein durfte, bemerkte, wie ich von ihrer Energie angesteckt wurde. Sartorius, ich komme!, dachte ich. Und: Er wird mich am Ende noch anflehen, dass ich die Arbeit bei ihm schreibe und nicht bei Münkler oder Van Heyde!
»Kann ich Ihre Zeitung haben?«, hörte ich plötzlich die junge – vielleicht aber auch nicht mehr ganz so junge – knallblonde Frau am Tisch neben mir sagen. Noch bevor ich antworten konnte, nahm sie sich die Welt am Sonntag, die zufällig zwischen uns auf der schönen, braunen Einstein-Lederbank lag, gleichzeitig roch ich ihr schimmelig-süßes Parfum und etwas, das ziemlich sicher mit den verdeckten Partien ihres rundlichen, aber festen Körpers zu tun hatte. Ich war zu meiner eigenen Überraschung sofort verwirrt, obwohl mich Frauen, wie gesagt, nur auf eine sehr zivilisatorisch gezähmte Art interessieren. Wahrscheinlich verwirrte sie mich aber auch deshalb, weil sie so aussah wie die russischen Frauen, die ich aus den alten sowjetischen Filmen kannte, die früher bei uns immer im Fernsehen liefen, und dadurch etwas von einer wahren Geistererscheinung hatte: sehr viel Haarspray in den fast schon verrückt blonden Haaren und noch mehr Make-up, trotzdem ein klares, offenes Gesicht, große, slawisch-runde Augen mit diesem leichten Zug ins Asiatische, herrliche Zähne, sexuell aufgeladenes Hysteriepotenzial. »Sie zittern«, sagte die Besucherin aus der Vergangenheit kühl, dann drehte sie sich wieder von mir weg und fing an, in der Welt am Sonntag zu blättern, und zwar von hinten nach vorne.
Sie hatte völlig recht. Ich zitterte, innerlich und äußerlich oder was auch immer, und meine neuen Superkräfte verließen mich in ihrer Gegenwart so schnell wie ich sie kurz vorher verspürt hatte. Aber das war noch gar nichts gegen den einen einzigen großen, vernichtenden, deprimierenden Schauer, der mich von den Unterschenkeln bis zum Nacken durchfuhr, als plötzlich in dem schmalen Gang neben dem Tresen ein großer, übertrieben schlanker Schönling in einer engen Jeans und einem extrem kurzen, dunkelblauen Jackett über einem strahlend weißen Hemd auftauchte, der genauso wie der Mann aussah, der an einem gewissen heißen, drückenden Augustnachmittag kurz nach der Wende meinen Vater mit seinem FAZ-Essay an den Rand von etwas gebracht hatte, wovon ich damals noch nicht wusste, dass es das gab und wie man es nannte. Ja, Papa hatte, als er aus dem Institut geflohen war, am Fenster Kette rauchte, mich das erste und letzte Mal im Leben umarmte und sich nach unserem Spaziergang und seinem seltsamen Kamel-Monolog weinend ins Bett legte, einen echten Nervenzusammenbruch gehabt, das habe ich erst Jahre später begriffen. Aber das änderte leider auch nichts mehr daran, dass ich seitdem in ihm nur noch einen Wiedergänger des ewig verheulten Großvaters Julius sah, etwas gebildeter vielleicht, aber auch kein richtiges Vorbild.
War das wirklich der echte Hans Ulrich Barsilay?, dachte ich erschrocken, während der Typ in dem lächerlich engen Jackett langsam und schnell zugleich genau auf meinen Tisch zuging. Oder war das nur jemand, der ihn nachmachte, weil er ihn gut fand, dem gefiel, wie der große Barsilay sich anzog, so arrogant und hühnchenhaft wie ein schwuler französischer Modedesigner, ein durchgedrehter Barsilay-Fan, der seine Artikel, Bücher und Fernsehauftritte bewunderte, der es witzig fand, dass Barsilay sich mal »postmoderner Antichrist«, mal »zweibeinige Kavallerie der Aufklärung« nannte? Und warum sollte es überhaupt einen Barsilay-Fan bei uns geben, dachte ich weiter, außer er war auch einer von ihnen? Der Doppelgänger, der vielleicht gar keiner war – so wie möglicherweise alle anderen VIPs im Café Einstein echt waren –, machte noch zwei, drei Schritte in meine Richtung, ich presste panisch meinen Oberkörper gegen die Rückenlehne und wischte mir mit der großen Stoffserviette den Mund ab, aber dann drehte er sich plötzlich zu der aus der Zeit gefallenen schönen Russin. Er beugte sich, süß und kannibalenhaft lächelnd, zu ihr herunter, küsste sie, streichelte ihre Wange, ihren Nacken, setzte sich auf die Bank zwischen sie und mich – und zehn Minuten später redete ich mit ihm, über den Termin, den ich gleich bei meinem Professor hatte, über meine Sorgen, über mich, über meine Leute, keine Ahnung, wie dieser rhetorische Falschmünzer und Amateur-Freud das geschafft hatte.
Ja, es war wirklich Barsilay himself! Zuerst habe ich ihm alles über die Magisterarbeit erzählt – wir waren darauf gekommen, weil er sein überschwappendes Teeglas auf meinen Notizen abgestellt und dort wie ein kleines Kind Flecken gemacht hatte –, über meine Idee, gleich in der Einleitung, gestützt auf Jauß, Tröbst und die französischen Prinzipialisten, grundsätzlich festzustellen, dass es keine besseren oder schlechteren gesellschaftlichen Systeme gebe, sondern nur Sieger oder Verlierer. Dann machte ich, um nicht allzu trocken zu klingen, Andeutungen über den Selbstmord meines Vaters, ich erklärte, auch weil Barsilay sich so drängend und freundlich nach dem Rest meiner Familie erkundigte, wie wir es nicht einmal bei unseren engsten Freunden und Verwandten machen, dass ich über meine treulose Mutter seit Juli 1996 nicht mehr gesprochen und nachgedacht hätte. Und schließlich gab ich wie hypnotisiert zu, dass ich etwas vermisste, wovon ich nicht wusste, dass es mir jemals wichtig gewesen wäre – die aufregenden »Tage der Wehrbereitschaft«, den bitteren Geschmack von Sanddornmarmelade –, ich wünschte mir lachend eine umgekehrte Zeitmaschine, die das vereinte Deutschland in ein sozialistisches Land verwandeln würde, ich hasste mich dafür, dass ich zu ihm so ehrlich war, und dafür hasste ich ihn dann noch mehr, das plötzlich reale Phantom meiner verunglückten Halbwaisenjugend.
»Was können Sie schreiben, was nicht schon gedacht und geschrieben wurde?«, sagte Barsilay streng, als ich fertig war, und starrte ein paar Sekunden zu lang auf meinen blutverkrusteten Zeigefinger, den ich mir in der Nacht davor im Schlaf wundgebissen hatte. »Und sind Sie sicher, dass Sie das wollen?«
Ich zuckte mit den Schultern und dachte zum tausendsten Mal an den Titel meiner Arbeit, auf den ich so stolz war: Spätbolschewismus als Identität und Nachteil. Nein, das war wirklich nichts Neues, das wusste ich selber.
»Als Erstes müssen Sie aufhören zu zittern, Erck. Ich könnte mir denken, dass Valeria das auch schon zu Ihnen gesagt hat. Nein, ich bin sicher! Sie ist ja immer sehr mitfühlend und empathisch.«
Er legte seine linke Hand auf meine Hand und seine rechte Hand auf die Hand der sowjetischen Eisprinzessin, und das fühlte sich so an, als hätte ich sie...
Erscheint lt. Verlag | 19.8.2021 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Antisemitismus • Bestseller-Autor • Diskriminierung • Gesellschaftsroman • Linksliberalismus • Literaturbetrieb • Öffentlichkeit • Politische Literatur • Sechs Koffer • Verschwörungstheorien |
ISBN-10 | 3-462-30243-4 / 3462302434 |
ISBN-13 | 978-3-462-30243-1 / 9783462302431 |
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