Im Nachhall des Todes (eBook)
400 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00974-5 (ISBN)
Leena Lehtolainen, 1964 geboren, lebt und arbeitet als Literaturwissenschaftlerin, Kritikerin und Autorin in Degerby, westlich von Helsinki. Sie ist eine der auch international erfolgreichsten finnischen Schriftstellerinnen, ihre Ermittlerin Maria Kallio gilt nicht nur als eine Art Kultfigur der finnischen Krimiszene, sondern erfreut sich auch bei deutschen Leserinnen und Lesern seit dem Erscheinen des ersten Bandes der Reihe 1994 ungebrochener Beliebtheit.
Leena Lehtolainen, 1964 geboren, lebt und arbeitet als Literaturwissenschaftlerin, Kritikerin und Autorin in Degerby, westlich von Helsinki. Sie ist eine der auch international erfolgreichsten finnischen Schriftstellerinnen, ihre Ermittlerin Maria Kallio gilt nicht nur als eine Art Kultfigur der finnischen Krimiszene, sondern erfreut sich auch bei deutschen Leserinnen und Lesern seit dem Erscheinen des ersten Bandes der Reihe 1994 ungebrochener Beliebtheit. Gabriele Schrey-Vasara, geboren 1953 in Rheydt, studierte Geschichte, Romanistik und Finnougristik in Göttingen und lebt seit 1979 in Helsinki. 2008 erhielt sie den Staatlichen finnischen Übersetzerpreis.
1
Jahnukainen machte mir das seltsamste Geburtstagsgeschenk meines Lebens. Ich war vor den anderen wach und ging leise in die Küche, denn ich wollte keinen Kaffee ans Bett. Es war ein normaler Arbeitstag, ich hatte nicht vor, meinen Geburtstag zu feiern. Ein Jahr mehr hatte nichts zu bedeuten.
An diesem Morgen Anfang März schneite es, aber unsere mittlere Katze wollte trotzdem nach draußen. Fünf Minuten später sprang sie auf das Fensterbrett neben der Tür und miaute. Sie hielt etwas zwischen den Vorderpfoten. Ich öffnete vorsichtig die Tür, denn unser Kätzchen Carolina durfte noch nicht nach draußen. Carolina und der alte Herr Venjamin lagen Schwanz an Schwanz auf dem Sofa, wurden aber munter, als Jahnukainen seine Beute zufrieden mitten in der Küche ablegte. War das eine Maus, eine Wühlmaus vielleicht? Carolina flitzte herbei, um das seltsame Ding in Augenschein zu nehmen. Es war unbehaart und in der Mitte flach. Darauf achtete man nicht, wenn es sich an der Stelle befand, wo es hingehörte.
Auf dem Küchenfußboden lag ein menschliches Ohr.
Carolina stürzte sich darauf und warf es mit der rechten Tatze in die Luft. Jahnukainen murrte, spielte dann aber mit. Das Geschenk war gar nicht für mich bestimmt – Jahnukainen wollte dem Kätzchen das Jagen beibringen. Verdammt. Vergeblich versuchte ich, mir das Ohr zu schnappen. Die Katzen fanden, das gehörte zum Spiel.
«Mama, ist das etwa echt?», rief Taneli und kam die Treppe heruntergerannt. Als Carolina das Ohr noch einmal hochwarf, fing Taneli es auf. Das Kätzchen versuchte, an seiner Trainingshose hochzuklettern, um wieder an die Beute zu kommen.
«Igitt, das ist wirklich echt!», ächzte Taneli und hielt mir das Ohr hin. Ich suchte in der Küchenschublade nach einem Plastikbeutel. Vorsichtig griff ich nach dem Ohr, ich wollte keine Fingerabdrücke hinterlassen. Es musste ohne weitere Schäden in die Pathologie gebracht werden. Das Ohrläppchen war nicht durchstochen, und aus dem Gehörgang wuchsen keine Härchen. Die Haut war ziemlich hell. Für die Suche nach dem Eigentümer war das Gewaltdezernat zuständig. Von dort würde jemand bei den Krankenhäusern anrufen und sich nach einem Patienten erkundigen, dem das linke Ohr fehlte.
Weil Jahnukainen kastriert war, beschränkte sich sein Revier auf wenige Quadratkilometer. Anders als Hunde finden Katzen nicht zu einer Fundstelle zurück.
«Herzlichen Glückwunsch, Mama.» Taneli umarmte mich. Nun kam auch Antti nach unten und überreichte mir ein Päckchen. Erst danach bemerkte er das Ohr.
«Ist die Chorprobe etwa aus dem Ruder gelaufen?», spekulierte er. Ich verstand nicht, was er meinte.
«In den beiden Passionen von Bach nimmt Petrus sein Schwert und säbelt einem Diener des Oberpriesters ein Ohr ab, als sie nach Golgatha kommen, um Jesus gefangen zu nehmen.»
Achselzuckend legte ich den Beutel mit dem Ohr in den Kühlschrank und setzte mich aufs Sofa, um Kaffee zu trinken und das Geschenk auszupacken. Venjamin drehte sich auf die andere Seite und schlief schnaufend weiter.
«Vielleicht will jemand ein berühmter Künstler werden, wie van Gogh», mutmaßte Taneli. «Gibt es heute Abend Kuchen? Iida hat doch versprochen zu backen, oder? Mein Training geht bis halb acht.»
Ich sagte, er solle seine Schwester fragen. In Anttis Päckchen waren wunderschöne Ohrringe mit grünen Steinen.
«Die passen zu deiner Augenfarbe», sagte er und beugte sich vor, um mich zu küssen. Carolina versuchte, sich zwischen uns zu drängen.
Nachdem ich mich angezogen hatte, machte ich mich auf die Suche nach der Stelle, wo Jahnukainen das Ohr gefunden hatte. Der Frühling war noch nicht in Sicht, in der Nacht hatte die Temperatur mehr als zehn Grad unter null gelegen, und die Meisen hatten keine Lust zu singen. Der Schnee war so hart gefroren, dass die Katzenpfoten nur hier und da Abdrücke hinterlassen hatten. Mühsam folgte ich Jahnukainens Spuren bis zu dem Wäldchen auf der anderen Straßenseite. Der Kater hatte in einem nur halb vom Schnee bedeckten Sandhaufen gebuddelt, um dort sein Geschäft zu verrichten, und dabei hatte er offenbar das Ohr gefunden.
Ich rief einen Streifenwagen. Die Kollegen sollten das Gebiet absperren, damit nicht noch mehr Spuren getilgt werden konnten. Im Dienst waren die sogenannten Teufel, die Streife Nummer 666. Montonens Poppertolle bauschte sich in fast zwei Metern Höhe, das Grinsen auf seinem Gesicht wurde noch breiter, als er hörte, was uns die Katze da ins Haus gebracht hatte.
«Abgeschnittene Finger habe ich auch schon gefunden, und einer von den Himanen-Zwillingen ist mal mit einem verdammt haarigen großen Zeh in die Pathologie gekommen. Angeblich soll irgendeine Motorradgang Denunzianten mal die Zunge abgeschnitten haben, aber von einem Ohr hab ich noch nie gehört. Bist du sicher, dass es von einem Menschen stammt?»
«Es war fast noch Schmalz drin», konterte ich ebenso kaltschnäuzig. Ich hatte oft genug mit Montonen in brenzligen Situationen gesteckt und wusste, dass der Beruf auch bei ihm Narben hinterlassen hatte. Blöde Witze waren manchmal das einzige Mittel, den Arbeitstag zu überstehen.
«Wir haben heute früh in Matinkylä einen aufgesammelt, der an seinem Erbrochenen erstickt war. Das heißt, abtransportiert hat ihn natürlich der Leichenwagen. Wenn man so was gesehen hat, tut es gut, an der frischen Luft zu sein», fuhr Montonen fort. «Ich hab die KTU schon herbestellt, sie kommt so bald wie möglich. Hier gibt es nichts zu sehen», wandte er sich an einen Mann mit Hund, den ich vom Sehen kannte und der gerade sein Handy aus der Tasche zog. Das vertraute Wäldchen wurde interessant, sobald die Polizei es absperrte.
Ich ließ die Kollegen allein und sagte der Ki-Ju-Abteilung Bescheid, dass ich es nicht pünktlich aufs Präsidium schaffen würde. Ich wollte das Fundstück selbst zur Pathologie bringen.
Im Zug googelte ich nach abgeschnittenen Ohren und entdeckte einige Fälle aus den letzten Jahren, bei denen es um Rache oder um Unfug im Suff ging. In Pasila stieg ich in die Straßenbahn um. Jenna Ström vom Gewaltdezernat teilte mir mit, dass in den Ärztezentren und Krankenhäusern im Hauptstadtgebiet niemand entdeckt worden war, dem ein Ohr fehlte.
Man konnte also nur abwarten, bis irgendwo weitere Körperteile oder eine ganze Leiche auftauchten.
«Ich habe etwas gefunden», erklärte ich dem Pförtner im Rechtsmedizinischen Institut und legte ihm das Ohr hin. Der schmächtige junge Mann rang um Fassung.
«Woher …» Sein Gesicht wurde immer grünlicher, und seine Hände zitterten wie bei einem Alkoholiker, der morgens die erste Flasche entkorkt.
«Bringen Sie es bitte zur Untersuchung. Ich hätte gern das Alter des Besitzers und auch die DNA. Wir müssen herausfinden, wem es gehört.»
Der junge Mann konnte sich nicht dazu überwinden, den Plastikbeutel anzufassen. Ich setzte mich in den Warteraum und wählte die Nummer der Pathologin Kirsti Grotenfelt.
«Bist du bei der Arbeit?»
«Gerade auf dem Weg zur Obduktion. Ist die Mumie aus Matinkylä dein Fall?»
«Mordfälle habe ich ja kaum noch. Ich hab ein Ohr mitgebracht, das bei uns hinter dem Haus lag.»
«Wie bitte?»
«Ein menschliches Ohr. Sieh es dir an, wenn du Zeit hast.»
Ich ließ den armen Pförtner mit dem Ohr allein und ging zur Straßenbahnhaltestelle. Hoffentlich war Taneli schlau genug, den Mund zu halten. Das Ohr hatte womöglich mehrere Tage bei Frost draußen gelegen. Hatte jemand es absichtlich gerade in meiner Nachbarschaft deponiert? Ich verscheuchte den Gedanken. Wenn es im Briefkasten oder auf der Treppe gelegen hätte, wäre es vielleicht eine Botschaft an mich gewesen. Aber so war es purer Zufall. Wem das Ohr gehörte oder gehört hatte, mussten andere herausfinden.
«Wo ist die Torte?», rief Puupponen, als ich den Ermittlungsraum unserer Abteilung betrat. «Also alles Gute zum Geburtstag oder so», fügte er hinzu und umarmte mich.
«Was soll hier schon gefeiert werden», brummte ich. Puupponen roch nach einem neuen Rasierwasser, an seinem Hemd waren noch die Knicke der Verpackung zu sehen. Die anderen Mitglieder unseres Teams waren unterwegs: Kristo Pohjola hielt einen Vortrag an einer Schule, Johanna Al-Sharif hatte eine Besprechung mit einer Jugendsozialarbeiterin, und Pekka Koivu, der als Letzter zu uns gestoßen war, vernahm eine zwölfjährige Ladendiebin. Ich setzte mich an den Personalbericht, den ich schon am Vortag hätte abgeben sollen. Den Papierkram hasste ich fast so leidenschaftlich wie Sitzungen. Von daher war ich ganz und gar nicht die Richtige für den Posten als Chefin der Abteilung für von Kindern und Jugendlichen begangene und gegen sie gerichtete Verbrechen, die der Polizeibehörde von West-Uusimaa unterstand. Wir hatten das Namensmonster in Ki-Ju umgetauft und waren unter diesem Kürzel im ganzen Land bekannt. Das Versuchsprojekt des Innenministeriums war auf fünf Jahre befristet, und außer uns nahm auch die Polizeibehörde von Oulu daran teil. Es ging einerseits um die Prävention, aber auch um die Aufklärung von Verbrechen.
Als ich gerade überlegte, zum Mittagessen zu gehen, rief Kirsti Grotenfelt an.
«Besten Dank für einen der seltsamsten Fälle meiner Laufbahn. Zum Glück habe ich nicht lange dafür gebraucht.»
«Du hast das Ohr also bekommen. Lässt es sich zuordnen?» Im selben Moment wurde mir klar, dass es mich gar nichts anging, wem das Ohr gehörte. «Du musst Jenna Ström vom Gewaltdezernat Bericht erstatten, nicht mir.»
«Du willst es ja doch wissen. Es handelt sich um das Ohr eines jüngeren Mannes. Ich würde sein Alter auf...
Erscheint lt. Verlag | 16.11.2021 |
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Reihe/Serie | Die Maria Kallio-Reihe |
Die Maria Kallio-Reihe | Maria Kallio ermittelt |
Übersetzer | Gabriele Schrey-Vasara |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Familie • finnische Literatur • Finnisch Roman • Finnland • Finnland Krimi • Flüchtlinge • Gewalt • Helsinki • Jan Costin Wagner • Kriminalroman aus Skandinavien • Krimi Neuerscheinungen 2021 • Maria Kallio • Mord • Ollikainen • Rechtsradikal • Skandinavienkrimi • Taavi Soininvaara • Transgender |
ISBN-10 | 3-644-00974-0 / 3644009740 |
ISBN-13 | 978-3-644-00974-5 / 9783644009745 |
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