Mein Sternzeichen ist der Regenbogen (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021
320 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27160-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mein Sternzeichen ist der Regenbogen - Rafik Schami
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»Erzählen ist seine Leidenschaft - seine Kunst, dem Alltag ein Quäntchen Zauber hinzuzufügen.« (ZDF aspekte) - Neue Geschichten von Rafik Schami
Ob die Geschichten in Heidelberg, München oder Damaskus spielen, ob es um Geheimnisse, Reisen oder missglückte Geburtstage geht, überall wartet eine Überraschung: Da ist der Liebhaber, der zum Messer greift, als er die Geliebte in den Armen ihres Ehemannes sieht; eine Kreuzfahrt, bei der alle Männer ihr Geschlechtsteil verlieren; ein Klassentreffen mit Verstorbenen. In seinem unverwechselbaren Ton erzählt Rafik Schami von selbst Erlebtem und Gehörtem, von deutschen Lebenslügen und Emigranten, die vor Sehnsucht nach der Heimat den Verstand verlieren. Auch im tiefsten Ernst verlässt ihn nie der Humor, denn das Lachen ist, wie Schami schreibt, 'der beste Schmuggler für Gedanken'.

Rafik Schami wurde 1946 in Damaskus geboren und lebt seit 1971 in Deutschland. Sein umfangreiches Werk wurde in 33 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, so u.a. mit dem Hermann-Hesse-Preis, dem Nelly-Sachs-Preis, dem Preis 'Gegen Vergessen - Für Demokratie', dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis und der Carl-Zuckmayer-Medaille. Im Hanser Kinder- und Jugendbuch erschien u.a. Das ist kein Papagei (illustriert von Wolf Erlbruch, 1994), Die Sehnsucht der Schwalbe (2000), Wie ich Papa die Angst vor Fremden nahm (2003, illustriert von Ole Könnecke), Der Kameltreiber von Heidelberg (2006, illustriert von Henrike Wilson), Das Herz der Puppe (2012, illustriert von Kathrin Schärer), Meister Marios Geschichte (2013, illustriert von Anja Maria Eisen), Elisa oder Die Nacht der Wünsche (2019, illustriert von Gerda Raidt); im Erwachsenenprogramm des Verlages Die dunkle Seite der Liebe (Roman, 2004), Das Geheimnis des Kalligraphen (Roman, 2008), Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte (2011), Sophia oder Der Anfang aller Geschichten (Roman, 2015), Die geheime Mission des Kardinals (Roman, 2019) und Mein Sternzeichen ist der Regenbogen (2021).

Mein Sternzeichen ist der Regenbogen


Von der Schwierigkeit, ein Geburtsdatum herauszufinden

Es war Antoinette, meine erste Freundin, die mir zum ersten Mal die Frage stellte: »Wann bist du geboren?«

Ich war vierzehn Jahre alt, Antoinette sechzehn — und für mich eine einzige Verführung. Sie war mir mindestens ein Jahrzehnt voraus, aber wir liebten uns leidenschaftlich. Natürlich heimlich. Ihr Bruder Gibran, ein Arabisch sprechender Gorilla, hätte sonst aus mir einen um Gnade bettelnden Knetgummi gemacht. Ich versicherte ihr immer wieder, dass ich nicht nur bereit war, mich von ihrem Bruder walken, sondern auch kreuzigen zu lassen. Das hat ihr sehr imponiert.

In unserer christlichen Gasse war der freie Umgang zwischen Mädchen und Jungen erlaubt, aber sexuelle Regungen waren verboten, und erotische Gedanken wurden in eisernen Käfigen gefangen gehalten. Trotzdem war beides an der Tagesordnung. Man riskierte entweder die Befriedigung seiner Leidenschaften an einem verborgenen Ort, oder man vereinsamte mit seinen Wünschen und Fantasien. Mit Antoinette, der ich mich bereits mit zehn anvertraute, hatte ich Glück. Sie brachte mir alles bei, was sie bei ihren Eltern abgeguckt hatte. Oft führte ich nur wie benommen aus, was sie mir zeigte, aber ihr Geruch regte mich ungeheuer an, mehr als alle Schönheiten der Filmindustrie. Diesen Geruch gab es nur einmal auf der Welt, und er gehörte zu Antoinette. Eine Mischung aus Pistazien, Jasmin und frischem, knusprigem Brot. Unbeschreiblich.

Unsere Eltern waren nicht nur Nachbarn, sondern auch eng befreundet, und so erregte es keinen Verdacht, wenn ich bei Antoinette oder sie bei mir auftauchte. Und Verstecke gab es in beiden Häusern genug.

Ihr Bruder Gibran traute mir nicht zu, diese aufblühende Schönheit auch nur wahrzunehmen. »Ihr seid wie Geschwister, nicht wahr?«, fragte er bei jeder zweiten Begegnung und klopfte mir so fest auf den Rücken, dass meine Lungen am liebsten den Brustkorb verlassen hätten.

»Ja, klar«, hustete ich ängstlich und widerwillig.

Zurück aber zu Antoinettes Frage. Ich wusste schon, wie alt ich war, aber niemand, weder ich noch irgendjemand in meiner Familie oder im Freundeskreis, wusste von sich selbst, wann genau er oder sie geboren war. Der Geburtstag spielte in meiner Stadt Damaskus damals keine Rolle. Antoinette dagegen kannte zu den Geburtstagen ihrer Familienangehörigen auch noch die Sternzeichen, wie sie mir eines Tages erzählte.

Ich besaß keinen Ausweis, also eilte ich an jenem Tag nach Hause und schaute in das Familienbuch, das meine Eltern im Schrank aufbewahrten. Dort stand: 23.6.1946.

»Das hätte ich mir denken können«, sagte Antoinette bedeutungsvoll, »du bist typisch Krebs, und doch hast du einige andere Eigenschaften, die mit deinem Sternzeichen nicht harmonieren.«

Davon verstand sie etwas, die schöne Antoinette. Sie war die Tochter der besten Schneiderin im christlichen Viertel. Frauen aus allen Schichten trafen sich dort, und Antoinette hörte mehr Dramen, als das Nationaltheater aufführen konnte. Sie erfuhr durch die Kundinnen sehr viel über das Leben und seine Tücken. Bei ihrer Mutter lagen auch alle Mode-, Klatsch- und Familienzeitschriften aus. Antoinette studierte sie Woche für Woche und konnte besser als das Radio stundenlang von den Skandalen und Liebesaffären erzählen, doch fasziniert haben sie vor allem die Sternzeichen. Ich hatte keine blasse Ahnung davon.

Krebse mochte ich nicht. Nichts an diesen Tieren war mir sympathisch, und noch dazu hieß die Krankheit, die man bis dahin jene Krankheit genannt hatte, nun Krebs.

»Was heißt ›typisch Krebs‹?«, fragte ich also.

»Harte Schale, weicher Kern, gefühlvoll, aber schüchtern. Du hast etwas Kindliches. Fühlst du dich bedroht, so ziehst du dich zurück. Nicht von ungefähr geht der konfliktscheue Krebs seitlich, so wie du, wenn mein Bruder Gibran vor dir auftaucht. Aber wenn es darauf ankommt, ist der Krebs sehr wehrhaft. Du bist bereit, dich meinetwegen kreuzigen zu lassen. Und wenn man deine Hilfe braucht, bist du ein großartiger Beschützer. Deshalb mag ich dich sehr. Dein Planet ist der Mond, und so wie er wechselt, verändert sich deine Laune dauernd, und immer von jetzt auf gleich. Manchmal bist du so gesellig und trotzdem ausgeglichen, als wolltest du die Welt umarmen, um dich kurz darauf nervös in dein Kämmerlein zurückzuziehen. Du machst dir Sorgen um die Welt und bist immer skeptisch, und an jeder Sache siehst du zuerst den Haken. Aber inzwischen stört mich das nicht mehr. Du bist dafür ein wunderbarer Zuhörer, und treuer als du ist niemand in unserem Viertel, auch deshalb mag ich dich. Du bist auch eifersüchtig, obwohl du bei mir keinen Grund dazu hast. Aber dafür kannst du nichts. Das ist typisch Krebs!«

Ich atmete insgeheim auf, weil das Positive überwog, doch nach einer kurzen Pause sagte Antoinette: »Was mich aber irritiert, sind andere Eigenschaften von dir, die nicht zum Krebs passen: deine Herrschsucht und dein Hass gegen Verräter sind typisch für einen Skorpion, deine scharfe Zunge und deine Sturheit hat sonst nur ein Widder, dein Charme und deine Großzügigkeit, aber auch dein plötzlicher Mut sind typisch Löwe, deine Exzentrik ist typisch für einen Wassermann. Wer läuft in Damaskus außer dir in schwarzen Kleidern herum? Meine Mutter findet dich geschmacklos, aber mutig. Sie hat recht. Deine Arroganz und dein Sarkasmus sind typisch Schütze. Mein Sternzeichen ist die Jungfrau, und wir hätten super zueinandergepasst, wenn du ein normaler Krebs wärst, aber irgendetwas stimmt mit deinem Sternzeichen nicht.«

Sie küsste mich und eilte nach Hause. Die ganze Nacht konnte ich nicht schlafen. Was war falsch mit meinem Sternzeichen oder meinem Geburtstag?

Am nächsten Tag fragte ich meine Mutter, ob mein eingetragenes Geburtsdatum wirklich stimmte.

»Ach woher!«, sagte sie und lachte. »Du bist Mitte März geboren, da standen die Aprikosen in voller Blüte. Das weiß ich, als wäre es gestern gewesen. An dem Tag nämlich besuchte mich meine Freundin Warde. Sie wollte sich bei mir über ihr bitteres Schicksal mit ihrem Mann ausweinen, der sie dauernd betrog, und da kamst du zur Welt, und sie vergaß ihren Kummer und half der Hebamme Sofia. Und dabei erzählte sie der weisen Frau flüsternd von der Untreue ihres Mannes, und diese gab ihr eine geheime Rezeptur, die jeden Mann gefügig macht, und von dem Augenblick an war ihr Mann nicht nur treu, sondern auch so brav, dass Warde manchmal Mitleid mit ihm hatte. Dennoch sagte sie bis zu ihrem Tod im letzten Jahr immer wieder, dass mit deiner Geburt das Glück zu ihr zurückgekehrt sei. Erinnerst du dich daran, wie gerne sie dich geküsst und innig gedrückt hat?«

Ich erinnerte mich nur an die feuchten Lippen der Frau und dass sie mich immer fast erdrückt hatte. »Also ist mein Sternzeichen Fische. Aber warum steht im Familienbuch dann das Datum 23.6.1946

»Das ist eine lange Geschichte, und dein Vater kann sie besser erzählen, weil er daran beteiligt war. Ich könnte mich totlachen, wenn ich daran denke, wie dieses Datum zustande kam.« Und sie fing zu lachen an.

Ich weiß es noch wie heute. Ich ging zu meinem Vater. Er spielte im Café Backgammon. Ich wartete still bis zum Ende des letzten Spiels. Er hatte gewonnen und strahlte vor Glück. »Bevor du gekommen bist, hatte ich schlechte Würfe, aber dann …« Er stockte, weil ich ihn bis dahin noch nie im Café aufgesucht hatte. »Ist was passiert?«, fragte er.

»Nichts Besonderes, aber ich will wissen, wann ich geboren wurde und wie das offizielle Datum zustande kam. Mutter sagt, das sei lustig gewesen.«

»Im Rückblick erscheint so manches lustig. Aber wie dem auch sei, du bist Mitte April geboren. Die Aprikosen waren bereits reif. Es waren schwere Zeiten. Eine Woche lang hatte es immer wieder Schießereien zwischen den syrischen Nationalisten und den französischen Truppen gegeben. Zwei Tage nach deiner Geburt, am 15. April 1946, sollte Syrien unabhängig werden, aber die französischen Kolonialisten wollten Damaskus nicht verlassen. Erneut kam es zu Kämpfen. Ich stand an jenem Tag in meiner Bäckerei und hörte besorgt die Schüsse, als unser Nachbar Musa angerannt kam, um mir die gute Botschaft zu überbringen. Er teilte mir mit, dass du gesund zur Welt gekommen warst und dass auch deine Mutter wohlauf war. Allerdings war sein Gesicht leichenblass, und er fuhr fort und erzählte, dass ein Muslim ihn gepackt und ihm ins Gesicht geschrien habe: ›Wir werden euch Ungläubige verbrennen, sobald die französischen Kreuzzügler das Land verlassen haben.‹ ...

Erscheint lt. Verlag 26.7.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Beobachtung • Emigranten • Ernst • Exil • Gedanken • Geschichten • Heimat • Humor • Lachen • Lebenslügen • Liebe • #ohnefolie • ohnefolie • Sehnsucht • Überraschung
ISBN-10 3-446-27160-0 / 3446271600
ISBN-13 978-3-446-27160-9 / 9783446271609
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