Professor Zamorra 1222 (eBook)
Bastei Lübbe (Verlag)
978-3-7517-1476-1 (ISBN)
Die Häuser und Straßen der alten Hafenstadt waren in ein unwirkliches Licht gehüllt. Alles wirkte verlassen und leer, so als würde hier schon seit Jahren oder Jahrzehnten niemand mehr wohnen.
Von weither erklangen plötzlich klagende Laute. Als ob ein ganzer Chor seine Trauer und sein Leid hinausschrie.
'Hörst du das auch, chéri?'
Zamorra nickte. 'Ich habe selten etwas Schaurigeres vernommen ...'
Die Stadt
der Untoten
von Veronique Wille
»Und hier drehte Friedrich Wilhelm Murnau seine berühmte Eingangssequenz zu Nosferatu. Leider steht nur noch der Kirchturm, die Hallenbasilika wurde bedauerlicherweise nach dem Krieg gesprengt ...«
Maren hörte kaum noch zu. Die Worte rauschten an ihr vorbei. Sie schaute dennoch hinauf, wobei sie ein leichtes Schwindelgefühl erfasste. Der Kirchturm wirkte weit höher als die achtzig Meter, von denen Jörn doziert hatte. Er schien regelrecht mit dem Himmel, dessen düstere Regenwolken den Tag erdrückten, zu verschmelzen.
Der wuchtige Turm schwankte vor ihren Augen, ihr wurde schwindelig ...
Rasch wollte sie den Blick abwenden. Da sah sie die unheimliche Gestalt an einem der spitzbogigen Fenster auftauchen.
Sie schaute direkt auf sie herunter und schien sie mit stechendem Blick geradezu erdolchen zu wollen.
Unwillkürlich schrie Maren auf. Im nächsten Moment spürte sie Gernots Arm, der ihre Hüfte umfasste und sie festhielt.
»Schatz, was ist los? Ist dir nicht gut?«
Seine besorgte Stimme drang nur entfernt an ihr Ohr. Sie zitterte leicht. Die Beine drohten unter ihr nachzugeben. Er drückte sie nun an sich. Hätte er es nicht getan, wäre sie womöglich zu Boden gesackt. Seine Nähe gab ihr Sicherheit. Rasch fing sie sich wieder. Der Schwächeanfall war genauso schnell vorüber, wie er gekommen war.
»Da ... war ein Mann. Eine unheimliche Gestalt. Die Augen ...«
Sie merkte selbst, wie unsinnig sich ihr Gestammel für die anderen anhören musste.
»Wo hast du den Mann gesehen?«, fragte Gernot. Nach wie vor klang er sehr besorgt. Vielleicht aber auch, weil er genau wusste, wie sie tickte.
Sie, die nach außen so toughe PR-Chefin eines Pharmaunternehmens sah – Gespenster. Ja, anders konnte man es wohl nicht nennen. Es kam nicht oft vor, dass sie eine »Vision«, wie Gernot es nannte, hatte, aber wenn, dann waren diese Erscheinungen zumeist sehr verstörend und furchterregend und kamen zumindest ihr sehr real vor. Experten würden ihr attestieren, über ein zweites Gesicht zu verfügen, denn manche dieser Phantome erwiesen sich als düstere Prophezeiungen, die sich leider erfüllten.
Sie straffte sich und versuchte, mit einem Lächeln die Situation zu überspielen. Jörn und seine Partnerin Annerose wirkten irritiert. Sicherlich hatten beide nicht erwartet, dass sie so plötzlich reagiert hatte. Aber wer erwartete so etwas schon? Jedenfalls hatte sie sich bisher den zweien nicht gerade sympathisch gezeigt, sondern sie mit einer gewissen Arroganz bestraft.
Bestraft deswegen, weil sie so gar keine Lust auf diesen Abstecher in das beschauliche Wismar gehabt hatte. Und Jörns besserwisserisches Geschwafel über Friedrich Wilhelm Murnaus angebliches Meisterwerk Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens war ihr einfach nur auf den Wecker gegangen, und sie hatte das auch gezeigt. Sie konnte sich gut vorstellen, dass ihr Schwächeanfall bei Jörn und Annerose eine gewisse Schadenfreude ausgelöst hatte.
Trotzdem, da musste sie jetzt durch. »Dort oben am Fenster«, antwortete sie und wies hinauf. »Ich habe mich nur erschrocken, weil ich nicht damit gerechnet hatte, dort jemanden zu erblicken.« Sie verschwieg, dass sie in erster Linie die Erscheinung des Mannes geschockt hatte.
Er war, soweit sie das hatte erkennen können, in einen schwarzen Umhang gekleidet gewesen, aus dem der kahle Schädel mit dem kalkweißen Gesicht herausgeragt hatte. Und dann der Blick ... Sie hätte schwören können – trotz der Entfernung –, dass die Augen rötlich gefunkelt hatten – wie bei einer Ratte.
»Ich sehe da niemanden«, hörte sie Jörn sagen.
Sie wollte schon zu einer harschen Erwiderung ansetzten, erkannte dann aber selbst, dass hinter dem Fenster niemand mehr stand.
»Bist du dir wirklich sicher?«, fragte nun auch Gernot zweifelnd. Er hielt sie noch immer umfasst.
Abrupt löste sie sich aus seinem Griff und erwiderte: »Natürlich bin ich mir sicher! Glaubst du, ich spinne?«
Kaum war ihr der Satz über die Lippen gerutscht, als sie ihn auch schon bereute. Natürlich waren ihre »Visionen« in seinen Augen Spinnereien. Mussten es ja sein, denn wie sollte er es auch begreifen, wenn er von solchen Dingen verschont blieb? Immerhin rechnete sie ihm hoch an, dass er im Allgemeinen sehr verständnisvoll war, wenn – was nicht sehr häufig vorkam – sie ihm erzählte, dass sie wieder von einer Vision heimgesucht worden war.
»War es wirklich das Fenster dort oben?« Jörn zeigte hinauf.
Maren nickte nur. Eigentlich hatte sie keine Lust mehr, das Thema weiter auszuwalzen, aber sie erkannte an Jörns nachdenklichem Gesichtsausdruck, dass er sie gleich wieder mit irgendwelchen Fakten nerven würde.
Tatsächlich hob er dozierend den Zeigefinger und sagte: »Man nennt das Zimmer auch das Murnau-Fenster.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause.
»Und wieso?« Maren stellte die Frage nicht, weil die Antwort sie interessierte, sondern um von ihrem Schwächeanfall abzulenken.
Der kein solcher war, das weißt du genau, Maren. Dein zweites Gesicht hat dir da wieder etwas gezeigt, was du eigentlich gar nicht sehen wolltest.
»Tja, wieso, eine berechtigte Frage ...«
Maren verdrehte im Geiste die Augen. Wie war Gernot nur auf die bescheuerte Idee gekommen, mit diesem Wichtigtuer und seiner langweiligen Frau, die im Gegensatz zu ihm kaum ein Wort rausbrachte, zwei wertvolle Urlaubstage in Wismar zu vergeuden?
»Von dem Fenster aus hat Murnau von oben herab die bekannten Szenen gedreht, in denen Thomas Hutter über den Innenhof der Heiligen-Geist-Kirche marschiert. Immerhin vierhundert Meter Luftlinie entfernt.«
Wer dieser Thomas Hutter war, wusste Maren inzwischen. Wie ihr auch die anderen Hauptdarsteller des ollen Schinkens inzwischen geläufig waren. Schließlich hatte Jörn sie oft genug erwähnt.
»Interessant!«, sagte Gernot. »Führst du uns gleich noch dorthin?«
»Worauf ihr einen lassen könnt!« Jörn schmunzelte geschmeichelt.
Maren berührte Gernot leicht am Arm und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Leider verstand er die Geste nicht. Oder wollte sie nicht verstehen, sodass Maren nur noch ein anderer Ausweg einfiel: »Ehrlich gesagt, mir tun allmählich die Füße weh. Können wir nicht in unser Hotel zurück?«
»Ach was, jetzt wird's doch erst interessant!«, widersprach Jörn, der ihr in ihren Augen nun gar nichts vorzuschreiben hatte.
Maren warf ihm einen bitterbösen Blick zu. Ihr lag bereits eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, als ihr ausgerechnet Annerose zur Seite sprang.
»Wisst ihr was? Maren und ich warten auf euch in dem kleinen Murnau-Café, an dem wir vorhin vorbeigekommen sind. Und ihr schaut euch weiter um. Außerdem ist morgen auch noch ein Tag ...«
Maren sah Jörn an, dass er wenig begeistert von Anneroses Einmischung war, aber bevor er Einspruch erheben konnte, zeigte sich Gernot mit dem Vorschlag einverstanden. »Genau, gönnen wir unseren zwei Prinzessinnen eine Verschnaufpause. Und nachher treffen wir uns im Café.«
Widerstrebend zog Jörn mit Gernot von dannen, und Maren war froh, Ersteren endlich los zu sein. Zumindest für eine Weile.
Das Murnau-Café befand sich nur ein paar Ecken weiter. Eigentlich hatte Maren die Nase voll von allem, was mit Murnau zusammenhing, aber es sah von außen wirklich einladend aus. Auch als sie es betraten, entpuppte es sich keineswegs als Weihestätte für Aficionados wie Jörn, sondern es war im Caféhaus-Stil der Zwanzigerjahre eingerichtet, und der namensgebende Regisseur war nur auf einem großen Schwarzweiß-Foto an der Wand vertreten.
Maren war dankbar dafür, dass das Café nicht noch mit Szenenfotos aus Nosferatu dekoriert war. Der Schreck saß ihr noch immer in den Gliedern, und wenn sie es recht bedachte, hatte die Erscheinung, die sie so sehr aus der Fassung gebracht hatte, tatsächlich jener Vampirgestalt aus dem Film geähnelt.
Sie hatte ihn sich nie angeschaut, die Figur war ihr aber bekannt. Genau wie Boris Karloff als Frankenstein oder Christopher Lee als Dracula, so galt auch Max Schreck in der Rolle des Nosferatu längst als Ikone der Popkultur. Wenngleich, das musste man eingestehen, Letzterer – wahrscheinlich aufgrund seiner frühen Entstehung – im Schatten des berühmten Engländers stand. Ihr war es egal, sie hasste Horrorfilme!
Sie wählten einen Tisch am Fenster, von dem aus man einen Blick auf die kopfsteingepflasterte Gasse hatte. Das Café war nicht gut besucht. Nur drei andere Tische waren besetzt. Wahrscheinlich lag es zu versteckt, als dass viele hierherfanden. Vielleicht war es aber auch das graue, nieselige Nordseewetter, das an diesem Tag nicht allzu viele Touristen nach Wismar lockte.
Hinter der Kuchentheke kam ein junges Mädchen im Grufti-Look hervor und fragte kaugummikauend nach ihren Wünschen, bevor es wieder verschwand.
Eine Weile schwiegen sich die beiden Frauen an. Viel zu sagen...
Erscheint lt. Verlag | 30.3.2021 |
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Reihe/Serie | Professor Zamorra |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Horror |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 2017 • 2018 • Abenteuer • Bastei • Bestseller • Dämon • Dämonenjäger • Deutsch • eBook • eBooks • Extrem • Frauen • Geisterjäger • grusel-geschichten • Grusel-Krimi • Grusel-Roman • Horror • Horror-Roman • Horror-Thriller • john Sinclair • Julia-meyer • Kindle • Krimi • Kurzgeschichten • Lovecraft • Männer • Neuerscheinung • Neuerscheinungen • Paranomal • Professor Zamorra • Psycho • Roman-Heft • Serie • Slasher • spannend • Splatter • Stephen-King • Terror • Thriller • Tony Ballard • Top • Walking Dead |
ISBN-10 | 3-7517-1476-6 / 3751714766 |
ISBN-13 | 978-3-7517-1476-1 / 9783751714761 |
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