Von sanfter Hand (eBook)

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
284 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1925-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Von sanfter Hand - Reinhard Rohn
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Lisa Martin ist das schwarze Schaf einer ansonsten überaus angesehenen Münchner Familie. So hat sie sich mit ihren dreißig Jahren in einigen Berufen versucht, ohne jemals wirklich Fuß zu fassen. Nun verdient sie ihren Unterhalt auf höchst ungewöhnliche Weise: Sie reist quer durch Deutschland von Hotel zu Hotel und lässt sich von wohlhabenden Männern mit aufs Zimmer nehmen. Dort betäubt Lisa sie und raubt sie aus - allerdings ohne ihnen ein Haar zu krümmen. Eines Tages muss sie jedoch eine schockierende Entdeckung machen: Sie liest in der Zeitung von zwei Mordfällen, die in Kölner Hotels verübt wurden, und es ist schnell klar, dass die Opfer ihre letzten beiden Wohltäter sind. Das Täterprofil ist genau auf sie zugeschnitten, und Lisa weiß, dass sie von einer Sekunde zur nächsten in höchste Gefahr geraten ist. Aber wer ist so genau über sie informiert, und vor allem - wer hasst sie so sehr, dass er ihr zwei Morde anhängen will? Als Lisa spürt, dass sie immer mehr ins Visier des Unbekannten gerät, beschließt sie, die Rollen zu tauschen - und selbst zur Jägerin zu werden ...

Reinhard Rohn wurde 1959 in Osnabrück geboren und ist Schriftsteller, Übersetzer, Lektor und Verlagsleiter. Seit 1999 ist er auch schriftstellerisch tätig und veröffentlichte seinen Debütroman 'Rote Frauen', der ebenfalls bei Aufbau Digital erhältlich ist.

Die Liebe zu seiner Heimatstadt Köln inspirierte ihn zur seiner spannenden Kriminalroman-Reihe über 'Matthias Brasch'. Reinhard Rohn lebt in Berlin und Köln und geht in seiner Freizeit gerne mit seinen beiden Hunden am Rhein spazieren.

 

1


Ich rieche die Einsamkeit der Männer. Manche Frauen haben andere Fähigkeiten; sie können in den Karten das Schicksal ihrer Mitmenschen lesen; sie entwickeln einen sechsten Sinn, wenn es um ihre Kinder geht, oder sie müssen ihrem Gegenüber nur in die Augen schauen, um zu erkennen, welche geheimen Krankheiten in ihm wüten. Ich aber weiß immer genau, wann ich es mit einem Mann zu tun habe, der all seine Hoffnung verloren hat und auf ein Abenteuer wartet, darauf, dass etwas mit ihm geschieht. Ich beschere ihm dieses Abenteuer; es kostet mich kaum mehr als ein kaltes Lächeln.

Man findet diese Verlorenen überall. In jedem Café, in jeder Bar sitzen sie, und überall auf der Welt verhalten sie sich gleich. Die meisten Männer sind langweilig. Sie rauchen, sie telefonieren, blättern in Zeitungen und dabei suchen sie mit unruhigen Augen ihre Umgebung ab; wie ängstliche, argwöhnische Tiere. Am liebsten sind mir die Angeber, die sich hinter teuren Sonnenbrillen verstecken, die miesen Großtuer, die einem gleich die Welt erklären wollen. Sie geben die besten Opfer ab. Für sie muss ich mir keine Mühe geben. Ein Hauch von Tarnung genügt: eine Perücke vielleicht, ein aufdringlicher Lippenstift, ein falscher Vorname. Trotz ihrer heimlichen Angst sind solche Männer niemals misstrauisch. Die Fähigkeit, eine wirkliche Gefahr zu wittern, ist ihnen längst abhanden gekommen.

Wenn ich einen einsamen Mann aufgespürt habe, ist meine wichtigste Arbeit eigentlich schon getan. Ich muss nur noch ein wenig Geduld aufbringen und abwarten. Manche Männer brauchen sehr lange, bis sie den Mut finden, sich heranzuschleichen und mich anzusprechen. Bei anderen dauert es keine fünf Minuten. Ich habe mir angewöhnt, es diesen Männern niemals leicht zu machen, nicht, weil ich fürchten würde, damit ihren Verdacht zu erregen. Ich locke sie nicht, ich möchte sehen, wie sie mir in die Falle laufen. Also betreibe ich keine albernen Spielchen; ich sitze niemals mit einer nicht angezündeten Zigarette da, suche niemals viel zu offensichtlich nach einem Taschentuch, und niemals bin ich es, die einen Mann anspricht. Sie sollen das Gefühl haben, ich sei ihr Opfer. Bis zu dem Augenblick, wenn ich sie mit sanfter Hand verzaubere, wenn ich mein schwarzes Tuch über sie lege und sie zu kleinen, unschuldigen Kindern werden, die im Schlaf reden, weil sie Angst vor Albträumen haben.

Ich habe in meinem Leben nie etwas zu Ende gebracht. Ich bin eine Meisterin der Anfänge. Keine Schule habe ich länger als ein Jahr besucht. In dem einzigen Internat, auf das meine Eltern mich in ihrer Verzweiflung steckten, habe ich es sogar nur wenige Wochen ausgehalten. Dann verfiel ich in ein Schweigen, das ich seit meiner Kindheit beherrsche und das meinen Mitschülern Angst einjagte. In gewissen Situationen bin ich nichts als Stille. Die Stille regiert mich. Ich atme Stille, ich rede nicht mehr, verstehe auch nicht. Die Sprache der anderen wird zu einem Farbenspiel. Die Worte fallen ihnen wie bunte Steine aus dem Mund. Manche Worte sind rot, wie ein Leuchtsignal in der Nacht, andere sind gelb und tun mir in den Augen weh; wieder andere sehen aus wie grauer, nasser Zement, oder sie sind schwarz, als wären sie aus Kohle. Am liebsten sind mir die silbernen Worte; sie bedeuten Wahrheit und tiefe Gedanken, doch silberne Worte sind selten. Man findet sie fast nie; das ist, als würde man auf das Meer hinausfahren und darauf warten, dass ein Delphin aus dem Wasser springt und das Licht sich auf ihm spiegelt.

Täglich mit meinem Schweigen konfrontiert, bekam es auch der Internatsleiter nach ein paar Wochen mit der Angst zu tun. Meine Stille erschien ihm wie eine Krankheit, wie Bulimie oder eine sanfte Dysphorie, und er bat meine Eltern, mich von der Schule zu nehmen. Ich lernte das Sprechen wieder; es machte mir nichts aus, eine Zeit lang auf meine Stille zu verzichten und keine bunten Worte mehr zu sehen.

Auch an der Universität blieb ich nicht länger als sechs Wochen. Zum Ärger meiner Eltern hatte ich mich entschieden, Archäologie zu studieren. Steine sind das Gegenteil von Wasser. Steine sind heiß und schwer und haben ein unendliches Gedächtnis. Kein Zeichen, das in einen Stein gehauen wurde, geht jemals ganz verloren. Ich freute mich darauf, Steine zu lesen und in den Ferien berühmte Ausgrabungsstätten zu besuchen. Leider kam alles ganz anders.

Nach sechs Wochen lud der Dozent mich zu sich ein. Doktor Schmitter war ein kleiner, schüchtern wirkender Mann, der nie anders als mit weißem Hemd und Fliege aus dunklem, rotem Samt auftrat. Seine Augen sahen unwirklich aus, so als wären sie aus blauem, gebrochenem Glas. Schmitter führte mir ein orientalisches Tee-Ritual vor, während er von Winkelmann und Schliemann, den Heroen der Archäologie, redete. Der Tee schmeckte ungewöhnlich, beinahe wie eine süße, zuckrige Droge. Dann zeigte Schmitter mir sein Haus, ein ehrwürdiges, weitläufiges Gebäude, das er offenbar von seinen Eltern geerbt hatte und das aussah, als könnten hinter jeder Tür livrierte Diener oder Kammerzofen lauern. Ich wusste längst, worauf diese kleine Aufführung hinauslief. Doch ich wollte damals noch keine Spielverderberin sein.

Im Keller des Hauses hatte Schmitter ein Schwimmbecken einbauen lassen. Im verblassenden Licht der Dämmerung sah das Wasser, das von vier Scheinwerfern im Becken erhellt wurde, unwirklich blau aus, wie ein Stück Himmel, das jemand eingefangen und auf die Erde herabgeholt hatte. Schmitter lächelte, seine Glasaugen funkelten selbstsicher; er hatte seinen Pool schon häufiger mit beachtlichem Erfolg jungen, unbedarften Studentinnen vorgeführt.

Als er wortlos, aber mit großer Geste seine Samtfliege ablegte, wusste ich, dass unser harmloses Rendezvous nicht ohne Komplikationen enden würde. Ich hasse Wasser; wenn ich Wasser nur rieche, werde ich nervös und gereizt. Außerdem kann ich nicht schwimmen, und ich werde es auch niemals lernen.

Mit einem Lächeln schritt Schmitter mir entgegen. »Gegen ein kleines Bad wäre doch wohl nichts einzuwenden«, sagte er mit sanfter Stimme. Seine Glasaugen tasteten mein Gesicht ab, suchten nach Zeichen von Zustimmung.

Ich schüttelte stumm den Kopf. Ich wusste, dass ich am besten den sofortigen Rückzug antrat, wenn es keinen Ärger geben sollte, doch im nächsten Moment kam Schmitter schon den letzten Schritt auf mich zu. Ich hätte nicht die rechte Hand heben und ihm meine Faust ins Gesicht schlagen müssen, aber da war es schon zu spät. Ich sah, wie Schmitter überrascht zurücktaumelte, wie er seine Hand ungläubig auf seine blutende Nase legte und dann langsam und ungelenk in sein wunderbares, blaues Schwimmbecken rutschte. Meine Karriere als Archäologin war beendet.

Allerdings haben mir all meine Anfänge später geholfen, mich in meinen verschiedenen Rollen zurechtzufinden. Nach dem Debakel an der Universität verkaufte ich vier Wochen lang finnisches Knäckebrot in einem Supermarkt, dann durfte ich einer alten, erblindeten Schauspielerin vorlesen und ihre drei Hunde ausführen. In einem langen, heißen Sommer war ich Erdbeerpflückerin und arbeitete in einer Marmeladenfabrik. Danach saß ich in einem kleinen Theater an der Kasse und spielte in einem Stück von Ibsen ein Dienstmädchen, das zwei Sätze aufzusagen hatte. Fast fühlte ich mich schon zur Schauspielerin berufen, bis ich so pleite war, dass ich mir zumindest vorübergehend einen anderen Job suchen musste. Ich wurde Pharma-Referentin, eine gut bezahlte, einfache Tätigkeit. Ich bekam einen teuren Wagen und musste in Arztpraxen neuartige Pillen anbieten. Pillen für eine geregelte Verdauung, Pillen gegen Falten und gegen den ungezähmten Hunger, Pillen, die jedem sofort den Kopfschmerz nahmen oder ihn in einen sanften, freundlichen Schlaf wiegten. Doch schon nach zwei schwierigen Wochen, in denen ich mit meinen Pillen kaum Erfolg gehabt hatte, begegnete ich Georg.

Georg machte den Anfang. Er war mein Lehrmeister, ohne es zu ahnen, und mein Vater sah mir dabei zu, wie ich eine ganz neue Karriere begann.

Ich hatte mich verfahren und war in Erlangen gestrandet, in einem vollkommen altmodischen Hotel, das an einer lauten, vierspurigen Straße lag. Ich mag Hotels, genauso wie ich Bahnhöfe und Flughäfen liebe. Reisen ist für mich manchmal die einzige Möglichkeit, am Leben zu bleiben.

Georg hockte in der Bar, einem winzigen, düsteren Raum, der hinter der Rezeption des Hotels lag. Er war der einzige Gast. Ein junges Mädchen in der Kluft eines Serviermädchens hatte sich hinter den Tresen zurückgezogen und beobachtete ihn argwöhnisch. Georg sah aus wie einer dieser tumben Männer, die unbesiegbar wirkten, in Wahrheit aber ständig auf der Flucht waren. Er roch nach einem Haufen Schulden, einer Frau, die längst nicht mehr auf ihn wartete, und nach zwei kleinen Kindern, deren Wesen er überhaupt nicht verstand. Sein Anzug war von einer langen Autofahrt zerknittert, und seine Krawatte mit einem abscheulichen gelben Blumenmotiv hing auf Halbmast. Erst als ich auf seine Hände blickte, gefiel er mir besser. Seine Hände waren schlank und fast weiß, so als wären sie aus Wachs. Keine Spur von Nikotin war an ihnen zu entdecken. Die Nägel waren perfekt gerundet und ordentlich geschnitten.

Ich habe mich stets geweigert, irgendeine der Weisheiten anzunehmen, die mein Vater ständig verbreitete, so wie andere Leute penetrant gute Laune verströmten, aber zwei Dinge hat er mich doch gelehrt. Man sollte auf die Stimme eines Menschen aufpassen. Manche haben eine Stimme, vor der man sich hüten muss. Sie hüllen einen mit ihrer Stimme ein, wie eine Spinne, die ihr Netz spinnt, und verführen einen zu Träumen, die man sich niemals...

Erscheint lt. Verlag 4.5.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Andreas Franz • Callgirl • Charlotte Link • Frankfurt am Main • Frauen als Täter • Gefahr • Köln • Köln Thriller • Mord • München • Norbert Löffler • Raub • Rotlichtmilieu • Salim Güler
ISBN-10 3-8412-1925-X / 384121925X
ISBN-13 978-3-8412-1925-1 / 9783841219251
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