Die zweite Schwester -  Chan Ho-Kei

Die zweite Schwester (eBook)

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
600 Seiten
Atrium Verlag AG Zürich
978-3-03792-173-9 (ISBN)
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Siu-Man, ein Hongkonger Schulmädchen, begeht Selbstmord, indem sie sich aus einem Fenster im zwanzigsten Stockwerk stürzt. Aufgezogen wurde sie von Nga-Yee, ihrer älteren Schwester. Diese ist der festen Überzeugung, dass es irgendein falsches Spiel gegeben haben muss. Siu-Man wurde einige Zeit vor ihrem Tod Opfer eines sexuellen Übergriff s in der U-Bahn und in der Folge auf einer Online-Klatschplattform von einer anonymen Person verleumdet. Nga-Yee setzt alles daran, herauszufinden, wer es war - und wer die Schuld an Siu-Mans Tod trägt. Sie nimmt Kontakt zu einem Hacker auf, der nur als N bekannt ist. Doch der exzentrische Mann nimmt noch lange nicht jeden Auftrag an. Kann Nga-Yee ihn ausreichend für ihren Fall interessieren - und kann sie es sich leisten, wenn er Ja sagt?

Chan Ho-kei wurde 1975 in Hongkong geboren, wo er bis heute lebt. Er hat als Programmierer, Computerspiele-Entwickler und Manga-Lektor gearbeitet. Für seine Short Storys wurde er mit dem Mystery Writers of Taiwan Award ausgezeichnet, für seinen ersten Roman gewann er den wichtigsten chinesischen Krimipreis.

Chan Ho-kei wurde 1975 in Hongkong geboren, wo er bis heute lebt. Er hat als Programmierer, Computerspiele-Entwickler und Manga-Lektor gearbeitet. Für seine Short Storys wurde er mit dem Mystery Writers of Taiwan Award ausgezeichnet, für seinen ersten Roman gewann er den wichtigsten chinesischen Krimipreis.

1


»Ihre Schwester hat sich das Leben genommen.«

Als Nga-Yee in der Leichenhalle aus dem Mund des Polizisten diese Worte vernahm, rief sie, fast lallend vor Schock: »Das kann nicht sein! Sie müssen sich irren, so was würde Siu-Man niemals tun!« Sergeant Ching, ein schlanker Mann um die fünfzig mit einem ersten Hauch Grau an den Schläfen, sah selbst ein bisschen aus wie ein Verbrecher, doch etwas in seinem Blick sagte ihr, dass sie ihm vertrauen konnte. Trotz Nga-Yees hysterischem Ausbruch behielt er seinen ruhigen Tonfall bei, und das, was er mit seiner tiefen, sonoren Stimme sagte, brachte sie zum Schweigen.

»Miss Au, sind Sie wirklich sicher, dass Ihre Schwester sich nicht das Leben genommen hat?«

Auch wenn Nga-Yee es sich nicht eingestehen wollte, wusste sie nur zu gut, dass Siu-Man allen Grund gehabt hatte, sich den Tod zu wünschen. Der Druck, dem sie das letzte halbe Jahr lang hatte standhalten müssen, war mehr, als ein fünfzehnjähriges Mädchen je erleben sollte.

Aber wir sollten am Anfang beginnen, mit den vielen Unglücksjahren der Familie Au.

Nga-Yees Eltern kamen beide in den Sechzigerjahren zur Welt, als Immigranten der zweiten Generation. Als es 1946 in China zwischen den Nationalisten und den Kommunisten zum Krieg kam, bewegten sich große Flüchtlingsströme von Festlandchina in Richtung Hongkong. Schließlich gingen die Kommunisten als Sieger hervor, installierten ein neues Regime und schlugen jedwede Opposition nieder. Infolgedessen retteten sich noch mehr Flüchtlinge in den sicheren Hafen der britischen Kolonie. Nga-Yees Großeltern waren aus Guangzhou gekommen. Weil Hongkong billige Arbeitskräfte brauchte, wurde kaum jemand, der illegal in die Kronkolonie gelangt war, abgewiesen. Es gelang ihren Großeltern, Wurzeln zu schlagen, sie bekamen irgendwann Papiere und wurden Bürger Hongkongs. Trotzdem blieb ihr Leben weiter hart, sie schufteten von früh bis spät für einen Hungerlohn. Auch ihre Lebensumstände waren hart. Trotzdem: Hongkong erlebte wirtschaftlichen Aufschwung, und solange man bereit war, ein bisschen Leid auf sich zu nehmen, konnte man seine Situation durchaus verbessern. Manche ritten auf der Welle sogar bis hin zu echtem Erfolg.

Unglücklicherweise blieb Nga-Yees Großeltern diese Chance verwehrt.

Im Februar 1976 zerstörte ein Großbrand im Stadtteil Shau Kei Wan in der Aldrich Bay über tausend Holzhütten und machte mehr als dreitausend Menschen obdachlos. Nga-Yees Großeltern starben in diesem Inferno, nur ihr zwölfjähriger Sohn überlebte: Nga-Yees Vater Au Fai. Weil er in Hongkong sonst keinerlei Familie hatte, wurde er von einem Nachbarn aufgenommen, der bei dem Brand seine Frau verloren hatte. Dieser Nachbar hatte eine siebenjährige Tochter namens Chau Yee-Chin. Sie wurde später Nga-Yees Mutter.

Weil sie arm waren, bekamen Au Fai und Chau Yee-Chin nie die Chance auf eine richtige Schulbildung. Sie fingen beide weit vor ihrer Zeit an zu arbeiten, Au Fai als Lagerarbeiter, Yee-Chin als Kellnerin in einem Dim-Sum-Restaurant. Obwohl sie sich abrackern mussten, beklagten sie sich nie, und als sie sich ineinander verliebten, konnten sie sogar ein kleines Stückchen Glück für sich in Anspruch nehmen. Bald war von Hochzeit die Rede. Als Yee-Chins Vater 1989 krank wurde, heirateten sie schnell, um ihm vor seinem Tod wenigstens diesen Wunsch erfüllen zu können.

Ein paar Jahre lang sah es so aus, als wäre es den Aus gelungen, das Pech abzuschütteln.

Drei Jahre später bekamen Au Fai und Chau Yee-Chin eine Tochter. Yee-Chins Vater hatte damals in China eine gute Bildung genossen. Vor seinem Tod hatte er ihnen gesagt, sie sollten ihr Kind Chung-Long nennen, falls es ein Junge würde, und Nga-Yee, falls sie ein Mädchen bekämen – »Nga« wie Eleganz oder Schönheit und »Yee« wie Freude. Die kleine Familie zog in eine Mietwohnung nach To Kwa Wan, wo sie ein bescheidenes, aber zufriedenes Leben führten. Wenn Au Fai abends nach Hause kam, gaben ihm die lächelnden Gesichter seiner Frau und seiner Tochter das Gefühl, wunschlos glücklich zu sein. Yee-Chin war eine geschickte Hausfrau. Nga-Yee war wissbegierig und folgsam, und Au Fai hatte nur den einen Wunsch, etwas mehr Geld zu verdienen, um seiner Tochter eines Tages das Studium zu ermöglichen. Er wollte nicht, dass sie vorzeitig die Schule abbrechen musste, um zu arbeiten, wie er und seine Frau es hatten tun müssen. Inzwischen war eine akademische Ausbildung die Voraussetzung dafür, es in Hongkong zu etwas zu bringen. In den Siebziger- und Achtzigerjahren bekam man noch mühelos einen Job, solange man bereit war, hart zu arbeiten, doch die Zeiten hatten sich geändert.

Als Nga-Yee sechs wurde, war das Glück den Aus hold: Nach Jahren auf der Warteliste waren sie endlich an der Reihe und bekamen eine staatliche Wohnung zugeteilt.

Im überbevölkerten Hongkong war Baugrund knapp, und es gab bei Weitem nicht genug staatlich geförderten Wohnraum, um den Bedarf zu decken. 1998 bekam Au Fai die Nachricht, ihnen sei eine Wohnung im Wohnkomplex Lok Wah zugewiesen worden. Der Zeitpunkt hätte nicht besser sein können. Im Kielwasser der Finanzkrise war es in Au Fais Firma zu einschneidenden Restrukturierungsmaßnahmen gekommen, und er gehörte zu den Arbeitern, die gehen mussten. Sein Chef half ihm noch, anderswo unterzukommen, doch der Lohn war viel niedriger, und er hatte Mühe, das Schulgeld für Nga-Yees Grundschule aufzubringen. Der Brief von der Wohnungsbehörde war wie ein Geschenk des Himmels. Die neue Miete würde weniger als die Hälfte dessen betragen, was sie momentan bezahlten, und wenn sie sparsam lebten, würden sie in Zukunft sogar etwas Geld beiseitelegen können.

Zwei Jahre nach dem Umzug nach Wun Wah House wurde Chau Yee-Chin erneut schwanger. Au Fai war überglücklich, zum zweiten Mal Vater zu werden, und Nga-Yee war inzwischen alt genug, um zu begreifen, dass ihr als großer Schwester die Pflicht zufiel, hart zu arbeiten und ihren Eltern beim Schultern der Last zu helfen. Da sein Schwiegervater ihnen für jedes Geschlecht nur einen Namen hinterlassen hatte, steckte Au Fai hinsichtlich eines zweiten Mädchennamens in der Klemme. Er wandte sich mit der Bitte um Hilfe an ihren Nachbarn, einen ehemaligen Lehrer.

»Wie wäre es mit Siu-Man?«, schlug der alte Mann vor, als sie vor ihrem Hochhaus auf einer Bank saßen. »Siu wie ›klein‹ und Man wie ›bunte Wolken im Abendlicht‹.«

Au Fai folgte dem Finger des Mannes mit seinem Blick und sah, wie die untergehende Sonne den Wolkenhimmel in umwerfende Rosarottöne tauchte.

»Au Siu-Man … ein schöner Name. Vielen Dank für Ihre Hilfe, Mr Huang. Ich bin viel zu dumm, als dass mir so etwas Schönes von allein eingefallen wäre.«

Seit sie zu viert waren, wurde es in der Wohnung in Wun Wah House ein bisschen zu eng. Die Wohnungen in diesem Komplex waren lediglich für zwei bis drei Bewohner ausgelegt und besaßen keine Zwischenwände. Au Fai stellte einen Antrag auf eine größere Wohnung. Sie bekamen Angebote in Tai Po oder Yuen Long, doch als das Paar sich beriet, sagte Yee-Chin mit einem Lächeln zu ihrem Mann: »Wir haben uns an das Leben hier gewöhnt. Das ist alles so weit weg. Dein täglicher Weg zur Arbeit wäre ein Albtraum, und Nga-Yee müsste die Schule wechseln. Hier ist es vielleicht ein bisschen eng, aber weißt du noch, wie eng es damals in unserer Holzhütte war?«

So war Chau Yee-Chin, immer zufrieden mit dem, was sie hatte. Au Fai kratzte sich am Kopf und wusste dem nichts entgegenzusetzen, auch wenn er insgeheim weiter auf ein eigenes Zimmer für jede seiner Töchter hoffte, wenn sie auf die Oberschule wechselten.

Er konnte nicht ahnen, dass er das nicht mehr erleben würde.

Im Jahr 2004 starb Au Fai bei einem Arbeitsunfall. Er war vierzig Jahre alt.

Nach der Finanzkrise von 1997 und dem SARS-Ausbruch von 2003 erlebte Hongkongs Wirtschaft eine Flaute. Um Kosten zu senken, lagerten viele Unternehmen einzelne Arbeitsbereiche aus oder stellten ihr Personal nur noch befristet ein, um der Last der Sozialleistungen zu entgehen. Eine große Firma beauftragte eine kleine für gewisse Leistungen, und die kleine Firma lagerte den Auftrag an noch kleinere Subunternehmer aus. Weil jeder sich seinen Anteil am Kuchen nahm, waren die Arbeitslöhne viel niedriger als zuvor, aber in prekären Zeiten wie diesen blieb den Arbeitern keine Wahl, als stillschweigend zu akzeptieren, was ihnen geboten wurde. Auch Au Fai machte bei den Subunternehmern die Runde und kämpfte mit den anderen Arbeitern um die wenigen verfügbaren Jobs. Zu seinem Glück hatte er lange in einem Lagerhaus gearbeitet und besaß einen Gabelstaplerführerschein, was ihm bei Jobs in der Logistik oder im Hafen einen entscheidenden Vorteil verschaffte. Auf den Docks bewegte er keine Waren, sondern Taue. Die Trossen der Frachtschiffe waren zu dick und zu schwer, um von Hand gesichert zu werden, und mussten mit dem Stapler geschleppt werden. Um sein Einkommen aufzustocken, hatte Au Fai noch einen weiteren Job. In einem Lagerhaus in Kowloon bewegte er Ware, und an den Kwai Tsing Container Terminals löschte er Schiffsladungen. Er wollte möglichst viel Geld verdienen, solange er noch die Kraft dazu hatte. Er wusste, dass seine Energie nicht ewig reichen und der Tag kommen würde, an dem er seinem Körper diese Schufterei nicht mehr zumuten konnte, selbst wenn er wollte.

An einem nieseligen Abend im Juli 2004 bemerkte der Vorarbeiter auf dem Kwai Tsing Dock Nummer vier das Fehlen eines Gabelstaplers. Au Fai war in Richtung Zone Q13 unterwegs gewesen, und dort stießen seine Kollegen auf einen heftig ramponierten Pfahl. Die gelben Plastikbruchstücke auf dem Asphalt...

Erscheint lt. Verlag 18.3.2021
Übersetzer Sabine Längsfeld
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte China • Cybermobbing • Das Auge von Hongkong • Hacker • Hongkong • Metropole • Opfer • Selbstmord • Social Media • Teenager
ISBN-10 3-03792-173-0 / 3037921730
ISBN-13 978-3-03792-173-9 / 9783037921739
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