Mr. Parnassus' Heim für magisch Begabte (eBook)

Roman

*****

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
480 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-27285-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mr. Parnassus' Heim für magisch Begabte -  T. J. Klune
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Linus Baker ist ein vorbildlicher Beamter. Seit Jahrzehnten arbeitet er in der Sonderabteilung des Jugendamtes, die für das Wohlergehen magisch begabter Kinder und Jugendlicher zuständig ist. Nie war er auch nur einen Tag krank, und das Regelwerk der Behörde ist seine Gute-Nacht-Lektüre. Linus' eintöniges Dasein ändert sich schlagartig, als er auf eine geheime Mission geschickt wird. Er soll das Waisenhaus eines gewissen Mr. Parnassus', das sich auf einer abgelegenen Insel befindet, genauer unter die Lupe nehmen. Kaum dort angekommen, stellt Linus fest, dass Mr. Parnassus' Schützlinge eher etwas speziell sind - einer von ihnen ist möglicherweise sogar der Sohn des Teufels! In diesem Heim kommt Linus mit seinem Regelwerk und seiner Vorliebe für Vorschriften nicht weit, das merkt er schnell. Eher widerwillig lässt er sich auf dieses magische Abenteuer ein, das ihn auf der Insel erwartet, und erfährt dabei die größte Überraschung seines Lebens ...

Im Alter von sechs Jahren griff T. J. Klune zu Stift und Papier und schrieb eine mitreißende Fanfiction zum Videospiel »Super Metroid«. Zu seinem Verdruss meldete sich die Videospiel-Company nie zu seiner verbesserten Variante der Handlung zurück. Doch die Begeisterung für Geschichten hat T. J. Klune auch über dreißig Jahre nach seinem ersten Versuch nicht verlassen. Nachdem er einige Zeit als Schadensregulierer bei einer Versicherung gearbeitet hat, widmet er sich inzwischen ganz dem Schreiben. Für die herausragende Darstellung queerer Figuren in seinen Romanen wurde er mit dem Lambda Literary Award ausgezeichnet. Mit seinem Roman »Mr. Parnassus' Heim für magisch Begabte« gelang T. J. Klune der Durchbruch als international gefeierter Bestsellerautor.

ZWEI


»Mr. Baker!«

Linus stöhnte innerlich. Der Tag war bisher so gut verlaufen. Na ja, irgendwie. Zwar prangte nun ein orangefarbener Dressingfleck auf seinem weißen Hemd, der von dem schlaffen Salat stammte, den er an der Essensausgabe erworben hatte – ein hartnäckiger Fleck, der nur weiter verschmiert war, als er ihn hatte wegwischen wollen. Und der Regen, der donnernd auf das Dach trommelte, schien keinerlei Anstalten zu machen, sich auch nur abzuschwächen. Natürlich hatte Linus wieder seinen Schirm zu Hause vergessen.

Doch abgesehen davon war der Tag bisher gut verlaufen.

Überwiegend gut.

Das Klappern der Computertastaturen ringsum verstummte, als Ms. Jenkins sich näherte. Sie war eine strenge Frau mit so straff zurückgebundenen Haaren, dass diese ihre zusammengewachsenen Augenbrauen bis auf die Mitte ihrer Stirn hochzogen. Hin und wieder fragte sich Linus, ob sie eigentlich auch nur ein einziges Mal in ihrem Leben gelächelt hatte. Wohl eher nicht. Ms. Jenkins war eine mürrische Frau mit dem Gemüt einer gereizten Natter.

Außerdem war sie seine Vorgesetzte, und Linus Baker lebte in ständiger Furcht davor, sie zu verärgern.

Nun zog er nervös seinen Hemdkragen zurecht, während sie sich zwischen den vielen Schreibtischen hindurch auf ihn zubewegte. Ihre Absätze knallten laut auf den kalten Steinboden. Dicht hinter ihr lief ihr Assistent, ein widerlicher Schleimer namens Gunther, wie immer mit einem Klemmbrett und einem abartig langen Bleistift ausgestattet, mit dem er all jene aufzuschreiben pflegte, die nachlässig zu arbeiten schienen. Am Ende jedes Tages wurde diese Aufstellung zusammengefasst, und es wurden entsprechend Strafpunkte in die Wochenliste eingetragen. Wer am Ende der Woche mehr als fünf Strafpunkte hatte, bekam einen Eintrag in die Personalakte. Was nun wirklich niemand wollte.

Wo Ms. Jenkins und Gunther vorbeimarschierten, zogen die Kollegen die Köpfe ein und gaben sich extrem beschäftigt, aber Linus durchschaute sie mühelos: Sie würden alle eifrig lauschen, um herauszufinden, was Linus angestellt hatte und welche Strafe über ihn verhängt würde. Vermutlich würde man ihn zwingen, früher nach Hause zu gehen, und ihm den Tag vom Gehalt abziehen. Oder er würde länger bleiben müssen und den Tag trotzdem vom Gehalt abgezogen bekommen. Im schlimmsten Fall würden sie ihn feuern, seine berufliche Laufbahn wäre beendet, und er würde gar kein Gehalt mehr bekommen, von dem ihm etwas abgezogen werden konnte.

Unfassbar, dass heute erst Mittwoch war.

Noch schlimmer wurde es, als Linus erkannte, dass in Wirklichkeit erst Dienstag war.

Ihm wollte partout nichts einfallen, was er verbrochen haben könnte, außer vielleicht, dass er eine Minute zu spät aus seiner viertelstündigen Mittagspause zurückgekommen war. Oder vielleicht war auch sein letzter Bericht nicht zufriedenstellend gewesen. Seine Gedanken überschlugen sich. Hatte er zu viel Zeit auf den Versuch verschwendet, den Fleck aus seinem Hemd zu waschen? Oder war ein Tippfehler in seinem Bericht gewesen? Sicher nicht. Der war makellos gewesen, im Gegensatz zu seinem Hemd.

Doch Ms. Jenkins’ verkniffener Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes für Linus. Normalerweise fand er es hier im Büro immer ziemlich kalt, aber jetzt war ihm unangenehm warm. Obwohl ein kühler Luftzug durch den Raum wehte – noch verschlimmert durch das trostlose Wetter –, spürte er Schweiß in seinem Nacken. Sein Computermonitor schien plötzlich viel greller zu leuchten, und er musste sich zwingen, langsam und gleichmäßig zu atmen. Bei seiner letzten Untersuchung hatte der Arzt gesagt, Linus’ Blutdruck sei zu hoch, und ihm dringend geraten, die Stressfaktoren in seinem Leben zu reduzieren.

Ms. Jenkins war ein Stressfaktor.

Ein Gedanke, den er besser für sich behielt.

Sein schmaler Schreibtisch befand sich ziemlich genau in der Mitte des Großraumbüros: Reihe L, Tisch 7, in einem Raum mit 26 Reihen à 14 Tischen. Zwischen den einzelnen Tischen war kaum Platz. Ein dünner Mensch passte zwar problemlos hindurch, aber wer ein paar Pfund mehr auf den Rippen hatte (wobei die Betonung selbstverständlich auf ein paar liegen musste) … Hätte man ihnen persönlichen Tinnef auf den Schreibtischen gestattet, hätte das für jemanden wie Linus in einer Katastrophe enden können. Da solcherlei Dinge aber verboten waren, lief es hauptsächlich darauf hinaus, dass er mit seinen breiten Hüften an die Tische stieß und trotz hastiger Entschuldigungen böse Blicke zugeworfen bekam. Das war einer der Gründe, warum er meistens abwartete, bis kaum noch jemand da war, bevor er abends nach Hause ging. Das und die Tatsache, dass er kürzlich vierzig geworden war und nichts vorzuweisen hatte außer einem winzigen Häuschen, einer missmutigen Katze, die vermutlich alles und jeden überleben würde, und einem stetig wachsenden Bauchumfang, den sein Arzt mit merkwürdig fröhlicher Miene abgeklopft und gepikt hatte, während er über die Wunder einer Diät schwafelte.

Daher auch der schlaffe Salat aus der Essensausgabe.

Hoch oben an den Wänden hingen grauenhaft fröhliche Schilder mit Sätzen wie: Sie leisten tolle Arbeit und Legen Sie Rechenschaft ab über jede Minute Ihres Tages, denn eine nicht festgehaltene Minute ist eine verschwendete Minute. Wie sehr Linus diese Schilder doch hasste.

Er drückte seine Hände flach auf den Tisch, um sich nicht die Nägel in die Handballen zu rammen. Mr. Tremblay (Reihe L, Tisch 6) schenkte ihm ein finsteres Lächeln. Er war wesentlich jünger als Linus und schien seine Arbeit in vollen Zügen zu genießen. »Jetzt sind Sie dran«, raunte er Linus zu.

Ms. Jenkins baute sich vor seinem Tisch auf und presste die Lippen zusammen. Wie üblich schien sie ihr Make-up in einem dunklen Raum ohne Spiegel aufgetragen zu haben, dafür aber reichlich. Grelles Magenta leuchtete auf ihren Wangen, und ihr Lippenstift sah aus wie Blut. Sie trug einen schwarzen, bis zum Kinn zugeknöpften Hosenanzug. Traumhaft schlank war sie, bestand eigentlich nur aus Knochen mit straff darüber gespannter Haut.

Gunther hingegen wirkte so frisch und fröhlich wie Mr. Tremblay. Angeblich war er der Sohn einer wichtigen Persönlichkeit, vermutlich aus dem Allerhöchsten Management. Linus redete eigentlich nicht viel mit seinen Kollegen, aber diese Gerüchte waren auch bis zu ihm vorgedrungen. Überhaupt hatte er schon früh im Leben herausgefunden, dass die Menschen oft seine Anwesenheit (oder Existenz) vergaßen, wenn er sich still verhielt. Als er noch ein Kind gewesen war, hatte seine Mutter ihm einmal gesagt, er könne mit der Wandfarbe verschmelzen, die man ja auch nur wahrnahm, wenn man an sie erinnert wurde.

»Mr. Baker«, sagte Ms. Jenkins nun wieder. Eigentlich spuckte sie ihm seinen Namen beinahe entgegen.

Gunther stand neben ihr und grinste auf Linus hinunter. Doch es war kein freundliches Grinsen. Seine Zähne waren makellos weiß und gerade, und er hatte ein Grübchen am Kinn. Gutaussehend, auf eine gruselige Art. Sein Lächeln wäre vielleicht sogar hübsch gewesen, wenn es bis zu seinen Augen vorgedrungen wäre. Aufrichtig fand Linus Gunthers Lächeln allerdings nur, wenn er unangekündigte Kontrollen durchführte und mit seinem langen Bleistift einen Strafpunkt nach dem anderen notierte.

Vielleicht war es das. Vielleicht bekam Linus nun seinen ersten Strafpunkt, was er wie durch ein Wunder hatte vermeiden können, seit Gunther eingestellt worden war und sein Punktesystem etabliert hatte. Ihm war natürlich bewusst, dass sie ständig überwacht wurden. An der Decke hingen große Kameras, die alles aufzeichneten. Wenn jemand bei einem Verstoß erwischt wurde, erwachten die dicken Lautsprecher an den Wänden knisternd zum Leben, und es wurden Strafpunkte ausgerufen für Reihe K, Tisch 2 oder Reihe Z, Tisch 13.

Linus war nie bei schlechtem Zeitmanagement erwischt worden. Dafür war er viel zu clever. Und zu ängstlich.

Vielleicht aber nicht clever und ängstlich genug.

Bestimmt bekam er nun einen Strafpunkt.

Oder vielleicht bekam er auch fünf Strafpunkte, das ergäbe dann einen Eintrag in der Personalakte, der wie ein Schandfleck seine siebzehn Jahre Dienst bei der Behörde überschatten würde. Vielleicht hatten sie den Dressingfleck bemerkt. Hinsichtlich der Berufskleidung galten strenge Vorschriften. Sie waren detailliert aufgelistet auf den Seiten 242-246 der VORGABEN UND VERORDNUNGEN, dem Mitarbeiterhandbuch der Behörde für die Betreuung Magischer Minderjähriger. Vielleicht hatte jemand den Fleck gesehen und ihn gemeldet. Das würde Linus kein bisschen überraschen. Und waren andere nicht schon wegen wesentlich geringerer Vergehen gefeuert worden?

Das wusste Linus mit Sicherheit.

»Ms. Jenkins«, begrüßte er sie beinahe flüsternd, »wie schön es doch ist, Sie zu sehen.« Lüge. Es war niemals schön, Ms. Jenkins zu sehen. »Was kann ich für Sie tun?«

Gunthers Grinsen wurde noch breiter. Also vermutlich zehn Strafpunkte. Immerhin war das Dressing orange. Er würde nicht einmal einen Pappkarton brauchen. Ihm gehörte in diesem Raum nichts außer der Kleidung, die er am Körper trug, und dem Mauspad. Es war mit dem verblassten Bild eines weißen Sandstrands bedruckt, dahinter das blaueste Meer der Welt. Und ganz oben stand: Wärst du nicht gerne hier?

Oh ja. Jeden Tag aufs Neue.

Ms. Jenkins hielt es nicht für nötig, Linus’ Begrüßung zu erwidern. »Was haben Sie getan?«, wollte sie von ihm wissen. Ihre Augenbrauen hingen nur knapp unter ihrem...

Erscheint lt. Verlag 13.4.2021
Reihe/Serie Mr. Parnassus' Heim für magisch Begabte-Reihe
Übersetzer Charlotte Lungstrass-Kapfer
Sprache deutsch
Original-Titel The House in the Cerulean Sea
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Schlagworte Abenteuer • Das unglaubliche Leben des Wallace Price • Die unerhörte Reise der Familie Lawson • Diversity • eBooks • Fantasy • found family • gay romance • Gestaltwandler • Hexen • Humor • LBGT • LGBTQ • Liebe • lustig • lustige • Magie • Teufel • Urban Fantasy
ISBN-10 3-641-27285-8 / 3641272858
ISBN-13 978-3-641-27285-2 / 9783641272852
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