Ameisig (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021
864 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26991-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ameisig - Charlie Kaufman
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'Kompromisslos, trostlos und zerstörerisch, aber dennoch wunderbar.' (Los Angeles Review of Books) - Der erste Roman des Oskar Preisträgers Charlie Kaufman
Das Drehbuch zu 'Being John Malkovich' hat Charlie Kaufman weltberühmt gemacht. Der erste Roman des Oscar-Preisträgers ist ein neuer Meilenstein der amerikanischen Literatur: B. Rosenberg kriegt nichts auf die Reihe, außer Kritiken zu schreiben, die keiner liest. Der New Yorker Stadtneurotiker prahlt mit der schwarzen Hautfarbe seiner Freundin und wehrt sich gegen die Unterstellung, er sei Jude. Nicht einmal ein Geschlecht will er haben und nennt sich einfach nur B. Dann jedoch stößt er auf den längsten jemals gedrehten Film und hat eine Mission: Er möchte den ungesehenen Film der Welt zeigen. Doch das Meisterwerk geht in Flammen auf, und B. kann es nur nachträumen. Ein unendlicher Spaß, der jeden Rahmen sprengt.

Charlie Kaufman, 1958 in New York geboren, ist ein US-amerikanischer Drehbuchautor und Filmregisseur. International bekannt wurde er erstmals für seine Drehbucharbeiten an „Being John Malkovich“ (1999). Mit „Vergiss mein nicht!“ gewann er 2005 den Oscar für das beste Originaldrehbuch. Ameisig ist sein Debütroman.

Kapitel 1


Mein Bart ist ein Wunder. Er ist der Bart Whitmans, Rasputins, Darwins, und doch ist er ganz und gar mein Bart. Er ist marmoriertes, stahlwollenes Zuckerwattekonfekt, viel zu lang, zu dünn und zu widerborstig, um modisch zu sein. Und gerade dass er so unmodisch ist, ist seine Hauptaussage. Er sagt: Ich schere (ha!) mich keinen Deut um Mode. Ich schere mich nicht um Attraktivität. Dieser Bart ist zu groß für mein schmales Gesicht. Dieser Bart ist zu breit. Zusammen mit meiner Glatze lässt er meinen Schädel asymmetrisch wirken. Er ist abschreckend. Wer mir also entgegentritt, der tut es zu meinen Bedingungen. Da ich diesen Bart seit nunmehr drei Jahrzehnten trage, rede ich mir ein, er habe zur Renaissance des Bartes an sich beigetragen, doch in Wahrheit sind die Bärte von heute etwas völlig anderes und größtenteils pflegebedürftiger als ein glattrasiertes Gesicht. Und handelt es sich um Vollbärte, dann bedecken sie Gesichter, die auf konventionelle Weise gutaussehend sind, die Gesichter von Möchtegernholzfällern, von Männern, die ihr eigenes Bier brauen. Die Frauen mögen diesen Look, diese geleckten Großstadttypen, Männer in maskulinem drag. Aber so ist mein Bart nicht. Mein Bart ist auf widerborstige Weise heterosexuell, ungepflegt, rabbinisch, intellektuell, revolutionär. Er lässt meine Umgebung wissen, dass ich mich nicht für Mode interessiere, dass ich exzentrisch bin, dass ich ernsthaft bin. Er gibt mir die Möglichkeit, mein Gegenüber danach zu beurteilen, wie es mich beurteilt. Meidest du mich, bist du oberflächlich. Verspottest du mich, bist du ein Spießer. Widere ich dich an, bist du … konventionell.

Dass er einen Portweinfleck kaschiert, der sich von meiner Oberlippe bis zu meinem Brustbein erstreckt, ist drittrangig, allenfalls zweitrangig. Dieser Bart ist meine Visitenkarte. Er ist das, was mich in einem Meer aus Gleichförmigkeit unvergesslich macht. Es ist dieses Merkmal, das mich in Verbindung mit meiner eulenhaften Drahtgestellbrille, meiner Habichtnase, meinen tiefliegenden Schwarzdrosselaugen und meiner Geierglatze leicht karikierbar macht, als Vogel wie als Mensch. Mehrere gerahmte Beispiele aus verschiedenen kleinen, aber renommierten filmkritischen Zeitschriften (fotografiert zu werden, lehne ich aus philosophischen, ethischen, persönlichen und terminlichen Gründen ab) schmücken die Wände meines Arbeitszimmers. Mein Lieblingsstück ist ein Exemplar dessen, was man gemeinhin als Vexierbild kennt. Stellt man es auf den Kopf, erscheine ich als ein weißer Don King. Mich als eingefleischten Anhänger des Boxsports amüsiert dieser Bildwitz, und tatsächlich habe ich die umgedrehte Version der Illustration als Autorenfoto für mein Buch Die verlorene Religion der Maskulinität: Joyce Carol Oates, George Plimpton, Norman Mailer, A. J. Liebling und die teils hart umkämpfte Geschichte des Boxsports, der süßen Wissenschaft, und warum verwendet. Das Unheimliche ist, dass die Don-King-Illusion auch im wahren Leben funktioniert. Wenn ich im Yogakurs die Sirsasana mache, scharen sich die Hühner oft um mich und gackern, ich sähe aus wie »dieser fürchterliche Boxmensch«. Ich denke, auf diese Art flirten sie mit mir, diese mittelalten, frivolen Kreaturen, die mit ihren zusammengerollten Yogamatten unter dem Arm oder im Schulterholster einherstaksen und einer desinteressierten Welt ihre spirituelle Disziplin unter die Nase reiben — vom Yoga zum Mittagessen zum lieblosen Ehebett. Für mich ist es nur Training. Ich trage kein spezielles Outfit und überhöre die aus fernöstlichen Religionen zusammengepanschte Predigt, die die Yogalehrerin zuvor vom Stapel lässt. Ich trage nicht einmal kurze Hose und T-Shirt. Für mich heißt es graue Anzughose und weißes Hemd mit Knopfkragen. Gürtel. Schwarze Balmorals an den Füßen. Die Brieftasche in die enge rechte Gesäßtasche gesteckt. Ich denke, das macht die Sache klar: Ich bin kein Schaf. Ich bin kein Mitläufer. Es sind die gleichen Kleider, die ich auch trage, sollte ich zufällig einmal zur Entspannung mit dem Rad durch den Park fahren. Kein mit Firmenlogos übersäter Spandex-Anzug in meinem Fall. Ich muss niemanden davon überzeugen, dass ich es mit dem Radfahren ernst meine. Ich muss niemanden von überhaupt irgendetwas überzeugen. Ich fahre Rad. Das ist alles. Will sich jemand dazu irgendeine Meinung bilden, nur zu, doch sie interessiert mich nicht. Ich räume gern ein, dass es meine Freundin war, die mich dazu gebracht hat, ein Fahrrad zu besteigen und einen Yogaraum zu betreten. Sie ist eine berühmte Fernsehschauspielerin, bekannt für ihre Rolle als grundanständige, aber sexuell anziehende junge Mutter in einer Neunzigerjahre-Sitcom und aus vielen Fernsehfilmen. Sie kennen sie mit Sicherheit. Man könnte meinen, für mich als älteren intellektuellen Autor wäre sie »ein paar Nummern zu groß«, doch das wäre ein Irrtum. Als wir uns bei einer Signierstunde zu meiner hochgelobten, in einem Kleinverlag erschienenen kritischen Biografie von —

Etwas (ein Reh?) läuft vor meinem Wagen über die Straße. Augenblick mal! Gibt es hier Rehe? Ich bin der Meinung, irgendwo gelesen zu haben, es gäbe hier Rehe. Ich muss das bei Gelegenheit einmal überprüfen. Die mit den Reißzähnen? Ich glaube, es gibt so etwas — Rehe mit Reißzähnen —, aber ich weiß nicht, ob ich es mir nur eingebildet habe, und falls nicht, weiß ich nicht, warum ich sie mit Florida in Verbindung bringe. Ich muss das überprüfen, wenn ich angekommen bin. Was immer es auch war, es ist längst verschwunden.

Ich fahre durch die Finsternis auf St. Augustine zu. Ich bin in Gedanken zu dem Bartmonolog abgeschweift, wie ich es während langer Reisen mit dem Auto oft tue. Während Reisen aller Art. Ich habe den Monolog bei Signierstunden gehalten, bei einem Vortrag über Jean-Luc Godard im Mithörsaal der Mensa des jüdischen Studentenheims in der 92nd Street. Den Leuten scheint es zu gefallen. Es ist mir gleichgültig, aber es scheint der Fall zu sein. Ich erwähne dieses Detail nur, weil es der Wahrheit entspricht. Die Wahrheit ist meine Herrin in all meinem Treiben, wenn man sagen kann, dass ich eine Herrin habe, was man nicht kann. Zweiunddreißig Grad laut der Außentemperaturanzeige meines Autos. Achtundneunzig Prozent Luftfeuchtigkeit laut dem Schweißfilm auf meiner Stirn (in Harvard nannte man mich liebevoll das menschliche Hygrometer). Im Scheinwerferlicht ein Sturm aus Insekten, die gegen die Windschutzscheibe klatschen und von den Scheibenwischern verschmiert werden. Meiner semiprofessionellen Einschätzung nach ist es ein Schwarm der Haarmücke — Plecia nearctica —, auch bekannt als Liebesfliege, Flitterwochenfliege oder Zweikopfmücke, weil immer zwei von ihnen aneinandergeklammert fliegen, selbst nachdem die Paarung abgeschlossen ist. Es ist diese Art des postkoitalen Kuschelns, die ich nach dem Geschlechtsakt mit meiner afroamerikanischen Freundin so genieße. Sie kennen sie ganz bestimmt. Könnten wir beide auf diese Weise durch die Nacht fliegen, ich würde es sofort tun, selbst wenn die Gefahr bestünde, an der Windschutzscheibe eines Riesen zu zerplatzen. Einen Augenblick lang verliere ich mich in diesem so sinnlichen wie tödlichen Szenario. Ein vernehmliches Spratz reißt mich aus der Zerstreuung dieses Reisetraums und ich sehe, dass ein besonders großes und bizarres Insekt gegen das Glas geprallt ist, exakt in der Mitte dessen, was ich als den nordwestlichen Quadranten der Windschutzscheibe einschätzen würde.

Der Highway ist leer, das Nichts zu beiden Seiten gelegentlich unterbrochen von einem fluoreszierenden Fast-Food-Restaurant, geöffnet, aber verwaist. Keine Autos auf den Parkplätzen. Die Namen klingen nicht vertraut. Slammy’s. The Jack Knife. Mick Burger. Diese Läden mitten in der Einöde haben etwas Unheimliches an sich. Für wen machen sie das Essen? Woher nehmen sie die Zutaten? Kommen Lastwagen mit gefrorenen Fleischbratlingen aus irgendeinem Slammy’s-Lager vorbeigefahren? Schwer vorstellbar. Vermutlich war es ein Fehler, aus New York hierherzukommen. Ich dachte, es hätte vielleicht etwas Meditatives, wäre eine Gelegenheit, über das Buch nachzudenken, über Marla, über Daisy, über Grace, darüber, wie weit entfernt ich offenbar von allem bin, was ich mir im Leben vorgenommen habe. Wie geschieht so etwas? Kann ich überhaupt wissen, wer ich war, ehe mich die Welt in die Finger bekommen, mich gegen mich selbst gewendet und zu diesem … Ding gemacht hat?

Doch das ist Schnee von gestern, wie der sogenannte Volksmund sagt. Man kann es nicht wissen. Willkürliche Überlegungen nach einer archäologischen Ausgrabung mit magerem Ergebnis. Woher kommt diese Wut? Warum weine ich? Warum liebe ich die Frau aus dem Whole-Foods-Biosupermarkt? Selbst nachdem sie von Amazon aufgekauft wurden,...

Erscheint lt. Verlag 15.3.2021
Übersetzer Stephan Kleiner
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Antkind
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 21. Jahrhundert • Being John Malkovich • Film • Filmgeschichte • Jüdisch • New York • Oscar-Preisträger • politically correct • Romane • Witz
ISBN-10 3-446-26991-6 / 3446269916
ISBN-13 978-3-446-26991-0 / 9783446269910
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