Roman d’amour (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021
128 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26998-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Roman d’amour - Sylvie Schenk
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Sylvie Schenks fein gesponnener Ehebruchroman, voller Lebenserfahrung und Weisheit
Charlotte Moire hat einen Roman über eine Affäre geschrieben, die sie vor Jahrzehnten mit einem verheirateten Mann hatte. Aus der Erinnerung an Verlangen und Leidenschaft ist Fiktion geworden. Nun aber sitzt ihr, der über Siebzigjährigen, eine beharrlich insistierende Interviewerin gegenüber, vor der sie immer wieder abstreiten muss, diese Geschichte selbst erlebt zu haben. Immer schwerer fällt es Charlotte in ihren Auskünften, zwischen Werk und eigenem Leben zu unterscheiden. Unmerklich fließen die Geschichten zweier Frauen ineinander, die nichts miteinander zu tun haben sollen und doch viel gemein haben. 'Roman d'amour' ist ein dichtes und kluges Buch über die Liebe und das Erzählen von Liebe.

Sylvie Schenk wurde 1944 in Chambéry, Frankreich, geboren, studierte in Lyon und lebt seit 1966 in Deutschland. Sylvie Schenk veröffentlichte Lyrik auf Französisch und schreibt seit 1992 auf Deutsch. Sie lebt bei Aachen und in La Roche-de-Rame, Hautes-Alpes. Bei Hanser erschienen ihre Romane Schnell, dein Leben (2016), Eine gewöhnliche Familie (2018) und zuletzt Roman d'amour (2021).

Sie sprechen Englisch. Poor thing. Gedämpfte Stimmen. Sie murmeln, dass du dich habest umbringen wollen. Unsinn. Es wird wieder alles verdreht und verfälscht. Wenn du die Augen einen Spaltbreit öffnest, wähnst du einen Priester an deinem Bett. Unmöglich. Im Raum schwebt ein dunkler Nebel. Oder es liegt an deiner Sehschärfe. Wo ist deine Brille? Dein Mund ist trocken. Du liegst in einem Bett. Einem fremden Bett. Ja, du bist noch in Irland, aber dieses Bett ist kein Hotelbett, und du hast dich nicht selbst gebettet. Der Priester (ist er ein Priester?) bückt sich zu dir und fragt: Did you want …? Du verstehst das Wort nicht. Commit suicide? Kill yourself. Sich umbringen? Das Wort springt auf dich zu, ein hartes Wort, to kill, wolltest du dich umbringen? Du schließt wieder die Lider, müde. Der Schlag einer Welle ins Gesicht, du kippst nach hinten. Ein Meer. Blinzeln. Und wieder das Gesicht des Priesters über dir, schwarz und rund, seine Visage ist dein Horizont, sinkt in die See. So viele Wolken. Sie reiten aufeinander, ineinander. Um dich also das Meer. Dein Kopf ein Kaulquappenkopf. Augen zu und durch: Du willst durch das raue Meer pflügen. You wanted to commit suicide …? Sein schwarzes Haar hängt ihm über der Stirn, es erinnert dich an den Mann, den du liebtest. Vielleicht ist er das und kein Priester. Du würdest gern schreien, um ihn zu erschrecken, ihm das Gesicht mit der Hand zurückschieben, kannst aber nur die Finger bewegen. Zu schwer, so müde, kraftlos. Sorry, I want to sleep. Hast du gesprochen? Das Zimmer kannst du nicht auskundschaften, ein Nebel aus weißen, grünen und gelben Farben, der Priester schwarz oder dunkelblau. Pulli oder Robe? Bist du im Krankenhaus? Du erkennst deine eigene Stimme nicht. Zu dumpf. Ja, es hängt ein Infusionsschlauch an deinem Arm. Wer hat Sie gerufen? Was fehlt mir? Fragst du. Alles, sagt er, alles fehlt dir. Du verstehst ihn nicht. Wo ist meine Brille? Ich brauche meine Brille, ich sehe schlecht. Lassen Sie mich bitte schlafen. Du schließt wieder die Augen und fühlst dich besser. Ob du sterben wirst und dich deshalb ein Priester besucht? Warum bist du hier, und wo bist du? Ich glaube nicht an Gott, sagst du. Muss ich beichten? Willst du beichten?, sagt er. Mach es, wenn es dir hilft. Du hörst ein kleines Lachen, ob es deins ist? Ich höre dich kaum, sagt er. Selbstmord ist eine Todsünde. Du bewegst die Beine, versuchst Schwimmbewegungen zu machen, es geht nicht. Wolltest du ertrinken? Wolltest du den Freitod? Warum spricht er Deutsch? Wieder siehst du die Wellen auf dich zukommen. Nicht mal hoch, ganz regelmäßig prallen sie zuerst gegen deine Knie, gegen deine Brüste, dann gegen dein Kinn, deine Stirn. Ein unendliches Feld mit grauen Wogen, du gleitest unter grauen Wolken. Du schwimmst mühelos. Noch ist das Meer ruhig und willig und repetitiv. Es wellt sich ins Unendliche. Du kraulst dem Ende der Gezeiten entgegen. Bist nicht mehr allein. Gott ist in deiner Nähe: ein lachender Seehund. Und dann, kurz danach: bleiern, hart, eiskalt, zuerst ein kaum wahrnehmbarer Kinnhaken, dann eine Watsche, ein Faustschlag, der Kampf beginnt gegen aufgetürmte Wellen, die sich hoch und frostig über deinen Kopf erheben; und sie schlagen zu, drücken dich nieder, du würgst, spuckst die Kälte aus, das Wasser lässt dir nie Zeit, Luft zu holen, bevor es dich wieder anspringt, ach, was soll’s? Du willst doch, dass die Kälte dich zerfrisst, dass die Welle dich erschlägt. Du hättest ein Gedicht über die Wellen schreiben sollen. Über den Sand darin, über das Öl darin, über die vielen Toten darin. Du hast so gern Gedichte geschrieben und gelesen. Die Franzosen, Baudelaire, Rimbaud, die Deutschen, Sarah Kirsch, Hannah Arendt. Man wird davon nicht klüger. Aber Gedichte sind Wegmarkierungen, die helfen aus dem Gestrüpp. Hättest du nur ein Gedicht über den Atlantik auswendig gelernt, bevor du ins Wasser gingst, das hätte dir gegen die Versuchung zurückzuschwimmen geholfen, zu spät, so wird’s auch gehen, du versuchst kraulend und stimmlos dein Lieblingsgedicht im Kopf zu rezitieren, wie früher als Kind im Bett, schweigend, um deine Geschwister nicht zu wecken, ein französisches Gedicht von Baudelaire, ange plein de gaieté, connaissez-vous l’angoisse? Engel voll Heiterkeit, kennst du die Todesängste? Mit dieser Kälte hast du nicht gerechnet. Dein Kraulen wird immer langsamer, nur noch kreisende, kleine, ausholende Bewegungen. Ange plein de bonté, connaissez-vous la haine? Engel voll Güte, kennst du den Hass? Jetzt umhüllt dich das Meer, legt dich in tückische Falten, überrollt dich, drückt dich nach unten, du erlebst, wie es dich mit Milliarden von Zungen und glucksenden Mündern einsaugt, du bist erschöpft und ergeben, glücklich und unglücklich, hoffnungsvoll und verzweifelt, kraftlos, du schluckst und schnüffelst bitteres Wasser, und dir dämmert endlich, dass du nicht mehr ringen musst, dass du an dem Punkt angekommen bist, den du erreichen wolltest, dem kreisenden Ort, wo sich Freud und Leid treffen, wo sich Schlaf und Wachsein küssen, wo Lüge und Wahrheit eins werden. Ange plein de santé, connaissez-vous les fièvres? Engel voll Gesundheit, kennst du das Fieber? Nur noch ein kurzes Aufbegehren, ein Schlucken, ein Würgen, im Hals ein sandiger Knoten, ein letztes Mal die Wolken erblicken, bist endlich eine Gescheiterte. Und das All geifert und sabbert und lacht dich tot, nicht mehr kämpfen, es hat schon deine Glieder, deinen Bauch, deine Schulter. Du bist längst ausgeweidet. Lass dich doch schmecken und verdauen. Gib nach.

Vor meinem Mittagsschlaf hätte ich diese Szene aus Roman d’amour nicht noch einmal lesen dürfen. Klara ertrinkt im Atlantik, oder auch nicht. Nun wachte ich auf, lag noch im Bett, in den Ohren ein Brummen, ein Rauschen, im Kopf das Gedicht von Baudelaire, das ich in der Schule gelernt hatte, und mein welliges Gerede. Ein paar Fetzen schwammen noch auf dem Wasser, ich bekam sie zu fassen: Der Mann ist aufgestanden, kein Priester. Was hast du da gemacht?, sagt er. Ich will doch, dass du lebst, ich mag dich am Leben, lebendig, verstehst du? Ich mag dich nicht, sage ich, ich liebe dich, aber dich gibt es nicht mehr.

Ich wachte zum zweiten Mal auf, und da war keiner. Und ich fragte mich wieder, ob ich die erste Szene aus Roman d’amour vorlesen würde oder lieber nicht.

Vormittags hatte ich mit Frau Sittich telefoniert, der Lebensgefährtin des Bibliothekars. Ich wusste noch nicht, dass sie die Lebensgefährtin des Bibliothekars war. Und mit ihm zusammenarbeitete. Sie hatte sich als Journalistin vorgestellt und wollte mir nachmittags einige Fragen für einen Radiobeitrag stellen. Ja, das Interview über Roman d’amour würde schon morgen ausgestrahlt. Sie fand es originell, dass ich eine literarische Gattung, ein Genre als Titel des Buchs gewählt hatte.

Nach meinem Mittagsschlaf war ich bleischwer. Der Meerestraum spukte mir noch durch den Kopf, ich wurde niedergewalzt und erstickte. Ich klammerte mich an das Kopfkissen und wollte mich ins durchgewühlte Bett verkriechen, musste aber aufstehen und mich beeilen. Ich schob die Vorhänge zur Seite, um auf die Nordsee zu schauen, aber mein Zimmer ging hinaus zum Garten des Hotels. Vielleicht, dachte ich, könnte ich am nächsten Tag schnell zum Strand gehen, bevor ich nach Hause zurückfahre, ich mache mir viel aus dem Meer, egal ob Wattenmeer, Sandstrand oder Felsen, Hauptsache, das Meer. Unten schimmerte nur der Hotelgarten, in dem sich zwei gelb-rote Bäume im Wind wiegten. Der Wind fegte durch welke Dahlien, Ahornblätter wirbelten durch die Luft. Ich sah, wie aus den braun gesprenkelten Zweigen eines größeren Baums eine Kastanie fiel und unten aus ihrer grünen Stachelhülle sprang. Durch das gekippte Fenster drang der leicht moderige Geruch feuchter Blätter zu mir, Erde und Sonne gemischt. Der Herbst ist schon immer meine Lieblingsjahreszeit gewesen, für mich nicht die Jahreszeit des Verendens, sondern des Vollendens. Im Grunde steht man hier am Anfang eines Werkes, dessen Samen unterirdisch im Winter keimen, um im Frühjahr oder Sommer aufzublühen. Der Gedanke stammt aus meiner Schulzeit, weil der Oktober in Frankreich den Beginn des Schuljahres markierte, man sammelte buntes Laub, um es im Kunstunterricht nachzumalen. Oft habe ich im Herbst die ersten Zeilen meiner Romane geschrieben, wenn eben die Kastanien aus den Schalen platzten.

Ich nahm mein Kleid aus dem Koffer. Ein schickes rotes Kleid, extra für diese Gelegenheit gekauft, leider wie so oft auf die Schnelle und ohne es anzuprobieren. Das Kleid war für mein Alter zu kurz, ich hatte das schon zu Hause festgestellt, aber keine Zeit mehr gefunden...

Erscheint lt. Verlag 15.3.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Ehebruch • Frankreich • Geliebte • Hingabe • Irland • Liebe • Liebesroman • Margriet de Moor • Schnell, dein Leben • Tante Martl • Ursula März
ISBN-10 3-446-26998-3 / 3446269983
ISBN-13 978-3-446-26998-9 / 9783446269989
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