Wisting und der Atem der Angst (eBook)

Kriminalroman
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
416 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99705-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wisting und der Atem der Angst -  Jørn Lier Horst
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Ein Wanderer findet im Wald die menschlichen Überreste einer jungen Frau. Der Polizei ist schnell klar: Die Art und Weise, wie sie getötet wurde, entspricht dem typischen Vorgehen des Serienkillers Tom Kerr. Doch der kann es nicht gewesen sein, denn er sitzt seit mehreren Jahren im Gefängnis. Stimmen etwa die Gerüchte, dass er damals einen Komplizen hatte? Schon vor Jahren nannte die Presse diesen vermeintlichen Partner des Serienkillers 'Der Andere'. Tom Kerr erklärt sich bereit, mit der Polizei zu kooperieren. Bei einer Tatortbegehung soll er wichtige Hinweise liefern. Doch dann passiert das Unfassbare: Dem Killer gelingt die Flucht. Wisting wird plötzlich zum Sündenbock und muss beide Täter dringend hinter Gitter bringen!

Jørn Lier Horst, geboren 1970 in Bamble/Norwegen, war Kriminalhauptkommissar bei der norwegischen Polizei, bevor er 2004 als Kriminalschriftsteller debütierte. Seitdem schrieb er sich mit seinen Romanen um den Polizisten William Wisting in die erste Liga der norwegischen Krimiautoren.  

Jørn Lier Horst, geboren 1970 in Bamble/Norwegen, war Kriminalhauptkommissar bei der norwegischen Polizei, bevor er 2004 als Kriminalschriftsteller debütierte. Seitdem schrieb er sich mit seinen Romanen um den Polizisten William Wisting in die erste Liga der norwegischen Krimiautoren.

11


Line hielt die Kamera weiter auf die Journalisten gerichtet. Sie kam sich angesichts ihrer Tätigkeit recht zynisch vor. Dieses Gefühl ereilte sie häufig, wenn sie als Journalistin unterwegs war und ihre Aufgabe bei einem Unfall oder einer anderen Tragödie nur darin bestand, darüber zu berichten.

Sie hatte den Auftrag für Stiller abgeschlossen und filmte jetzt einzig in der Absicht, die Aufnahmen für einen Dokumentarfilm über Tom Kerr und den Anderen zu verwenden. Der ohnehin schon bizarre Fall hatte gerade eine dramatische Wendung genommen, und das Material, das sie zur Verfügung hatte, war einzigartig.

Langsam schwenkte sie die Kamera über die Wiese.

Rechtsanwalt Claes Thancke stand außer Sichtweite der Journalisten mit Stiller und ihrem Vater zusammen. Der Anwalt schüttelte demonstrativ den Kopf, bevor er zu seinem Wagen ging. Ein paar Journalisten erspähten ihn und riefen ihm hinterher, doch Thancke hob abwehrend die Hand, setzte sich in den Wagen und fuhr davon, während die Kameras ihn weiter verfolgten.

Line ging zu Stiller und ihrem Vater.

»Wo ist dein Wagen?«, fragte Wisting.

»Der steht bei der Kripo«, erwiderte sie und deutete mit dem Kopf auf Stiller. »Ich sollte mit ihm dahin zurückfahren, sobald Kerr wieder sicher hinter Gittern sitzt.«

»Nimm meinen«, sagte ihr Vater und fischte die Autoschlüssel aus der Tasche.

Doch Line wollte noch bleiben.

»Ihr könnt euch meine Aufnahmen ansehen«, bot sie an. »Jetzt gleich.«

Stiller schüttelte den Kopf.

»Wir sind nicht die Einzigen, die sich dafür interessieren«, sagte er. »Sie müssen die Aufnahmen auf den Server hochladen, damit auch die Polizeipräsidentin und die Leitung der Kripo sie sehen können.«

Line seufzte. Hätte sie ihr Laptop mitgenommen, wäre das sofort möglich gewesen.

»Ich würde gern hierbleiben, bis alles vorbei ist«, sagte sie.

»In den nächsten Stunden wird hier nicht viel passieren«, erklärte Stiller.

»Woher wollen Sie das wissen?«, fragte Line. »Habt ihr ihn schon geschnappt?«

Stiller reagierte mit einer Gegenfrage: »Geben Sie mir Bescheid, sobald Sie die Videoaufnahme hochgeladen haben?«

Line nickte.

»Aber bitte schicken Sie den entsprechenden Link nur an mich«, fuhr er fort. »Ich leite ihn dann weiter.«

Er drehte sich um und trat auf den Kastenwagen zu. Lines Vater löste die Autoschlüssel von seinem Schlüsselbund und gab sie ihr.

»Er hat recht«, meinte er. »Es bringt nichts, hierzubleiben. In den nächsten Stunden wird nichts passieren.«

Line nahm die Schlüssel. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass ihr die Situation nicht gefiel.

»In Ordnung«, sagte sie. »Er ist übrigens mit meinem Mikro und meinem Sender abgehauen«, fügte sie leicht pikiert hinzu. »Sag Bescheid, wenn ihr die findet. Die waren nämlich nicht billig.«

Sie schaltete die Kamera aus, ging zum Wagen ihres Vaters und setzte sich hinein.

Ein Zweig schlug gegen die eine Seite des Autos, als sie vom alten Sägewerk in den Waldweg einbog. Im Radio lief der Sender P2. Sie schaltete es aus und blickte in den Spiegel. Hinter ihr wirbelte der Kies auf.

Die Strecke durch den Wald bestand eigentlich nur aus zwei mit Schlaglöchern übersäten Wagenspuren. Auf beiden Seiten wuchs dichter Wald. Irgendwo unterwegs stand ein verrostetes Landwirtschaftsgerät am Wegesrand.

Line bremste ab und blieb stehen. Sie nahm die Kamera vom Beifahrersitz und schaltete sie wieder ein, um die Polizeisperre an der Hauptstraße filmen zu können.

Im Rückspiegel registrierte sie einen Schatten, als bewege sich jemand hinter dem Wagen. Sie drehte sich um, entdeckte aber nur einen Vogel, der sich von einem Ast erhob, als sei er von etwas erschreckt worden.

Ein unangenehmes Gefühl erwachte in ihr. Da draußen war nichts, aber ihre irrationale Angst veranlasste sie, die Türen zu verriegeln. Die Reifen drehten leicht durch, als sie wieder anfuhr.

Nach kurzer Zeit öffnete sich die Landschaft. Der Wald wurde von frisch gepflügten Feldern abgelöst. Unten an der Landstraße standen zwei Streifenwagen, einer mit blinkendem Blaulicht. Ein alter blauer Ford war gestoppt worden, und die Polizisten hatten den Kofferraum geöffnet.

Line trat auf die Bremse und zückte die Kamera. Der Kofferraum wurde geschlossen, der Ford durfte weiterfahren. Nach zwei Minuten kam ein weiterer Wagen, ein kleiner Toyota. Durch die Kamera konnte Line zwei Frauen sehen, die darinsaßen. Der Wagen wurde angehalten, die Polizei überprüfte die Papiere, öffnete die Hecktüren und kontrollierte den Kofferraum, ehe das Auto wieder wegfahren durfte.

Eine Polizistin war auf Line aufmerksam geworden und stieß einen Kollegen an, der sich umdrehte. Die Frau umfasste ihre Waffe, die in einem Gurt steckte. Line legte die Kamera weg und fuhr zu den beiden hinüber. Auf ein Signal hin hielt sie an, ließ das Fenster herunter und zog ihren Führerschein aus der Jackentasche. Die Polizistin stellte sich direkt neben die Fahrertür.

»Wir suchen nach diesem Mann«, sagte sie und hielt Line ein Handy mit einem Foto von Tom Kerr auf dem Display hin. »Haben Sie ihn gesehen?«

Line hatte kein Bedürfnis zu erzählen, was sie gerade erlebt hatte.

»Tom Kerr?«, sagte sie nur. »Nein.«

»Würden Sie bitte die Heckklappe öffnen?«

Ein Polizist überzeugte sich davon, dass die Ladefläche leer war, und schloss die Klappe wieder. Die Polizeibeamtin gab Line den Führerschein zurück.

»Halten Sie nicht an, falls Sie ihn sehen sollten«, warnte sie. »Gute Fahrt!«

Line behielt das Gelände rechts und links der Straße im Auge, als sie weiterfuhr. Ein Hund bellte sie an, als sie an einem Haus an der Straße vorbeikam. Auf einer Weide standen ein paar Pferde. Eine ältere Frau auf einem Bauernhof nahm Wäsche von der Leine.

An der Kreuzung zur nächsten Landstraße gab es einen weiteren Kontrollposten. Line legte die Kamera aufs Armaturenbrett und ließ sie laufen.

Einigen Fahrzeugen wurde die Weiterfahrt gestattet, während andere zurückgehalten wurden. Vermutlich Schaulustige und andere, die hier nichts zu suchen hatten und nicht in der Gegend wohnten.

Der Wagen vor Line wurde genauso wie an der Absperrung zuvor kontrolliert. Line ließ das Seitenfenster herunter und wartete, bis sie an die Reihe kam.

Abermals wurde ihr ein Foto von Tom Kerr gezeigt, ehe sie die Heckklappe öffnen musste und der Wagen erneut untersucht wurde.

Nach fünfundzwanzig Minuten war sie endlich zu Hause in Stavern. Sie ging direkt in den Keller hinunter, wo sie ihr Arbeitszimmer eingerichtet hatte. Dort schaltete sie den Fernseher ein, und CNN erschien auf dem Bildschirm. Line wechselte zum norwegischen Nachrichtenkanal. Werbung.

Sie nahm die Speicherkarte aus der Kamera und überspielte die Aufnahme auf ihren Computer. Die Kamera war fast die ganze Zeit in Betrieb gewesen. Sie hatte sie nur zwischendurch ein paarmal angehalten, damit die Dateien nicht zu umfangreich wurden, was die spätere Handhabung erschweren konnte.

Es erforderte ein wenig Arbeit, die Videos auf einen Kryptoserver hochzuladen, damit auch andere darauf zugreifen konnten. Stiller wollte das Rohmaterial haben, es musste gar nicht bearbeitet werden. Sie schickte ihm eine E-Mail mit einem Link zu den Dateien sowie ein automatisch generiertes Passwort. Eine der Dateien enthielt die Aufnahme, die mit der Ankunft des Minibusses am alten Sägewerk begann und etwa eine halbe Stunde nach der Explosion und Flucht endete. Sie schickte Stiller den Namen dieser Datei und setzte sich hin, um sich die Aufnahme anzusehen.

Es gab viel Hin und Her, bevor der Trupp sich in Bewegung setzte. Ein Gespräch zwischen Stiller und Hammer über den ausbleibenden Helikopter war zu hören. Außerdem warteten sie auf die Hundestaffel. Die Kamera zoomte auf Kerr und seinen Anwalt, die sich im Wagen unterhielten, ehe alle losgingen.

Line warf einen Blick auf den Fernsehschirm an der Wand. Der Nachrichtenkanal berichtete live aus Eftang, doch es schien weiter nichts passiert zu sein. Line drehte den Ton leiser und konzentrierte sich wieder auf ihren Computer. Die Gruppe mit Tom Kerr an der Spitze bewegte sich in den Wald hinein. Line hatte gefilmt, wie er stolperte und hinfiel. Sie hielt die Aufnahme an, spulte etwas zurück und ließ sie erneut laufen. Kerr stöhnte beim Hinfallen, dann half ihm jemand auf, damit er weitergehen konnte. Währenddessen protestierte sein Anwalt gegen die Behandlung, doch die Fußfesseln wurden Kerr erst nach dem zweiten Sturz abgenommen.

Line spielte die Sequenz erneut ab, diesmal langsamer. Eigentlich gab es keinen Grund dafür, dass er gestolpert und hingefallen war. Er war zwar mit dem einen Fuß gegen eine Baumwurzel gestoßen, der Sturz selbst sah jedoch inszeniert aus. Als wäre er Bestandteil eines Fluchtplans.

Die Aufnahme lief weiter. Als Kerr das nächste Mal stürzte, wirkte alles viel dramatischer. Seine Füße waren auf dem Kameraausschnitt nicht zu sehen, daher konnte man nicht genau sagen, ob er wirklich gestolpert war, doch im Kontext seines vermuteten Fluchtplans wirkte auch dieser Sturz inszeniert.

Wegen der Handschellen konnte Kerr den Sturz nicht gut abfangen. Als er wieder hochgezogen wurde, hatte er eine Schürfwunde an der Wange.

Die Truppe bewegte sich weiter voran. Als sie an der abschüssigen Schafweide angekommen waren, legte Claes Thancke abermals Protest ein. Es gab eine Diskussion, an deren Ende beschlossen wurde, Kerr die Fußfesseln abzunehmen.

Während der Schließbügel von seinen Knöcheln abgenommen und die Kette entfernt wurde, starrte Kerr direkt in die Kamera. Als er von den Fußfesseln befreit war, hob er die Hände zum Gesicht und wischte sich das Blut von der Wange. Dann sagte...

Erscheint lt. Verlag 30.11.2020
Reihe/Serie Cold Cases
Wistings Cold Cases
Wistings Cold Cases
Wistings Cold Cases
Übersetzer Andreas Brunstermann
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Illvilje
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Adrian Stiller • alter Fall • Arne Dahl • Cold Case • Ein kalter Fall • Hauptkommissar • Jo Nesbø • Line Wisting • neuerscheinung 2020 • Norwegen • Skandinavienkrimi • skandinavische Bücher • Spannung • Unterhaltung • William Wisting
ISBN-10 3-492-99705-8 / 3492997058
ISBN-13 978-3-492-99705-8 / 9783492997058
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