Die roten Stellen (eBook)

Autobiographie eines Prozesses

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020
224 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26734-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die roten Stellen - Maggie Nelson
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Ein wahrer Fall - Maggie Nelson schreibt über den brutalen Mord an ihrer Tante und den Umgang mit Mord und Trauer in unserer sensationslüsternden Gesellschaft.
Im Frühjahr 1969 sucht Jane Mixer eine Mitfahrgelegenheit, ihre ersten Semesterferien will sie zu Hause in Muskegon, Michigan, verbringen. Dort angekommen ist sie nie: Sie wird brutal ermordet, ihre Leiche am nächsten Tag ein paar Meilen vom Campus entfernt gefunden, mit zwei Kugeln im Kopf und einem Nylonstrumpf um den Hals. Jahrzehntelang gilt der Fall als ungelöst, bis er 2004 erneut aufgenommen wird - durch einen positiven DNA-Abgleich wird ein neuer Verdächtiger identifiziert und vor Gericht gestellt. Mit großer gedanklicher Klarheit nähert sich Maggie Nelson dem mysteriösen Tod ihrer Tante Jane und dem Prozess, der ihn nach 35 Jahren wieder aufrollt - und versucht dabei, das Wesen von Trauer, Gerechtigkeit und Empathie zu ergründen.

Maggie Nelson, geboren 1973, ist Dichterin, Kritikerin und Essayistin. Sie lehrt an der University of Southern California und lebt mit ihrer Familie in Los Angeles. Für ihr hoch gelobtes Buch 'Die Argonauten', 2017 in deutscher Übersetzung veröffentlicht, wurde sie mit dem National Book Critics Circle Award ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihr 2020 'Die roten Stellen. Autobiographie eines Prozesses'.

Mordgemüt


Wir haben allen Grund zu der Annahme, dass sich dieser Fall rasch auf einen erfolgreichen Abschluss zubewegt.

Dies waren die Worte, die ein Detective der Michigan State Police eines Nachmittags Anfang November 2004 per Telefon an meine Mutter richtete. Nachdem sie aufgelegt hatte, rief mich meine Mutter an und wiederholte seine Botschaft.

Seine Worte überwältigten mich. Als sie die Worte sprach, sah ich, wie der Flur meines Apartments langsam zur Seite kippte, als sei hier alles kurz davor, zu einem Lachkabinett zu werden.

Seine Worte hatten auch sie überwältigt. Sie hatte den Anruf auf ihrem Handy entgegengenommen, als sie gerade mit ihrem Wagen unterwegs war, und sie hatte unmittelbar neben der staubigen Straße in der Nähe ihres Hauses in Northern California anhalten müssen, um die Wucht dieser Worte verarbeiten zu können.

Der Fall, um den es sich handelte, war der Mord an ihrer jüngeren Schwester Jane Mixer im Jahr 1969, der die letzten 35 Jahre offiziell als ungelöst galt. Der Detective teilte ihr mit, er habe die letzten fünf Jahre über fieberhaft an dem Fall gearbeitet, habe meine Mutter jedoch nicht benachrichtigen wollen, ehe eine Festnahme unmittelbar bevorstand. Und jetzt tat sie das.

Die Nachricht an sich wäre schon schockierend gewesen, doch der Zeitpunkt dieser Nachricht machte sie unheimlich.

Die letzten fünf Jahre hindurch habe auch ich fieberhaft an dem Mordfall meiner Tante gearbeitet, wenn auch aus einer anderen Perspektive. Ich hatte recherchiert und einen Gedichtband mit dem Titel Jane: A Murder über ihr Leben und ihren Tod geschrieben, dessen Veröffentlichung nun bevorstand. Ich hatte nicht geahnt, dass die Ermittlungen zum Mord an Jane noch andauerten; mein Buch handelte von einem ungelösten Mordfall, einem Cold Case, den die Ermittler vor langer Zeit zu den Akten gelegt hatten. Das Buch handelte davon, wie man leben könnte — oder eher, wie meine Familie lebte, wie ich lebte —, wenn man im Schatten des Todes eines Familienmitglieds stand, das offenkundig einen schrecklichen und furchtbaren Tod gestorben war, jedoch unter Umständen, die für alle Zeit unbekannt bleiben würden, unbekannt, unerkennbar.

Wenn ich diesen Detective — Detective-Sergeant Eric Schroeder — am 14. Januar 2005 zum ersten Mal treffe, während einer Voranhörung des Verdächtigen Gary Earl Leiterman, wird er mich umarmen und sagen: Ich wette, Sie haben gedacht, dass Sie über all die Jahre ganz allein daran gearbeitet hatten.

Tatsächlich, das hatte ich.

Ich wuchs auf mit dem Wissen, dass meine Mutter eine jüngere Schwester namens Jane hatte, die ermordet worden war, doch das war in etwa alles, was ich wusste. Ich wusste, Jane war 23 Jahre alt, als sie starb, und befand sich in ihrem ersten Studienjahr an der juristischen Fakultät der University of Michigan. Ich wusste, meine Mutter war zu der Zeit 25 und gerade frisch mit meinem Vater verheiratet. Weder meine Schwester Emily noch ich selbst waren zu dieser Zeit schon auf der Welt. Wir wurden im Norden Kaliforniens geboren, wo unsere Eltern in der Folge von Janes Tod hingezogen waren — Emily 1971, ich 1973.

Als ich aufwuchs, hatte ich eine vage Ahnung, dass die Tode anderer Mädchen auf irgendeine Weise mit Janes Ermordung in Verbindung standen, allerdings wusste ich nicht, auf welche Weise. Dann, eines Nachmittags — allein zu Hause, etwa 13 Jahre alt —, war ich im Arbeitszimmer meiner Mutter auf der Suche nach Lektüre bei einem Buchrücken hängengeblieben, der mir zuvor noch nie aufgefallen war. Obwohl das Buch fast außer Blick- und Reichweite stand, stach unter den anspruchsvollen literarischen Klassikern, die meine Mutter las und unterrichtete, der grelle, klatschpressehafte Schriftzug hervor, der lautete: The Michigan Murders, Die Morde in Michigan. Ich stieg auf einen Stuhl, um das dicke Taschenbuch herunterzuholen.

Diese simple Handlung war begleitet von einer übertragenen Angst, denn der erste von vielen Knochen, die ich mir als Kind brach — in diesem Fall ein gebrochener Ellbogen, der Wiederherstellungschirurgie und wochenlange Unbeweglichkeit in einem Streckverband nach sich zog —, war das Ergebnis der Besteigung eines Bücherregals auf der Jagd nach einem Buch. Passiert war dieser Unfall in einem Buchladen in Sausolito, der Hafenstadt außerhalb von San Francisco, wo ich die ersten Jahre meines Lebens verbrachte. Ich war zu jener Zeit erst zwei Jahre alt, doch ich erinnere mich an einen hellbunten Hasen auf dem Titelbild des Buchs, und ich erinnere mich an den verzweifelten Wunsch, ihn haben zu wollen.

Nach diesem Unfall hatte ich einen wiederkehrenden Traum. Es war ein Traum über das Fallen — oder Springen — vom Carport unseres Hauses in Sausolito in die Einfahrt darunter, also in meinen Tod. Ich muss sehr klein gewesen sein, als ich diesen Traum träumte, drei vielleicht. In dem Traum strömt eine Menschenmenge herbei, um meinen Körper zu begutachten, der am unteren Ende der Einfahrt liegt, als wäre sie der Fuß eines steilen Amphitheaters. Es ist schwer, sich jetzt an die Stimmung des Traumes zu erinnern: Ich erinnere mich an einen Schrecken über mein Handeln, ein Gefühl von Distanziertheit, eine tiefe Traurigkeit und ein gewisses Unbehagen darüber, dass mein Körper als Leiche begutachtet wird.

Das Cover von The Michigan Murders zeigt ein falsches Foto eines Models, das mit Farrah Fawcett Ähnlichkeit hatte, dessen obere Gesichtshälfte sich abschälte und darunter ein Infrarot-Negativ preisgab. Die farbliche Gestaltung und die Grafik, gemischt mit der Verstohlenheit, die ich empfand, als ich es betrachtete — sie riefen mir sofort eine bestimmte Ausgabe des Playboy ins Gedächtnis, mit dessen genauer Analyse ich eine geraume Zeit im Badezimmer meines Vaters zugebracht hatte: die Valentinstags-Ausgabe von 1980 mit Suzanne Somers. Ich erinnere mich, dass mein Vater ein Faible für Suzanne Somers gehabt hatte.

Ich schlug die erste Seite von The Michigan Murders auf und las: In einem Zeitraum von zwei Jahren wurden sieben junge Frauen im Washtenaw County auf so brutale Weise ermordet, dass der Boston-Würger im Vergleich dazu wie ein Sterbehelfer aussieht.

Begierig blätterte ich durch das Buch, und ich dürstete danach, darin etwas — irgendetwas — über Jane und über meine Familie zu finden. Ich begriff sehr schnell, dass alle Namen geändert worden waren. Doch ich ahnte, dass ich der Sache näher kam, als ich las:

Ein Polizist hatte das Jahrbuch der Klasse von 1968 der University of Michigan [zum Tatort] gebracht, und das darin befindliche lächelnde Ebenbild der Studentin Jeanne Lisa Holder aus Muskegon, Michigan, hatte tatsächlich Ähnlichkeit mit dem verschwollenen Gesicht der jungen Frau, die leblos, alle viere von sich gestreckt, auf dem Pleasantview-Friedhof lag.

»Jeanne Lisa Holder« hatte eine Ähnlichkeit mit »Jane Louise Mixer«. Eine Schicht hatte begonnen, sich abzuschälen.

Jahre später, mitten im Dickicht der Recherche und der Schreibarbeit an Jane, war das Problem nicht, dass es zu wenig Informationen gab. Es waren zu viele. Nicht was Jane betraf — ihre Ermordung blieb auf unerträgliche Weise undurchsichtig —, sondern die anderen jungen Frauen, deren furchtbare Vergewaltigungs- und Mordfälle auf qualvoll detaillierte Weise in den damaligen Zeitungen, einigen True-Crime-Büchern und auf vielen »serial killer chick«-Webseiten beschrieben worden waren. Es gab Diagramme, wie jenes in der Detroit Free Press vom 28. Juli 1969, das unter dem Titel »Ein Muster des Todes: Eine Anatomie von sieben brutalen Morden« erschien und die Einzelheiten der Taten nach Kategorien ordnete: »Zuletzt gesehen«, »Fundort«, »Art des Mordes«, »Andere Verletzungen«, und so weiter. Die Einträge waren kaum zu ertragen.

Während meiner Recherchen begann ich an etwas zu leiden, das ich mein »Mordgemüt« nannte. Den ganzen Tag über gelang es mir, mit einer gewissen Distanziertheit an meinem Projekt zu arbeiten und dabei munter in meinem Reimlexikon die Worte »Kugel« oder »Schädel« nachzuschlagen. Nachts allerdings musste ich feststellen, wie mich im Bett brockenweise widerwärtige Bilder von Gewalttaten heimsuchten. Wiederholungen der Gewaltakte gegen Jane, gegen die anderen Mädchen der Michigan-Morde, gegen die geliebten Menschen in meinem Leben, gegen meine Angehörigen, gegen mich selbst und manchmal, am furchtbarsten, Gewaltakte, ausgeführt von mir selbst. Diese Bilder stürmten in beliebigen Abständen durch meinen Verstand, doch dabei stets wiederkehrend mit derselben schlagenden,...

Erscheint lt. Verlag 27.1.2020
Übersetzer Jan Wilm
Sprache deutsch
Original-Titel The Red Parts: Autobiography Of A Trial
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Argonauten • bluets • Böse • Capote • Crime • DNA-Spur • Gerechtigkeit • Gerichtsprozess • Gesellschaftskritik • Gewalt • jamison • kaltblütig • leslie • Michigan • Mordfall • Mordserie • Mysterium • #ohnefolie • ohnefolie • Selbstversuch • Sexualmord • Story • Trauer • Trauerverarbeitung • True • Truman • Verbrechen • Verlust • Waffengesetze
ISBN-10 3-446-26734-4 / 3446267344
ISBN-13 978-3-446-26734-3 / 9783446267343
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