Der Verrückte in den Dünen (eBook)

Über Utopie und Literatur

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
256 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32139-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Verrückte in den Dünen -  Uwe Timm
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Eine inspirierende, kluge Reflexion über die Kraft der Utopie. Utopien haben Uwe Timm zeit seines Lebens beschäftigt: in seinem literarischen und essayistischen Werk ebenso wie auf seinen Reisen. Im vorliegenden Band geht Uwe Timm der Frage nach, welch philosophische, künstlerische und gesellschaftlich gestaltende Kraft der utopische Gedanke heute noch entfaltet. Er beleuchtet das utopische wie dystopische Moment in Klassikern der Weltliteratur, erzählt von einer Reise nach Paraguay und untersucht gegenwärtige Aspekte utopischen Denkens im öffentlichen Bereich, etwa bei Graffitikünstlern. In Uwe Timms brillanten Betrachtungen und Erzählungen behauptet sich die Utopie als Verteidigung eines besseren Zusammenlebens, gegen alle Versuche, sie in ein System zu pressen oder ideologisch zu diskreditieren. Sie setzt die Kraft der Wünsche frei und somit die Kraft für die Zukunft.

Uwe Timm, geboren 1940 in Hamburg, lebt in München und Berlin. Sein Werk erscheint seit 1984 bei Kiepenheuer & Witsch in Köln, u.?a.: »Heißer Sommer« (1974), »Morenga« (1978), »Der Schlangenbaum« (1986), »Kopfjäger« (1991), »Die Entdeckung der Currywurst« (1993), »Rot« (2001), »Am Beispiel meines Bruders« (2003), »Der Freund und der Fremde« (2005), »Halbschatten« (2008), »Vogelweide« (2013), »Ikarien« (2017), »Der Verrückte in den Dünen« (2020).

Uwe Timm, geboren 1940 in Hamburg, lebt in München und Berlin. Sein Werk erscheint seit 1984 bei Kiepenheuer & Witsch in Köln, u. a.: »Heißer Sommer« (1974), »Morenga« (1978), »Der Schlangenbaum« (1986), »Kopfjäger« (1991), »Die Entdeckung der Currywurst« (1993), »Rot« (2001), »Am Beispiel meines Bruders« (2003), »Der Freund und der Fremde« (2005), »Halbschatten« (2008), »Vogelweide« (2013), »Ikarien« (2017), »Der Verrückte in den Dünen« (2020).

Der Verrückte in den Dünen


Zwei Männer gehen am Strand entlang, dort, wo der Sand noch feucht und fest ist. Zu ihrer Rechten ziehen sich die Dünen nach Süden. Hin und wieder trägt eine Böe den Schaum der auslaufenden Wellen herüber. Der eine, ein großer blondbärtiger Mann, schiebt an einer Metallstange ein Speichenrad vor sich her. In dem kleinen Kasten am Griff der Stange sind mit einem gleichmäßigen Klicken die Meter, die sie gehen, zu hören. Den Bärtigen begleitet ein junger Mann, man würde sagen Jüngling, hätte er nicht diesen gedrungenen kraftvollen Körperbau. Er trägt mehrere angespitzte Pflöcke auf der Schulter, in der Rechten hält er einen langen Holzhammer, wie ihn Zimmerleute benutzen, wenn sie Dübel in Balken treiben oder Bretter verfugen.

Sie gehen nun schon den dritten Tag den Strand entlang, und wie an den anderen beiden Tagen setzen sie sich zur Mittagszeit in den Sand und trinken aus den Feldflaschen, die sie an Riemen um den Hals tragen. Sie essen ungesäuertes Brot. Der junge Mann schneidet Streifen von dem an der salzigen Luft getrockneten Rindfleisch ab und bietet dem älteren ein Stück an. Der schüttelt den Kopf. Der Gehilfe kann oder will nicht begreifen, dass der Bärtige in diesem Land der Rinder kein Fleisch essen mag. Sie sitzen nebeneinander und kauen und blicken über das Meer. Ihre Unterhaltung ist in der Einsamkeit aus Sand und Wind und Wasser meist nur ein Grunzen und ein Kopfnicken, demütig von dem Jungen, der auch gleich aufspringt, als der Bärtige sich erhebt und mit einer Handbewegung über das Meer weist, was wohl heißen soll, dass es weit ist und fischreich. Und der junge Mann nickt, und sein Murmeln heißt wohl: Ja.

Der Junge schultert die Holzpflöcke, nimmt den Hammer, und der Bärtige hebt das Gerät, die Stange und das Speichenrad auf. So gehen sie dahin nach Süden. Die Brandung bricht sich mit einem rhythmischen Dröhnen, der Bärtige prüft hin und wieder die Zahl in dem kleinen Kasten. Fast vier Stunden sind sie gegangen, als der Bärtige plötzlich stehen bleibt und auf den Boden zeigt.

Hier, ruft er, bis hierher reicht das Freiland. Und er macht abermals eine raumgreifende Handbewegung über Strand, Wasser und die Dünen. Und zum ersten Mal in diesen drei Tagen spricht er länger: Hier wird die Stadt sein, und sie wird den Namen tragen des Vaters.

Der Gehilfe sagt stockend: Profeta, so wird es sein.

Er wirft die Holzpfähle in den Sand und nimmt eine der Stangen, diejenige mit drei roten Ringen, bohrt sie ein wenig in den Sand und reicht den Hammer dem Bärtigen. Der schlägt mit fünf wuchtigen Schlägen den Grenzpfahl in den Boden.

 

Das ist der Gründungsmythos der Stadt Villa Gesell. 10000 Meter mal 1600 Meter an der Atlantikküste Argentiniens, nördlich von Mar del Plata, südlich von Buenos Aires.

In der grünen, tausend Kilometer flachen Langeweile plötzlich heller Sand, Hügel, bewegt wie große Wellen, die sich ins Land schieben. Dieses Stück Dünenland hatte Carlos Gesell von einem Estanciero gekauft. Grund und Boden für eine Gemeinde, einen Ort, wo es keinen Alkohol und keinen Zins geben würde, hier sollten das Zuchtwahlrecht der Frau und die Freiwirtschaft gelten. Der Prophet hatte die Vorstellung von einem Seebad. Vor allem sollten die Hügel grün werden, belebt von Laub im Wind, dem silbrigen Flirren der Pappeln. Er wollte eine grüne Stadt am Meer gründen. Einen Ort mit Strahlkraft, im Diesseits ein friedliches Zusammenleben, ein weltliches Jerusalem, nicht Gott, sondern dem Menschen gefällig, wie der Bärtige seinem Gehilfen sagte, einem Russlanddeutschen aus einer Siedlung in Entre Ríos, dort, wo die von der Wolga Vertriebenen, altgläubig lutherische Bauern, sich niedergelassen hatten, Heinrich mit Namen, und nur langsam und mit Mühe kamen die harten deutschen Silben aus seinem Mund.

Sand, Hügel, kleine Mulden. Diese Landschaft war in einer nicht vorhersehbaren Richtung ständig in Bewegung. Wenn sie vom Gehen ruhten, beobachtete der Gehilfe, wie der feine helle, hin und wieder mit kleinen bläulichen, auch grünlichen Körnern durchsetzte Sand sich bewegte, ein ständiges Rieseln, wie ein Lebewesen. So schoben sich die Dünen langsam, aber beharrlich in das flache, bis zum Horizont reichende Weideland – die Pampa.

Warum nur, grübelte der Bauernbursche, hatte der Prophet nicht das Weideland gekauft, wo man Rinder grasen lassen konnte, Ziegen und Schafe? Warum diese Sandberge?

Der Bärtige blickte mit seinen blauen Augen über die Dünen und sprach: Dort werden Häuser stehen, werden Menschen leben, werden einmal Blumen, Bäume und Büsche wachsen.

Hier, in diesem Sand? Wo nur Salzwasser ist? Wie soll das gehen?

Sie standen und schwiegen.

Hier, antwortete der Bärtige und zeigte auf eine Sandmulde hinter einem runden Hügelkamm, hier ist Wasser.

Sie schafften das Bohrgestänge in die Mulde und begannen an der angedeuteten Stelle zu bohren. In vier Meter Tiefe fanden sie in dem Sand eine große Wasserlinse. Der Bauernbursche trank und sagte: Es ist süß, Profeta.

Der Notar, der den Kaufvertrag in Madariaga beglaubigt hatte, nannte ihn nicht Prophet, sondern einen Verrückten. Und er sagte, nachdem er, um die Beglaubigung zu beschleunigen, mit einem guten Handgeld bestochen worden war: Des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Cada rey manda en su reino.

Das Land, das der Verrückte von dem Estanciero gekauft hatte, war im Preis zwar günstig, aber dennoch wertlos. Allenfalls konnte man von hier Bausand verschicken. Aber das taten schon andere an anderen Dünen, und die Preise waren so niedrig, dass es sich nicht lohnte, Geld in ein Lastautomobil zu investieren, um den Sand in die Hauptstadt zu transportieren.

1648 Hektar hatte Don Carlos gekauft, den Hektar zu zweiundzwanzig Dollar. Der Notar wusste, das Geld war sauber, und auch wenn es nicht sauber gewesen wäre, hätte er den Vertrag beglaubigt. Das Geld kam aus dem Verkauf des vom Vater Silvio Gesell gegründeten Geschäfts, der Casa Gesell in Buenos Aires: Kinderwagen, Schnuller, Sanitätsartikel, Öle zum Einreiben der Kleinkinder, Bauchbinden für Schwangere. Don Carlos hatte seinen Betriebsanteil an seinen Bruder verkauft. Anstatt das dank der hohen Geburtenrate florierende Geschäft zu erweitern und Dependancen in anderen Städten zu gründen und das Leben in Buenos Aires mit seiner Oper, seinen Theatern und Varietés zu genießen, war dieser in Jesuslatschen gekleidete Carlos Gesell, genannt der Prophet, dem ob seines ruhelosen Tatendurstes etwas typisch Deutsches nachgesagt wurde, in diese öden Sandberge gegangen. Auch war seine Frau mit ihren sechs Kindern ihm gefolgt, und mit ihr kamen seine beiden Halbschwestern Sonja und Dodo, beide noch im Kindesalter. Für sie hatte er ein Holzhaus vor den Dünen errichtet.

 

Vergilbt gewellte Fotos zeigen überbelichtet Carlos Gesell mit dem Bauernburschen. Sie arbeiten, zwei dunkle Schatten, gebückt auf dem hügeligen Sand.

Sie steckten Weidengeflechte um einen Piniensetzling in den Sand. Carlos Gesell hatte Holzpfähle und Weidenruten aus dem Delta des Paraná bestellt. Holz war an diesem kilometerlangen Strand und in der baumlosen Pampa selten. Engländer hatten im vergangenen Jahrhundert für den Bau der Bahnlinie die Talabäume abgeholzt. Die Weidenbündel waren mit der Eisenbahn bis Madariaga transportiert und dann von einem dort ansässigen Händler, einem Iren, hierher an die Küste gebracht worden. Der Händler brachte auch Ziegelsteine und Holz für den Bau eines Hauses. Es sollte, auf einer Düne stehend, eine steinerne Selbstverpflichtung sein, nicht zu weichen. Eine Trutzburg, die gegen diesen ewig rieselnden Sand verteidigt werden musste. Eigenhändig entworfen von Carlos Gesell, rechteckig mit einem flachen Walmdach, das umlaufend eine Terrasse vor Sonne und Regen schützte. Und ganz wichtig: vier Türen, die an jeder Seite nach draußen führten, um so die morgens jeweils versandete Seite wieder freischaufeln zu können. Ein Dünenhaus. Zunächst und vor allem musste jedoch die Bewegung der Dünen zum Stehen gebracht werden. Landeskenner hatten gewarnt, und tatsächlich, die Weidengeflechte hatten den Flugsand nicht aufhalten können. Schon bald waren sie zugeweht oder fielen samt Setzling um.

Carlos Gesell nahm abermals von dem Geld aus dem verkauften Anteil am Kinder-und-Säuglinge-Geschäft und ließ aus Deutschland einen diplomierten Landwirt mit dem vielversprechenden Namen Bodesheim samt Ehefrau kommen. Trotz der Warnung des diplomierten Landwirts bestand Gesell darauf, dreitausend Sandkiefern zu setzen. Drei Monate lang arbeiteten der Landwirt, der Bauernbursche und Carlos Gesell im Sand. Die Kiefernsetzlinge wurden mit angeschwemmten Hölzchen und gerupftem Strandgras umgeben, eine Maßnahme zur Befestigung und als Dünger.

Endlich war die Arbeit getan. Drei Tage ruhten der tatenfrohe Prophet, der ihn bewundernde Bauernjunge und der diplomierte Landwirt. Am fünften Tag sprang der Wind von Ost nach Süd um, und ein kalter südpolarer Sturm fegte zwar die Wolken vom Himmel, aber auch lange Sandfahnen über die Dünen. Drei Tage dauerte der Sturm. Als er sich legte, waren die dreitausend Setzlinge verschwunden. Nur hier und da ragten noch vereinzelt kleine Wurzeln wie Krallen in den Himmel.

Zwei Tage kam der Prophet nicht aus seiner Hütte. Seine Halbschwestern brachten ihm Wasser. Nahrung verweigerte er. Sie sagten, so hätten sie ihn noch nie erlebt – betrübt und verzagt. Am dritten Tag erschien er und tat den Mund auf: Wir müssen von vorne anfangen.

Der diplomierte Landwirt sagte: Alles, was man...

Erscheint lt. Verlag 5.3.2020
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Kunst / Musik / Theater
Schlagworte 80. Geburtstag Uwe Timm • Am Beispiel eines Autors • Am Beispiel meines Bruders • Die Entdeckung der Currywurst • Ikarien • Literaturgeschichte • Literaturtheorie • Street Art • Uwe Timm Werk • Weltliteratur
ISBN-10 3-462-32139-0 / 3462321390
ISBN-13 978-3-462-32139-5 / 9783462321395
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