Labyrinth (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
160 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-24230-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Labyrinth -  Burhan Sönmez
Systemvoraussetzungen
14,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Boratin, ein junger Musiker öffnet nach einem Selbstmordversuch in einem Istanbuler Krankenhaus die Augen. Er kann sich an nichts erinnern, nicht einmal an seine eigenen Lieder. Für ihn besteht kein Zweifel daran, dass die einzige Wahrheit sein geschundener Körper ist. Nicht wissend, ob das Vergessen nun Fluch oder Segen ist, begibt er sich nach draußen, auf die Suche nach sich und seiner Geschichte, mitten hinein in die flirrende Metropole am Bosporus, die ihm in ihrer Gebrochenheit und ihrer Geschichtsvergessenheit zum Erschrecken ähnlich ist. Wir folgen Boratin auf seiner Suche, und wissen dabei nie mehr, als er selbst. Seine unbeantworteten Fragen werden zu Fragen, nach deren Beantwortung wir selbst suchen. Der Titel des Romans ist dabei keine Übertreibung, denn in all dem Chaos gibt Burhan Sönmez seinen Lesern einzig seine unnachahmlich eindringliche und leise Sprache als Orientierungsmittel an die Hand. Ein Roman voller Traurigkeit und tiefer Strahlkraft vom Autor des Bestsellers »Istanbul, Istanbul«.

Burhan Sönmez wurde 1965 in Zentralanatolien geboren und wuchs sowohl mit der kurdischen als auch der türkischen Sprache auf. Er studierte Jura in Istanbul. Sönmez war Mitglied des türkischen Menschenrechtsvereins IHD und Gründungsmitglied der demokratischen Stiftung TAKSAV. Bei einem Übergriff durch die Polizei wurde er 1996 in der Türkei schwer verletzt und anschließend mit Unterstützung der Freedom-from-Torture-Stiftung in England medizinisch versorgt. Er unterrichtet an der Middle East Technical University in Ankara, schreibt für verschiedene unabhängige Medien. Er ist aktives Mitglied des kurdischen, türkischen und englischen PEN, und ist seit 2021 Vorsitzender des PEN International. Burhan Sönmez lebt mit seiner Familie in Istanbul und Cambridge. Seine preisgekrönten Romane erscheinen inzwischen in über zwanzig Ländern.

Die Bosporusbrücke hinunter


1


Der Wecker läutet. Er klingt wie eine Kajütglocke auf einem Frachter, die abgekämpfte Matrosen zum Essen ruft. Wer erinnert sich heute noch an Frachtschiffe? Das Klingeln kommt aus der Wohnung nebenan, vielleicht auch aus einem Traum. Aus dem Traum von jemandem, der nebenan schläft. Durch die offene Balkontür weht Wind herein. Die Gardine bewegt sich. Welche Jahreszeit es auch sein mag, die morgendliche Kühle erfrischt. Als der Saum der Gardine zum Bett hinüberflattert, wird das Weckerklingeln lauter. Mit geschlossenen Augen streckt Boratin die Hand aus, um den Wecker auszuschalten. Die Hand tastet auf dem Nachttisch herum. Hält inne. Zögert, tastet weiter. Als er den Wecker nicht findet, schlägt er die Augen auf. Draußen dämmert der Morgen. Die Gegenstände im Zimmer sind Schemen. Wo ist er? Nach einem Krankenhauszimmer sieht es nicht aus. Die Wolldecke, der Balkon und das Fenster passen nicht dorthin. Nein, das ist kein Krankenhaus. Ich glaube ich bin zu Hause. Durch das Fenster ist der Himmel zu sehen. Auf dem Nachttisch stehen Medizindosen am gegenüberliegenden Rand. Die Medikamente halfen beim Einschlafen, den Kopfschmerz unterbanden sie nicht. Erneut schließt er die Augen. Seine Hand fällt aufs Kissen. An einem Baum nah am Balkon rascheln die Blätter, Kühle streicht über seine bloßen Arme.

Boratin wacht auf, als es hell ist und der Wind sich gelegt hat. Die Gardine regt sich nicht. Draußen ein Dröhnen, das in fernen Stadtteilen Fahrt aufnimmt und anschwillt, bis es hier ist. Er schaut sich um, versucht herauszubekommen, ob er hier schon früher war. Das Zimmer ist geräumig. Schlicht ist das Elfenbein der Wände, das Ahornfurnier am Kleiderschrank gegenüber aber ist zu hell. Ein dunklerer Farbton hätte besser dorthin gepasst. Wer hat den Schrank ausgesucht, ich? Boratin zweifelt an seinem Geschmack. Er hatte gehofft, die Wohnung, die er gestern Abend, als man ihn herbrachte, nicht erkannt hatte, würde ihm helfen, sich zu erinnern, wenn er am Morgen erwacht. Balkontür, Schrank und Nachttisch lassen ihn an ein Hotelzimmer denken, in dem er sich zum ersten Mal aufhält. Nur die Medikamentendosen sind ihm bekannt. Er richtet sich auf, setzt sich auf die Bettkante. Schmerz in der Brust lässt ihn verkrampfen. Er schiebt das Unterhemd hoch, beäugt seine Rippen. Um besser sehen zu können, stellt er sich vor den Spiegel. Rechts ist eine Rippe gebrochen. Er berührt die Stelle. Ein Brennen unter der Haut. Glück gehabt, sagten sie. Nur ein Bruch. Ansonsten keine physischen Schäden, Gedächtnisverlust zählt nicht zur Physis. Er hebt den Blick, mustert sein Gesicht. Das Gesicht, mit dem er vor einer Woche Bekanntschaft machte. So frisch. Hallo, Fremder, sagt er. Das Gesicht im Spiegel, das verraten die Bewegungen der Lippen, antwortet mit denselben Worten. Genau wie gestern Abend. Es war still, als er gestern Abend die Wohnung betrat. Vorsichtig war er durch die Zimmer gestreift, als besichtigte er ein Museum, passierte bedächtig die Gitarren und den Nippes. Aus der Kliniktüte kramte er die Medikamente hervor. Trank zwei Gläser Wasser. Betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Legte Hemd, Hose und Strümpfe ab. Streckte sich auf dem Bett aus, schloss die Augen und wartete reglos ab. Zählte seine Atemzüge. Er hatte nicht vergessen, wie man zählt. Einundvierzig, zweiundvierzig, dreiundvierzig. Dann war er eingeschlafen.

In der Klinik hatte man ihm gesagt, er solle sich keine Sorgen machen. Sie haben Ihr Gedächtnis verloren, keine Angst, das kommt mit der Zeit zurück, sagten sie. Erst versorgten sie seine Rippe, dann fragten sie sich, was diesem Mann, der versuchte, aus seiner gebrochenen Rippe und dem leeren Gedächtnis einen ganzen Menschen zu basteln, durch den Kopf gehen mochte. Seltsam, sagte er zur Ärztin, Sie interessieren sich viel mehr für mich als ich selbst. Das ist mein Job, entgegnete die Ärztin. Das Gedächtnis zu verlieren mag erschreckend wirken, Boratin Bey, aber Ihre Situation ist relativ gut. Immerhin wissen wir von den Karten in Ihrem Portemonnaie, wer Sie sind und wo Sie wohnen. Das ist ein Teil von Ihnen, auch wenn Sie sich nicht daran erinnern, genau wie das Tattoo auf Ihrem Rücken, von dem Sie nicht wissen, wo und warum Sie es stechen ließen. Sie besitzen Dinge, die Sie zwar jetzt nicht einordnen können, doch mit der Zeit wird sich alles zusammenfügen. Was auch immer Ihre Vergangenheit sein mag, vielleicht wollten Sie sich von einem Aspekt dieser Welt befreien, der Sie belastet hat. Sie hatten die Chuzpe dazu, es ist Ihnen ja auch gelungen. Sie haben Ihr Ziel auf unverhofftem Weg erreicht. Die Bosporusbrücke hinunter ... Von nun an werden Sie Ihren Weg besser zeichnen.

Geben Sie all Ihren Patienten neben Medikamenten solche Hoffnungen mit auf den Weg, Frau Doktor? Dann erklären Sie mir doch bitte Folgendes: Mein Verstand ist angefüllt mit Wissen, über mich selbst aber findet sich kein einziges Wort. Die Namen von antiken Philosophen, die Farben der Fußballvereine, die Worte des ersten Astronauten auf dem Mond, all das weiß ich. Doch über mich selbst entdecke ich keine Spur in meinem Kopf, nicht einmal an meinen Namen erinnere ich mich. Sie nannten mir einen Namen, ich nahm ihn an.

Ich suche nach einem beruhigenden Hinweis, einem richtungweisenden Ausdruck in dem Gesicht im Spiegel. Ich halte mein Ohr an das Gesicht im Spiegel, an die Stelle, wo der Mund sitzt. Glatt. Kühl. Ich vernehme das Rauschen einer Welle, die hier vor Äonen eingeklemmt wurde. Dunkles Verlangen. Den feuchten Geruch eines Verlieses. Ich nähere mich einer Zeit, in der ich einst lebte, aus der ich jetzt aber herausgefallen bin. Als ich versuche, diesmal über andere Stufen in mein Gedächtnis hinunterzusteigen und die blaue Lampe im Bunker der Vergangenheit einzuschalten, lässt mich ein Schrillen zusammenfahren. Kommt es von innen oder von außen? Es hört sich wie der Wecker an, der die ganze Nacht über klingelte. Ich folge dem Geräusch in den Korridor. Passiere eine bedrückende Szenerie. Am anderen Ende des Wohnzimmers entdecke ich ein rot-schwarzes Telefon. Ich bleibe stehen, überlege, was zu tun ist. Bevor ich mich entscheiden kann, schweigt das Telefon. Es hat einen altmodischen Hörer und keine Tasten, sondern eine Wählscheibe. Und goldene Verzierungen, wie alte Leute sie mögen. Da läutet es erneut. Beharrlicher jetzt. Wenn ich rangehe, wird mich eine fremde Stimme fragen, wie es mir geht. Ohne es für nötig zu halten, sich vorzustellen. In der Annahme, ich würde sie schon erkennen. Schweige ich, wird sie ihre Frage wiederholen. Nach einem Augenblick des Zögerns wird sie an meiner Stelle reden. Wird von Dingen sprechen, die wir tun müssen. Wird an eine Sitzung oder ein Essen erinnern. Wird von den Unglücksfällen des Lebens bramarbasieren. Wird nach ein wenig Mitgefühl in bedauerndem Tonfall Vorwürfe machen. Wird sämtliche Miseren der Welt herunterleiern, bei jedem Ungemach ein Opfer benennen und mir, bevor ich die Chance habe, das Gespräch abzubrechen, den Fluch der Opfer an den Hals hängen. Wird, je länger ich schweige, von Thema zu Thema springen. Bei den Gefallen, die ich ihr getan habe, wird sie langsamer werden, wird sagen, mir sei zu verdanken, dass ihr die Wohltaten der Welt zuteilwurden, sie verstehe bloß nicht, warum ich in diese Lage geraten bin. Das werde ich nutzen, um das Wort zu ergreifen. Ich verstehe ja selbst nicht, warum ich in diese Lage geraten bin, werde ich sagen. Werde sie bitten, mir einen Gefallen zu tun und unverzüglich alle Geheimnisse über mich, von denen sie weiß, preiszugeben. Da ich mein Gedächtnis verloren habe, habe ich auch all die Jahre meines Lebens verloren, ich stehe am Nullpunkt. Ich werde sie um Erbarmen bitten, als wäre sie die Hüterin, die meine Vergangenheit in Händen hält. Dafür werde ich die allerbesten Wörter wählen. Werde der Stimme am anderen Ende der Leitung von einer Geschichte erzählen, die noch in einem Winkel meines Verstandes steckt. So fern die Vergangenheit ist, so fern ist auch die Zukunft. Ich kenne die Wege der Sterne nicht. Ich fühle eine Lawine heranrauschen, eine Lawine, die sich hinter Türmen und Wolkenkratzern gewaltig aufbaut, in den Verkehrslärm mischt und heranwälzt. Mein Herz drängt mich zur Eile. Ich trete ans Fenster, ziehe den Vorhang vor. Schließe ihn fest, damit von nirgendwoher Licht eindringt. Das Telefon verstummt.

2


Ich setze mich auf das Sofa und warte darauf, dass das Telefon wieder klingelt. Auf dem Kaminsims fällt mir zwischen Kerzen in verschiedenen Farben eine marmorne Skulptur auf. Sie stellt Mutter und Sohn dar. Ich kenne die beiden. Maria hält ihren Sohn Jesus auf dem Schoß und schaut in sein lebloses Gesicht. Wie Wasser fließen die Marmoradern Maria von der Stirn über die Nase, weiter zu ihren Lippen. Jesu Körper ist bloß, ich kann die Rippen auf der rechten Brustseite zählen. Mit einem Arm hält Maria ihren Sohn, den anderen streckt sie wie Hilfe suchend aus. Ich erinnere mich an die beiden, kann aber die Zeit nicht einordnen. Wie viele Jahre ist das her? Geschah ihr Jammer vor wenigen Jahren oder vor ein paar Tausend?

Straßenhändler, lärmende Kinder, Taxis mit laut aufgedrehter Arabesk-Musik bevölkern die Gasse, ich fühle mich sicher in dieser Wohnung, von der ich nicht weiß, warum sie meine sein soll, trotz allem. Bevor man sich an Menschen gewöhnt, sollte man sich an die Dinge gewöhnen, sich einen Platz unter ihnen sichern. Der Rest ist fragen, Stimmen lauschen, durch Zimmer wandern und auf die Antworten warten. Ich weiß nicht, wie lange ich warten soll. Was, wenn nie Antwort kommt? Neben dem Kamin ist Holz aufgestapelt. Im hölzernen Schrank drängen sich Flaschen mit alkoholischen Getränken. Im Wohnzimmer Gitarren, Schallplatten, Beistelltische, Kronleuchter, Teppiche,...

Erscheint lt. Verlag 2.3.2020
Übersetzer Sabine Adatepe
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Labirent
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bosporus • eBooks • Gedächtnisverlust • Großstadtroman • Islam • Istanbul • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Musiker • Roman • Romane • Selbstfindung • Suchen und Finden • Türkei • Vergessen • Wer bin ich?
ISBN-10 3-641-24230-4 / 3641242304
ISBN-13 978-3-641-24230-5 / 9783641242305
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,0 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99