Tagebuch IV (eBook)
350 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-95757-750-4 (ISBN)
Henry David Thoreau, 1817 in Concord, Mass. geboren, studierte von 1833 bis 1837 an der Harvard University. 1838 gründete er mit seinem Bruder eine Privatschule. 28-jährig zog er sich für zwei Jahre in eine Hütte am Walden Pond zurück und schrieb sein berühmtestes Buch. Als er 1846 verhaftet wurde, verfasste er den Essay Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat. Ab 1849 verdingte er sich als Tagelöhner, Anstreicher, Tischler, Landvermesser und Vortragsreisender. Bereits seit 1835 litt er unter Tuberkulose, der er 1862 erlag.
Henry David Thoreau, 1817 in Concord, Mass. geboren, studierte von 1833 bis 1837 an der Harvard University. 1838 gründete er mit seinem Bruder eine Privatschule. 28-jährig zog er sich für zwei Jahre in eine Hütte am Walden Pond zurück und schrieb sein berühmtestes Buch. Als er 1846 verhaftet wurde, verfasste er den Essay Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat. Ab 1849 verdingte er sich als Tagelöhner, Anstreicher, Tischler, Landvermesser und Vortragsreisender. Bereits seit 1835 litt er unter Tuberkulose, der er 1862 erlag.
Januar
1. Januar(…)
Ich habe beobachtet, dass die eine Stimmung der natürliche Kritiker der anderen ist. Wenn ich von einer starken Empfindung für einen Gegenstand erfüllt bin, der demjenigen fremd ist, über den ich gerade schreiben mag, dann weiß ich sehr wohl, was ich über Letzteren an Gutem oder Schlechtem geschrieben habe. Er sieht für mich jetzt so aus, wie er in zehn Jahren aussehen wird. Mein Leben ist dann ernsthaft und wird weder Notbehelf noch Unsinn dulden. Durch solch einen Prüfstein werden Tand oder Schwulst oder Belanglosigkeit aufgedeckt. Im Licht einer starken Empfindung nehmen alle Dinge ihren Platz ein, und Wahrheit jeder Art wird als solche angesehen. Lasst mich jetzt meine Verse lesen, und ich werde euch sagen, ob ein Gott seine Hand im Spiel hatte. Für einen Augenblick möchte ich mein Gedicht aus dem ungünstigsten Blickwinkel betrachten. Ich wünsche, in die Zukunft versetzt zu werden und mein Werk anzuschauen, als sei es ein Bau auf der Ebene, damit ich beobachten kann, welche Teile unter der Wirkung der Elemente eingestürzt sind.
Halb acht abends. – Nach Fair Haven.
Mond etwas mehr als halb voll. Keine Wolke am Himmel. Es ist bemerkenswert warm für die Jahreszeit, der Boden fast völlig kahl. Die Sterne sind strahlend hell. Vielleicht liegt das an meiner eigenen Dürftigkeit, doch mir scheint, dass der winterliche Nachthimmel eine gewisse Armut hat. Die Sterne der ersten Größenklasse sind heller und blendender und scheinen daher näher und zahlreicher zu sein, während diejenigen, die im Sommer undeutlich und unendlich fern erscheinen, wodurch sie zum Eindruck der Unergründlichkeit des Himmels beitragen, fast überhaupt nicht zu sehen sind. Die näheren Räume des Himmels sind so hell erleuchtet, dass sie die ferneren ganz überstrahlen. Der Himmel hat sich um viele Grade gesenkt.
Der Fluss ist gestiegen und hat wieder die Wiesen überflutet. Die Weymouthskiefern werden jetzt wieder vor dem Mond erblickt und wirken mit ihrem einfachen Laubkleid dünn.
Dies sind einige der Unterschiede zwischen dieser Nacht und den Herbst- oder Winternächten: der erstarrte Boden unter meinen Füßen, die blendende und scheinbare Nähe der Sterne, der schwächere Glanz vom Eis auf Flüssen und Seen, die weißen Flecken auf den Feldern und Streifen an den Mauerseiten mit den Resten noch nicht geschmolzener Wehen. Das Einzige vielleicht, das mich auf diesem Spaziergang ansprach, war der kahle, mit Flechten bedeckte graue Fels bei der Klippe, im Mondlicht nackt und fast warm wie im Sommer.
(…)
3. JanuarEichengalläpfel sind eine Winterfrucht. Jetzt, da das Laub fort ist, treten sie deutlich hervor und glänzen in der Sonne. Einige Bäume sind ganz voll von ihnen. Legen sie nicht nahe, dass jede pflanzliche Frucht auch nichts anderes ist als das Eiweiß um junges tierisches Leben?
Der Boden war einige Tage lang unbedeckt gewesen, und wir hatten warmes Wetter. Der Fluss war gestiegen, und jetzt sind die Flutwiesen so gefroren, dass sie tragen – ein dunkles, dünnes, aber ziemlich undurchsichtiges Eis, als sei es mit Dampf bedeckt –, und ich sehe jetzt: in langen Bahnen wandern, fegen, jagen zarte Schneekügelchen darüber hinweg, wie Baumwolle zart, rund und trocken, die ich nicht in der Luft entdecke, bevor sie niedergefallen sind. Sie setzen sich an einem Geländer fest und bilden kleine Wehen. Dadurch wird umso mehr das Schlittschuhlaufen verdorben.
Ein Geist bringt die Saite der Telegrafenharfe zum Schwingen, und klangvolle Melodien, endlos wie der Draht selbst, werden ihm entlockt. Für einen Ursprung jetzt brauchen wir Musik und Dichtung nicht Griechenland zuzuschreiben. Was wird an der heutigen Meeresküste aus der Geschichte mit der Schildkröte?1) Die Welt ist jung, und Musik ist ihre Kinderstimme. Ich gebe nicht die Hoffnung an eine Welt auf, in der man nur einen gewöhnlichen Draht von Mast zu Mast zu spannen braucht, um Weisen zu hören, die ihm von Neu-Englands Winden abgewonnen werden und die Griechenland und die gesamte Antike als musikalisch arm erscheinen lassen. Warum wurde es so eingerichtet, dass ein Mensch durch das Erzittern eines Drahts bis ins Innerste erschüttert wird? Lassen nicht Eingebung und Verzückung die Nerven schneller erbeben, wenn sie durch den hereinstürmenden erregten Geist, ob er nun zephyrhafter oder borealer Natur ist, zum Schwingen gebracht werden?
4. JanuarAuf teilweise schneebedecktem Eis nach Fair Haven.
Die Risse im Eis zeigen ein weißes Bruchmuster. Welcher Gesetzmäßigkeit folgen sie? Ein bisschen wie Blattwerk, aber zu eckig, gleichen sie den Schriftzeichen einer Sprache des Orients. Es ist mir, als könnte ich Grammatik und Wortschatz verstehen und mich in sie begeben. Sie haben die Form, die eine dünne Eisscholle beim Schmelzen annimmt, ungefähr rechtwinklig mit unregelmäßigem Rand.
Der See ist bedeckt – gescheckt oder gesprenkelt –, ist mehr als zur Hälfte bedeckt mit flachen Wehen oder Flecken von Schnee, der hängengeblieben ist und anmutig gebogene Konturen bildet. Man möchte gern darüber hinweggleiten wie ein Habicht und ihre Gesetzmäßigkeit entdecken.
(…)
7. JanuarGestern Abend ging ich in einem heftigen Schneesturm nach Lincoln, um einen Vortrag zu halten2, doch spendete mir der unsichtbare Mond noch durch das dichteste Gestöber Licht. Ich beobachtete, wie prächtig der Schnee auf den Zedern lag.
Heute Nachmittag liegt der Schnee in den Waldtälern und auf der Leeseite des Walds, wo der Wind ihn noch nicht durcheinandergewirbelt hat, immer noch so üppig auf den Bäumen wie je. Er war gerade feucht genug, um zu haften. Die Pechkiefern tragen ihn am besten, ihre Büschel hängen hinab wie die Federn von Straußen oder der Schwanz des Kasuars, und derart reinweiß – leider kann ich nicht sagen schnee weiß, denn in puncto Reinheit gleicht er nur sich selbst. Im Kontrast zu den dunklen Nadeln und Stämmen der Bäume ist er weißer denn je auf dem Boden. Sogar die kahlen Äste und Zweige der Apfelbäume tragen in den Vertiefungen jeweils einen kleinen, fünf oder sechs Zoll hohen Schneekamm, Schneekragen. Die Bäume sind unter dem Gewicht in mannigfachen Haltungen – Bögen usw. – gebeugt. Ihre Zweige und Kronen sind durch die Schneelast so miteinander verbunden und stehen in solch neuen Haltungen da, die Wipfel oft wie Baldachine oder Sonnenschirme geballt, dass sie mich an die Abbildungen von Palmen und anderer orientalischer Bäume erinnern. An manchen Stellen bis zum Boden geneigt und ganz den Weg versperrend, nicht vor Gram gebeugt, sondern in einem zufriedenen Winterschlaf. Wenn nur die Kronen oder Äste oder Büschel gekrümmt sind, sehen die Bäume oft aus wie Reisende, die dem Sturm trotzen und deren Köpfe und Schultern mit einem weißen Umhang bedeckt sind, in einem Faltenwurf, der hie und da Vorsprünge zu erkennen gibt – Stirnen und Ellbögen. (…)
9. JanuarDer Himmel ist durch Schneewolken den Blicken entzogen. Es flockt leicht, dann hört es auf zu schneien. Wo auf der Straße ein Weg durch Wehen geschaufelt und Schollen aufgehäuft wurden, sehe ich in den Rissen und Spalten kleine Azurflächen, kleine Himmel. Je tiefer sie liegen und je mehr Schnee sich um sie häuft, desto dunkler ist ihr Blau. Manche sind sehr hellblau mit einem Hauch Grün. Mich dünkt, ich sehe dies am häufigsten bei Schneefall. Jedenfalls muss die Atmosphäre in einem besonderen Zustand sein. Offenbar absorbiert der Schnee die anderen Strahlen und reflektiert das Blau. Er hat die Luft gesiebt, und nur die blauen Strahlen sind durch das Sieb gegangen. Ist also dann das blaue Wasser von Walden Schneewasser? Ich sehe den Himmel sich in Winkeln und Spalten im Schnee verbergen. In jede Spur, die der Fuhrmann hinterlässt, stürzt diese elysische, empyräische Atmosphäre. Das Blau meines Auges ist im Einklang mit diesem Blau im Schnee.
Der große Kiefernwald bietet heute Nachmittag einen besonderen Anblick. Dieser recht feine Schnee hat sich in den Ästen festgesetzt und ihnen ein leicht graues Aussehen verliehen. Doch da er in Stammnähe höher liegt, entsteht aus einer gewissen Entfernung der Eindruck undeutlicher weißer Linien, die sich in mannigfachen Winkeln wie ein gewaltiges Netzwerk über den Wald ziehen oder eher wie Spinnweben in Sommerfrühen auf dem Gras. Eine Art Schleier über dem Wald.
Ich sah die Pechkiefern nie besser beschneit. Sie wirken wie chinesische Pagoden.
(…)
11. Januar3Wir stellen manchmal fest, dass wir schnell leben – unergiebig und grob sogar – wenn wir uns dabei ertappen, unser Essen in unerklärlicher Hast zu uns zu nehmen. Doch in einer Hinsicht können wir nicht müßig genug leben. Möge...
Erscheint lt. Verlag | 31.5.2019 |
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Reihe/Serie | Die Tagebücher von Henry David Thoreau | Henry David Thoreau |
Übersetzer | Rainer G. Schmidt |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Briefe / Tagebücher |
Schlagworte | Gesellschaftskritik • Natur • Naturkunde • Sinne von Walden • Tagebuch |
ISBN-10 | 3-95757-750-0 / 3957577500 |
ISBN-13 | 978-3-95757-750-4 / 9783957577504 |
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