Effingers (eBook)

Roman
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2019 | 7. Auflage
904 Seiten
Schöffling & Co. (Verlag)
978-3-7317-6154-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Effingers -  Gabriele Tergit
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Effingers ist ein Familienroman - eine Chronik der Familie Effinger über vier Generationen hinweg. Außer dass sie Juden sind, unterscheidet sich ihr Schicksal in nichts von dem anderer gutsituierter gebildeter Bürger im Berlin der Jahrhundertwende. Alle fahren sie im sich immer wiederholenden Lebenskarussell, das sich durch Glück, Schmerz, Leichtsinn, Erfolg und Scheitern dreht. Effingers ist ein typisch deutsches Bürgerschicksal in Berlin, wie es das der Buddenbrooks in Lübeck war. Als der Nationalsozialismus sich breitmacht, wird das deutsche Schicksal zu einem jüdischen. Wer wachsam ist, wandert aus. Die Geschichte der Familie Effinger beginnt mit einem Brief des 17-jährigen Lehrlings Paul Effinger, und sie endet mit einem Brief: dem Abschiedsbrief des nunmehr 80-Jährigen kurz vor seiner Deportation in die Vernichtungslager.

Gabriele Tergit (1894-1982), Journalistin und Schriftstellerin, schrieb drei Romane, zahlreiche Feuilletons und Reportagen sowie posthum veröffentlichte Erinnerungen. 1933 emigrierte sie nach Palästina, 1938 zog sie nach London. Ihr literarisches Werk wurde erst spa?t in Deutschland wiederentdeckt. Heute gilt sie, vor allem aufgrund ihres Erfolgsromans Effingers, als bedeutende Autorin der Zwischen- und Nachkriegszeit.

Gabriele Tergit (1894-1982), Journalistin und Schriftstellerin, schrieb drei Romane, zahlreiche Feuilletons und Reportagen sowie posthum veröffentlichte Erinnerungen. 1933 emigrierte sie nach Palästina, 1938 zog sie mit ihrem Mann nach London. Von 1957 bis 1981 war sie Sekretärin des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland.Nicole Henneberg, geboren 1955 in Hof, Studium der Komparatistik und Philosophie in Berlin und Paris, schreibt als freie Autorin und Literaturkritikerin, u. a. für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und den Berliner Tagesspiegel. Außerdem verfasste sie mit Fred Oberhauser den Literarischen Führer Berlin.

4. Kapitel

Ein Versuch in Kragsheim

Es war Freitag nachmittags. Paul saß mit der Mutter im Erker. Sie hatte eine weite blaue Schürze an mit einem Latz, der mit zwei Trägern hinten angeknöpft wurde, und schlug einen Hefeteig.

»Dem Benno geht ’s sehr gut«, sagte Paul.

»Bleibt drüben?«

»Bleibt drüben.«

»Der macht seinen Weg. Du bist zu bescheiden, Paul.«

Die hellen Glöckchen an der Tür klingelten.

»Das ist der Willy«, sagte die Mutter.

Willy kam, wiegte sich in den Hüften.

»Grüß Gott! Ach, unser kleiner Engländer! Was machen die Pfunde? Bringst einen Sack voll?«

»Ach, Willy, wie du alleweil daherredest.«

»Meine Geschäfte sind im Aufblühen«, sagte Willy und steckte sich eine Zigarette an. »Bekomme ich einen Kaffee, Mutter?«

»Ja, und frischen Kuchen.«

»Du denkst wahrscheinlich, wir in der Provinz können gar nichts, wir Landpomeranzen. Aber ich werd’ dir einmal zeigen, was wir können. Bitte, was ist das?«

»Ein Koffer.«

»Aber was für einer! Sieh dir das an.« Und er machte den Koffer auf, in dem nun wie auf einem Ladentisch die Uhren auf rotem Samt lagen. »Bitte? Was sagst du dazu? Meine Erfindung!«

»Wirklich ausgezeichnet!« sagte Paul.

»Ich verkaufe das Dreifache, seit ich den Musterkoffer habe. Man kommt hinein, legt die Ware hin, braucht bloß zu fragen: Uhren?«

»Sprichst schon wieder von deinem Koffer?« sagte der alte Effinger. »Ich will nix mehr von dem Koffer hören.«

Da kam schon die bauchige Kanne mit dem heißen Kaffee und eine Schüssel mit kleinen Kuchen, die mit Vanillezucker dick bestreut waren.

Der alte Effinger sagte: »Kuchen am hellerlichten Werktag, was sind das für neumodische Sachen?«

»Aber wir haben doch Besuch.«

»Der Koffer, Willy, will mir gar nicht gefallen. Früher haben die Leute auf das Inwendige gesehen, jetzt muß man ihnen das Auswendige gut präsentieren.«

»Das ist der Zug der Zeit«, sagte Paul. »Man muß mit ihm gehen!«

»Ich bin zu alt dazu. Die Leute wissen, was in meinen Uhren ist, da brauch’ ich keinen roten Samt, damit sie sie kaufen. Aber wenn das einreißt, daß man die Uhren von fremden Leuten kauft, da ist freilich allem Schwindel Tür und Tor geöffnet.«

»Na, na, Vater«, sagte Willy.

»Fabriksware womöglich.«

Die Mutter bot die Kuchen an.

»Siehst, so was bekommst auch nicht beim Bäcker.«

Samstag vormittag ging Paul Besuche machen. Die Vettern fragten ihn, wie es ihm gehe. Er sagte: »Nicht sehr gut«, teils, weil er die anderen nicht neidisch machen wollte, teils, weil er es wirklich fand. Er kam aus London, sie waren in Kragsheim. »Ihr habt nichts verloren an der großen Welt«, sagte er. Sie waren beruhigt. Sie saßen, die Frauen in schweren schwarzen Atlasgewändern, um einen runden Tisch. Vor jedem stand ein Glas Südwein.

Um zwölf Uhr war Mittagszeit. Über dem Brot lag eine weiße Serviette. »Mahlzeit«, sagte der alte Effinger, wusch sich die Hände am messingnen Gießfaß, trocknete sie am gestickten Handtuch ab, das an der Wand hing, nahm die Serviette vom Brot, sprach das Tischgebet. »Amen«, sagten alle.

Es gab Rindfleisch und Gemüse, ein ausgiebiges Essen. Der Vater redete Paul zu: »Das Stückle Rindfleisch hast noch nicht gegessen.«

»Aber eben doch.«

»Aber das Stückle sicher noch nicht.«

So waren seine Witze. Er sagte: »Wenn es einem am besten schmeckt, muß man aufhören.«

Die Magd räumte ab. Es gab noch Krapfen, ein fettes, in viel Gänseschmalz gebackenes Gericht. Als alles aufgegessen war, rückte der alte Effinger das Käppchen zurecht und sprach das Tischgebet. »Amen«, sagten alle.

Es war Montag. Willy reiste ab, um Uhren zu verkaufen. Er kam erst Freitag abend wieder.

Paul ging in die Stadt. Er klingelte am Laden von Weckerle, mit dem er zusammen zur Schule gegangen war.

»Grüß Gott, Franz.«

»Ach, grüß dich Gott, Paul. Wie geht’s? Nett, daß du dich mal wieder sehen läßt. Du bist weit herumgekommen, habe ich gehört.«

»Ach nein, gar nicht. Und du?«

»Ich bleib’ hier im Laden.«

»Wie gehen denn die Geschäfte?«

»Schlecht, bei den Zeiten. Es bleibt doch keiner in Kragsheim.«

»Man müßte Industrie herbekommen, find’ ich.«

»Das hat der Bürgermeister auch gesagt. Aber der Herzog will doch nicht. Die Industrie könnte nur auf der Seite vom Schloß liegen, und das will der Herzog nicht.«

»So. Und die Geschäfte gehen alle schlecht? – Bist du verheiratet?«

»Nein, verlobt mit Lise Schnack.«

»Vom Hofbäckermeister?«

»Ja, vom Hofbäckermeister.«

»Da gratulier’ ich dir aber, so ein schönes Mädle.«

»Ja, ein schön’s Mädle.«

Aber dann war’s auch aus. Eine Frau kam herein und wollte Stoff kaufen.

»Ich wer’ gehen«, sagte Paul.

»Also, hat mich sehr gefreut«, sagte Franz und gab ihm die Hand.

Paul ging in den Wald. Es war sehr heiß jetzt am frühen Nachmittag. Das Moos war ganz trocken. Überall hopsten kleine Frösche, leise zirpten die Grillen. Paul breitete ein Taschentuch aus und setzte sich auf einen Baumstumpf. Unten lag die gegiebelte Stadt, rote Dächer mit vielen Schornsteinen, der weiße Kasten des Schlosses, dahinter der Park, davor der heiße Schloßplatz, baumlos.

Paul sehnte sich danach, in Kragsheim zu bleiben, wie der Vater seinen Schoppen zu trinken, sorglos zu sein im kleinen Rahmen. Er liebte Land, Eiche und Felder, fast schon mit der sentimentalen Liebe des Stadtkindes. Von allen Rokokoschlössern hatte das Kragsheimer für ihn das schönste Porzellan, die schönsten Wasserspiele und die schönste gotische Ruine im Park. Er beneidete Franz im Stoffladen. So wollte auch er leben. Fromm, gläubig, bescheiden.

Mit einem schweren Seufzer nahm er das Buch, das er mitgenommen hatte, und vertiefte sich in »Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin und Deutschland«. Das war ein Buch, über das Paul sich auf jeder Seite ärgern mußte. Er fand aber, man müsse die Meinung des Gegners kennen.

Es fing an kühl zu werden, und er ging nach Haus.

Bertha beaufsichtigte das Holzeinbringen. In großen runden Körben wurde das Holz von der Straße immer noch an das gegiebelte Dach gezogen. Die Tür bimmelte. Die Mutter sah herunter und rief: »Was willst?«

»Grüß Gott«, sagte Paul, »ich geh’ gleich wieder.«

Er zog sich einen frischen Kragen an und ging aufs Rathaus, ließ sich beim Bürgermeister melden.

Der empfing ihn, ein dicker, großer Mann mit Bauch und langem, grauem Vollbart, strich sich den Bart und sagte: »Ja, der Herr Effinger, kommen Sie wieder einmal in die Heimat?«

»Ich möchte sogar hierbleiben.«

»Ja, als was denn, wenn ich fragen darf?«

»Ich möchte eine Fabrik für Schrauben errichten, Herr Bürgermeister. Fabrik ist viel zuviel gesagt, eine Werkstätte mehr, und ich wollte fragen, wie es sich hier mit dem Grund und Boden und den Steuern verhält?«

»Ich glaub’, Herr Effinger, ich muß Sie da sehr enttäuschen. Wir haben hier natürlich ein Interesse an der Industrie, wir sind ja moderne Menschen, die’s mit dem Fortschritt halten, aber das muß wohl abgewogen werden. Sie haben recht, es wandert alles aus, und nicht nur aus Arbeitsmangel. Der Zug in die Großstadt ist eine große Gefahr für unser Volk. Die Landflucht! Vergnügungssucht und Hoffart. Jawohl!«

»Gewiß, Herr Bürgermeister, aber dagegen gäbe es doch nur eins, die Industrie in die kleinen Städte zu bringen und so eine Verbindung zwischen Landwirtschaft und Industrie zu schaffen.«

»Ja, aber da müssen wir genau erwägen, was wir an Steuern gewinnen und an Arbeitsmöglichkeiten für die Jugend, kurzum, was wir an Vorteilen haben und an Nachteilen. Da müssen wir womöglich die Volksschule erweitern und dann das Spital …«

»Aber die Stadt ist doch unterbevölkert«, sagte Paul, »das große alte Palais vom Grafen Wittrich ist für 3000 Mark zu haben. Fürs Zehnfache ist es nicht neu zu bauen.«

»Sicher nicht. Aber wir haben doch auch Unkosten, müssen Sie verstehen. Wenn Sie die Fabrik auf den Rödernschen Wiesen errichten wollen, wird doch eine Straße gebaut werden müssen. Die Gemeinde hat genug Lasten. Und dann sieht es Seine Hoheit sehr ungern. Seine Hoheit ist doch nur ein halbes Jahr in Nizza, im Sommer residiert Seine Hoheit hier, und die Geschäftsleut’, Ihr Vater wird das doch wissen, sind auf Kundschaft vom Hofe angewiesen. Wenn dann auf den Rödernschen Wiesen Fabriken sind – erstens weiß man gar nicht, bei dene Anarchisten, was wir da für Elemente bekommen, und dann wird bei den hiesigen Westwinden der Rauch grad’ zum Schloß hingetrieben …«

»Ich danke Ihnen, Herr Bürgermeister. Ich hätte mich gerne hier niedergelassen.«

»Wo werden Sie denn nun hingehen?«

»Nach Berlin!«

»Na ja, alles muß zu dene Preußen. Es hält’s ja keinen hier.«

Paul wollte erwidern. Er sagte aber nur: »Ich danke Ihnen, Herr Bürgermeister.«

»Lassen Sie sich’s gutgehen!« sagte der Bürgermeister. »Grüßen Sie den Herrn Vater.«

Paul ging über die flache große Treppe hinab, hielt sich am wunderbar geschmiedeten Rosengitter.

Die Mutter und Bertha saßen im Grasgarten und stopften Wäsche. Der Flieder war verblüht. Es roch nach Heu. Unten floß der...

Erscheint lt. Verlag 19.2.2019
Mitarbeit Cover Design: Lesser Ury
Nachwort Nicole Henneberg
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aufstieg • Balkan • Berlin • Buddenbrooks • Chronik • Fall • Familiengeschichte • Holocaust • Judentum • Käsebier • Nationalsozialismus • Neuauflage • Polen • Schicksal
ISBN-10 3-7317-6154-8 / 3731761548
ISBN-13 978-3-7317-6154-9 / 9783731761549
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