Des Kaisers letzte Insel (eBook)

Napoleon auf Sankt Helena
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
288 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-31046-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Des Kaisers letzte Insel -  Julia Blackburn
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Die letzten sechs Jahre seines Lebens residierte Napoleon Bonaparte, einst Herrscher eines Weltreiches, in einem verfallenen Bauernhof auf Sankt Helena, einer unzugänglichen, sturmumtosten, struppigen Insel am Ende der Welt. Verfolgt von Erinnerungen an seine Macht, ist sein Reich nun begrenzt auf eine Natur, die dramatische Veränderungen durchlebt. Doch auch in dieser Welt können sich die Bewacher und der klägliche Rest eines Hofstaats der Aura des verbannten Kaisers nicht entziehen. Julia Blackburn erzählt die faszinierende Geschichte der Insel Sankt Helena und ihres wohl legendärsten Bewohners.

Julia Blackburn wurde 1948 als einziges Kind des Dichters Thomas Blackburn und der Malerin Rosalie de Meric in London geboren. Neben ihren Memoiren, die unter anderem auf der Shortlist des Ondaatje-Preises standen, hat sie Romane geschrieben, für die sie bereits zweimal den Orange-Prize und 2017 den New-Angle-Prize erhielt. Sie hat zwei Kinder und lebt in Suffolk und Italien.

Julia Blackburn wurde 1948 als einziges Kind des Dichters Thomas Blackburn und der Malerin Rosalie de Meric in London geboren. Neben ihren Memoiren, die unter anderem auf der Shortlist des Ondaatje-Preises standen, hat sie Romane geschrieben, für die sie bereits zweimal den Orange-Prize und 2017 den New-Angle-Prize erhielt. Sie hat zwei Kinder und lebt in Suffolk und Italien.

2


Von dort, wo wir ritten, im Nordwesten, sieht man eine Küste, so zerklüftet, steil, steinig, hoch, schroff, felsig, kahl, verlassen und trostlos, wie es wohl keine zweite gibt. Weiter oben jedoch ist der Boden von ausgezeichneter Beschaffenheit.

The Voyage of Peter Mundy

St. Helena ist weiter entfernt von allem als jeder andere Fleck der Erde, ein Pünktchen im Südatlantik, etwas unterhalb des Äquators, 3562 Kilometer von der Küste Brasiliens und 1863 Kilometer von Porto Alexandre an der Küste Angolas entfernt. Selbst von seinem nächsten Nachbarn, der blassgrau spröden Insel Ascension, trennen es rund tausend Kilometer tiefen Ozeans.

Noch war ich nicht auf St. Helena, aber ich habe eine Passage auf dem Schiff gebucht, das sechsmal im Jahr dorthin fährt. Seit einigen Monaten trage ich nun schon all die einzelnen Teilchen zusammen, die beanspruchen, zum Puzzlebild dieses Fleckens Erde zu gehören, den ich noch nie gesehen habe. St. Helena wird mir langsam vertraut, wie ein Traum es wird, wenn man ihn im Wachzustand noch einmal vorüberziehen lässt, die einzelnen Szenen betrachtet, die sich vor dem geistigen Auge wie auf einer Leinwand wiederholen. Und wenn ich dort gewesen bin, werden es zwei Inseln sein, die Insel, die ich mir vorgestellt habe, und die Insel, die ich gesehen habe, und wenn sie auch einige Züge gemeinsam haben werden, so wird es doch andere geben, die sich nicht verknüpfen und nicht zur Deckung bringen lassen. 

Die Schiffsreise von England nach St. Helena dauert sechzehn Tage. Nach einem kurzen Aufenthalt auf den Kanarischen Inseln geht es immer weiter südwärts, zwischen den Kontinenten Südamerika und Afrika hindurch, bis nach Ascension. Man hat mir erzählt, dass sich die Männer und Frauen auf dieser kahlen Insel niemals gemeinsam in der Öffentlichkeit zeigen; sie laufen auseinander wie Schafe, wenn ein Fremder auftaucht, und wenn es gar kein Entkommen gibt, schlagen sie die Augen nieder, drehen sich um und warten, bis die Zumutung vorüber ist. Man hat mir erzählt, dass es am einen Ende der Insel eine Ansammlung von Wellblechhütten und Hangars gibt, die der britischen Luftwaffe als Basis auf dem Weg zu und von den Falkland-Inseln dienen, und am anderen Ende eine Stadt, unter der ich mir ein Gewirr weiß getünchter, quadratischer niedriger Gebäude vorstelle, wie sie gut zu einem scheuen Volk passen könnten, aber vielleicht liege ich damit ganz falsch. Ich habe bisher nur zwei Fotografien von Ascension gesehen: Eine davon zeigt nichts als die dunkle Silhouette eines Körpers auf ruhigem Wasser und einen Wolkenfleck, hinter dem die Sonne hervorscheint, während die andere eine Gruppe von Grabsteinen im Stadtfriedhof ins Bild rückt, mit den Namen und Lebensdaten der Menschen, die hier im 18. Jahrhundert starben, in roh behauene Blöcke vulkanischen Gesteins gemeißelt; einen Grabstein ziert das Gesicht eines Engels, ein einfaches, verängstigtes Gesicht, die Züge dunkle Höhlen, eingegraben in die runde Scheibe des Kopfes, mit kleinen Flügeln, die da hervorwachsen, wo man normalerweise die Ohren erwarten würde.

Von Ascension werde ich drei Tage lang durch unbekannte Gewässer fahren, immer weiter nach Süden, und die Passatwinde werden mit all ihrer Wucht über den Körper des Schiffes fegen. Dann endlich werde ich sie sehen, die steilen Klippen von St. Helena, der Felsenfestung, mit den Wolken, die sich immer über den Bergen an der Ostseite ballen. Und wenn das Schiff sich dem Land nähert, werde ich die weißen Gebäude des Hafens von Jamestown sehen, eingezwängt in ein steiles Tal. Man hat mir gesagt, die hohe Landschaft hinter Jamestown werde mich an Nordwales erinnern, mit den Schafen im niederen Gras, zwischen grauen Steinhäusern und grauen Steinblöcken, die sich von den kahlen Bergkämmen gelöst haben. Um die grauen Häuser herum aber wachsen Zitronen- und Mangobäume und Geraniensträucher, so hoch wie Bäume, mit zwitschernden Sittichen in ihren Zweigen, und tellergroße Spinnen gibt es dort und das erbarmungslose Quaken der kleinen grünen Frösche überall, wo Wasser aus dem Boden quillt. Ich werde im Sommer hinreisen, dann ist dort Winter, es wird also feucht sein, aber nicht kalt, außer auf Deadwood Plain, wo Napoleons Haus steht. Die Menschen auf der Insel sprechen mit einem weichen, musikalischen Akzent, sodass sie wie Jamaikaner klingen, die lange Zeit in Cornwall oder einer anderen südenglischen Grafschaft gelebt haben.

St. Helena ist nur gut fünfzehn Kilometer lang und neun Kilometer breit, aber es sieht viel größer aus, weil es so zerklüftet und gebirgig ist. Die Insel entstand vor rund sechzig Millionen Jahren, gegen Ende des Tertiärs, der Zeit, als die Kontinente der Welt auseinanderbrachen und die Erdkruste sich faltete und aufwarf und schmelzflüssiges Felsgestein aus ihrem Innern erbrach. Mein kleiner Sohn hat ein Buch, das diese Vorgänge auf einer großen farbigen Bildtafel veranschaulicht. Rechts stürzt eine riesige Flutwelle alle möglichen prähistorischen Ungeheuer in den sicheren Tod, links spuckt eine wellenförmig angeordnete Reihe von Vulkanen Feuer und Schwefel in die Luft. St. Helena ist Teil einer solchen Vulkankette, die sich von Tristan da Cunha im Süden über Ascension und die Kapverden bis zu den Kanarischen Inseln hinaufzieht. Wäre da nicht der Atlantische Ozean, die Berge sähen etwa aus wie die Anden in Südamerika; so aber ragen nur ihre Spitzen aus dem Wasser.

Die Küste von St. Helena ist außerordentlich steil. Aus der Entfernung sieht sie aus wie eine blankwandige Festung, wenn aber das Licht der Sonne auf die Felsen fällt und ihre Struktur und ihre Farben sichtbar macht, wirken sie wie ein welliger, faltiger Vorhang, purpurn und schwarz und rostbraun gesprenkelt. Der Rand des Vulkankraters hat einen halbkreisförmigen Kamm von Bergen gebildet, und die Erosion durch Regen und Süßwasserbäche hat tiefe enge Schluchten in die Flanken der Berge gefräst. Am Ende seiner Eruptionen hat der Vulkan Massen von weichen Basaltbrocken hochgeschleudert, die jetzt wie Zinnen und wacklige Türmchen aus der Landschaft wachsen und heute noch das einstige Bersten und Brodeln flüssiger Felsen erkennen lassen. Eine blassgraue Säule, die aussieht wie eine riesige verhüllte Figur, heißt »Lots Weib«, und etwas weiter denselben Bergkamm entlang erblickt man die kleinere der beiden Riesenfiguren, Lot selbst. Auch anderen eigenartigen Formationen hat man Namen gegeben – »Eselsohren«, »Türkenkappe«, »Kamin«, »Mönch« –, und im Osten ragt die »Scheune« über das Meer, jener Berg, der aussieht wie ein Gesicht im Profil, mit einem Zweispitz auf dem Kopf – das Ebenbild Napoleons, wie manche behaupten. In den Jahren seiner Gefangenschaft konnte der Kaiser, wenn er aus seinem Schlafzimmerfenster blickte, dieses mächtige Spiegelbild seiner selbst sehen, ein Scherenschnitt, mit dem Himmel als Hintergrund.

Lange Zeit, Millionen von Jahren, nehme ich an, war St. Helena nichts als eine nackte Felslandschaft. Aufgrund ihrer isolierten Lage konnten nur gewisse Arten auf die Insel gelangen und dort Fuß fassen. Die Samen mancher Pflanzen und Bäume wurden vielleicht auf den Wellen herbeigetragen, oder sicher geborgen in einem Stück Ast, und blieben dann irgendwo an der Küste liegen, während für die kleinsten Samen die Klauen der Seevögel das Transportmittel sein konnten. Auch die Eier gewisser Insekten, Landschnecken und Spinnen konnten mit etwas Glück die lange und ungewisse Reise über den Atlantik schaffen. So wurde St. Helena allmählich von bestimmten Pflanzen und verschiedenen unscheinbaren wirbellosen Geschöpfen kolonisiert. Die Insel wird so ununterbrochen von Wind geschüttelt und von Regen begossen, dass sie keine extremen Temperaturen kennt; warme feuchte Winter folgen auf warme feuchte Sommer und schaffen die ideale Atmosphäre für Grünzeug aller Art. Die Samen, die irgendwo ein Plätzchen zum Anwurzeln fanden, gediehen deshalb trotz steiler Felsen und Mangel an gutem Boden vorzüglich und verwandelten St. Helena bald in einen einzigen Wald. Bäume krallten ihre Wurzeln fest in die steilsten Felsspalten, selbst mitten ins glatte Gesicht der Felsen, die schroff aus dem Meer ragen, und eroberten auch noch die höchsten Bergspitzen. Die verschiedensten milchsafthaltigen Holzpflanzen gab es da, Redwood oder Küstenmammutbäume und Zwergbäume, männliche und weibliche Kohlpalmen, Baumfarne, diverse Araliengewächse und viele andere, die nie eine lateinische Bezeichnung oder botanische Beschreibung bekamen. Die prächtigsten unter all diesen Bäumen waren die Koromandel-Ebenhölzer mit dem schwarzen Kern, die so langsam wachsen wie Eichen und ihre sperrigen störrischen Äste ausstrecken, als seien sie riesige Kandelaber. Gräser gab es keine, doch auf den kleinen Lichtungen zwischen den Bäumen wuchsen blühende Sträucher und Büsche, dickblättriger gelber Meerfenchel entlang der Klippen, wilder Sellerie und Brunnenkresse in der Nähe der kleinen Bäche und Quellen.

Von den Pflanzen und Bäumen nährten sich mindestens einhundertneunundzwanzig verschiedene Käferarten. Bis auf eine gab es sie ausschließlich auf dieser Insel, die meisten waren kleine, mattfarbene Mitglieder der Rüsselkäfer-Familie, ausgerüstet mit den langen harten Nasen, die sie brauchen, um unter den Rinden der Bäume ihre Gänge und Brutstätten ins Holz zu bohren. Es gab auch zehn verschiedene Arten von Spinnen, die ihrerseits von Käfern lebten, und eine ganze Reihe großer Landschnecken, die sich von Blättern und Halmen ernährten. In einer bestimmten Phase der...

Erscheint lt. Verlag 14.3.2019
Übersetzer Isabella König
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte Biografie • Frankreich • Geschichte • Insel • Meer • Napoleon • Natur • St. Helena
ISBN-10 3-293-31046-X / 329331046X
ISBN-13 978-3-293-31046-9 / 9783293310469
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