Deutsches Haus (eBook)

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2018 | 1. Auflage
368 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-1816-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Deutsches Haus -  Annette Hess
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Von der Erfinderin der TV-Serien Weissensee und Ku'damm 56 / 59 / 63 »Dieser Roman kommt genau zur richtigen Zeit.« Iris Berben  Frankfurt 1963. Eva, gelernte Dolmetscherin und ju?ngste Tochter der Wirtsleute Bruhns, steht kurz vor ihrer Verlobung. Unvorhergesehen wird sie gebeten, bei einem Prozess die Zeugenaussagen zu u?bersetzen. Ihre Eltern sind, wie ihr zuku?nftiger Verlobter, dagegen: Es ist der erste Auschwitz-Prozess, der in der Stadt gerade vorbereitet wird. Eva, die noch nie etwas von diesem Ort geho?rt hat, folgt ihrem Gefu?hl und widersetzt sich ihrer Familie. Sie nimmt die Herausforderung an, ohne zu ahnen, dass dieser Jahrhundertprozess nicht nur das Land, sondern auch ihr eigenes Leben unwiderruflich vera?ndern wird.  

Annette Hess stammt aus Hannover und studierte zuna?chst Malerei und Innenarchitektur, spa?ter Szenisches Schreiben. Sie arbeitete als freie Journalistin, Regieassistentin sowie Drehbuchlektorin. Seit 1998 ist sie ausschließlich als Drehbuchautorin ta?tig. Bekannt wurde sie durch ihre Fernsehserien Weissensee, Ku'damm 56 und Ku'damm 59. Annette Hess lebt in Niedersachsen und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Grimme-Preis, den Frankfurter Preis der Autoren sowie den Deutschen Fernsehpreis. Deutsches Haus ist ihr erster Roman. 

Annette Hess stammt aus Hannover und studierte zunächst Malerei und Innenarchitektur, später Szenisches Schreiben. Sie arbeitete als freie Journalistin, Regieassistentin sowie Drehbuchlektorin. Seit 1998 ist sie ausschließlich als Drehbuchautorin tätig. Bekannt wurde sie durch ihre Fernsehserien Weissensee, Ku'damm 56 und Ku'damm 59. Annette Hess lebt in Niedersachsen und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Grimme-Preis, den Frankfurter Preis der Autoren sowie den Deutschen Fernsehpreis. Deutsches Haus ist ihr erster Roman. 

Teil 2


»Ich schwöre bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, einen reinen Eid.«

Es war der 23. Verhandlungstag, und an diesem Tag sollte mit der Anhörung der Polnisch sprechenden Zeugen begonnen werden. Eva saß nicht mehr ganz hinten und am äußersten Rand der Zuschauertribüne, sondern stand nun am Tisch der Zeugen mitten im großen Saal des Bürgerhauses. Flankiert wurde sie von zwei älteren Herren in dunklen Anzügen, dem Übersetzer für Tschechisch und dem Übersetzer für Englisch. Eva hatte ihre linke Hand, an der sie neuerdings einen Ring mit einem blauen Stein trug, auf ein schweres schwarzes Buch mit einem kleinen eingeprägten Goldkreuz gelegt, ihre rechte Hand hielt sie hoch erhoben. Eva sprach zum Vorsitzenden Richter, der sich ihr freundlich zuwandte, und seinen beiden Beisitzern. Ihre Finger zitterten leicht in der Luft. Ihr Herz schlug schnell und hart bis hinauf in den Hals.

»Sprechen Sie etwas lauter bitte, Fräulein Bruhns.«

Eva nickte, holte Luft und begann noch einmal von vorne. Sie sagte, sie würde alle in polnischer Sprache verfassten Dokumente und Aussagen, die im Prozess behandelt würden, treu und gewissenhaft übersetzen. Sie würde nichts hinzufügen oder weglassen. Während Eva sprach, glaubte sie im Augenwinkel eine Bewegung von David Miller aufzufangen, der sich wie missbilligend abwandte, der Hellblonde dagegen folgte ruhig ihrem Schwur. Eva spürte auch die Blicke von der linken Seite. Von der Anklagebank. Manche der Männer und deren Verteidiger betrachteten sie wohlwollend. Weil sie ein junges, gesundes Fräulein war mit starkem blonden Haar, weil sie anständig und ehrbar aussah in ihrem hochgeschlossenen, dunkelblauen Kostüm und ihren flachen Schuhen.

»Das schwöre ich bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden«, endete Eva. Der Vorsitzende Richter nickte ihr knapp zu. Dann sprachen die beiden anderen Übersetzer nacheinander ihren Eid. Evas Nervosität ließ etwas nach, ihr Blick fiel auf die große Schaukarte hinter dem Richtertisch. Aus der Nähe konnte sie jetzt auch die Aufschriften lesen. Block 11. Stammlager. Krematorium. Gaskammer. ›Arbeit macht frei‹ stand ganz unten. Einer der beiden Übersetzer hatte eine scharfe Alkoholfahne. Bestimmt der Tscheche. ›Gott erhalte mir meine Vorurteile‹, dachte Eva in komischer Verzweiflung. Ihr eigener Atem roch sicher schal und säuerlich, denn sie hatte kaum etwas zum Frühstück essen können. Heute Morgen – das schien so lange her zu sein. Und doch waren erst zwei Stunden vergangen. Um halb acht hatte Eva mit Annegret und Stefan am Tisch in der Küche gesessen und nervös mit einem Löffel in ihrer Kaffeetasse geklimpert. Die Mutter war aus dem Keller heraufgekommen, ein Glas Marmelade mit dem Etikett ›Brombeer ’63‹ in der Hand. Sie hatte Annegret das Schraubglas gereicht, die es, ohne von ihrer Zeitung aufzusehen, mühelos aufgedreht hatte. Es zischte unter dem Deckel, und Stefan versuchte minutenlang, das Geräusch nachzumachen. ›Pfiiiifffffff‹ hatte es am besten getroffen. Edith kratzte mit einem Messer die Schicht grünlich weißen Schimmels in den Abfalleimer. Sie setzte sich mit an den Tisch und schmierte Stefan ein Brot mit der Marmelade. Dann erinnerten sie sich gegenseitig daran, wie Edith im Spätsommer des letzten Jahres mit dem Fahrrad auf den Hausberg hinaufgefahren war, zwei Blecheimer links und rechts am Lenker, einen großen auf den Gepäckträger geklemmt. Dort oben hatte Edith die drei Eimer voller sonnensatter, tiefschwarzer Beeren gesammelt. Als sie von ihrem Ausflug zurückgekommen war, waren die Schwestern, die in der Stube bei der Fernsehsendung ›Am Sonntag lade ich dich ein‹ saßen, erschrocken aufgesprungen. »Mutti! Was ist mit dir passiert? Hast du einen Unfall gehabt?!« Eva lief zum Telefon und wollte einen Arzt rufen. Annegret machte Anstalten, Ediths Puls zu fühlen. Nur Edith verstand den Aufruhr nicht, bis sie ihr Gesicht im Flur im Spiegel entdeckte: Sie sah furchterregend aus. Lippen und Kinn mit schwarzrotem Brombeersaft verschmiert, ihre helle Bluse mit dunklen Flecken verschmutzt. Edith hatte beim Pflücken immer wieder genascht, und der klebrige Saft war ihr über das Kinn gelaufen. Das Tupfen mit einem Taschentuch hatte ihren Zustand nur verschlimmert. Sie sah aus, als wäre sie auf das Gesicht gefallen und blute nun heftig aus dem Mund. Alle drei Frauen waren damals im Sommer in erleichtertes Gelächter ausgebrochen. Heute Morgen am Frühstückstisch hatte keiner gelacht. Neben Evas Teller hatte eine dunkelgraue Aktenmappe aus Karton gelegen wie ein vergifteter Brief. Darin lag die Aussage des Zeugen Jan Kral, die er vor zwei Jahren vor einem Untersuchungsrichter gemacht hatte und die Eva heute im Gericht übersetzen würde. Eva hatte die Blätter am Abend zweimal durchgelesen. Wenn das alles stimmte, was Herr Kral erlebt und gesehen haben wollte, dann war es ein Wunder, dass er noch lebte. Sie hatte sich gefragt, während sie einen Schluck Kaffee nahm, wie er wohl aussähe. Gebeugt und voller Traurigkeit. Gleichzeitig hatte Stefan über den Brotbelag gequengelt, den seine Mutter ihm auf sein Schulbrot hatte legen wollen. »Ich mag kein Kronbief. Das ist eklig!«

»Mettwurst?«

»Das ist noch ekliger! Bäh! Da wird mir schlecht!«

»Aber irgendwas muss ich ja drauflegen. Oder willst du nur Butter?«

»Igitt, Butter ist eklig!«

Da hatte Eva die Mappe genommen und Stefan damit leicht auf den Hinterkopf geschlagen. »Jetzt benimm dich nicht wie ein Baby!« Stefan hatte seine Schwester überrascht angesehen. Aber sie war aufgestanden und hinausgegangen. »Willst du denn kein Brot mitnehmen, Eva?«

»Ich kann im Bürgerhaus essen, Mutti, da gibt es eine Kantine.«

Im Flur hatte sich Eva ihren Wollmantel übergezogen. Sie hatte sich im Spiegel betrachtet. Sie war blass, fast weiß im Gesicht, ihre Knie hatten sich angefühlt wie Puddingspeise, ihr Magen, als würde er in diesem Moment ausgehöhlt von einem pelzigen Tier. Sie gestand sich ein, während sie der Stille aus der Küche lauschte, dem Schweigen von Mutter und Schwester, das Gefühl, was da seit Tagen in ihr hochkroch, war Angst. Sie hatte versucht herauszufinden, wovor diese am größten war: vor der Situation, dass sie vor vielen Menschen sprechen musste, vor der Verantwortung, die richtige Übersetzung zu finden? War es Furcht, die Zeugen nicht zu verstehen? Oder die Zeugen gerade zu verstehen? Eva hatte die Mappe in ihre lederne Aktentasche geschoben, die sie sich selbst vor drei Jahren zum bestandenen Dolmetscherzertifikat geschenkt hatte. Sie hatte sich ihren Hut aufgesetzt, sie hatte »Auf Wiedersehen« in Richtung Küche gerufen, aber nur von Stefan eine Antwort bekommen. »Tschö mit ö!«

Es war einer dieser Tage, die kein Wetter haben, keinen Sonnenaufgang und keinen Sonnenuntergang, die durch und durch grau bleiben, die nicht warm und nicht kalt werden. Auch den Schnee gab es nur noch als Erinnerung. Eva war den ganzen Weg zum Bürgerhaus zu Fuß gelaufen. Und mit jedem Schritt hatte sie mehr und mehr der Mut verlassen, er war wie das Tauwasser in den Gullys versickert und fast ganz verschwunden, als sie das Bürgerhaus erreichte. Aber in dem Moment, als sie das überfüllte Foyer betrat, als sie die vielen Reporter ausmachte, zwei Männer mit schweren Kameras, einige der Angeklagten erkannte, die einander die Hände schüttelten, Polizisten bemerkte, die vor dem weißhaarigen Hauptangeklagten salutierten, als sie diese Selbstverständlichkeit erlebte, in welcher die Männer sich bewegten, als sie deren lautstarkes Reden hörte, und dagegen die Einzelnen oder kleinen Grüppchen von angespannt, still und ahnungsvoll dastehenden Frauen und Männern sah, da dachte sie, dass sie hier richtig war.

Der Saal wurde auch gegen Mittag nicht hell, die leicht beschlagenen Glasbausteine schimmerten mattgrau. Ein Saaldiener schaltete die Deckenbeleuchtung ein, die Kugellampen schwebten wie große, leuchtende Blasen über den Köpfen. Die Luft war abgestanden, trotz einiger gekippter Fenster in der Glasbausteinwand. Es roch nach feuchter Wolle, Leder und nassem Hund. Nach ihrer Vereidigung nahmen die Dolmetscher auf der Seite der Staatsanwaltschaft Platz. Eva setzte sich auf einen Stuhl direkt hinter David Miller. Sie nahm die dunkle Mappe aus ihrer Aktentasche und legte diese vor sich auf den Tisch. Sie blickte auf Davids rötlichen Hinterkopf, auf das etwas zu lang gewachsene Haar im Nacken. Er sah von hinten aus wie ein Junge. Wie Stefan, wenn er manchmal in seiner kindlichen Wut brütete. David las in Papieren, die er nach kurzer Prüfung an den Hellblonden weiterreichte. Auf der gegenüberliegenden Saalseite stand ein großer Mann auf. Er fingerte in den Falten seiner Robe und beförderte eine silberne Taschenuhr an einer Kette hervor, die er aufschnappen ließ, um etwas zerstreut die Uhrzeit zu kontrollieren. Mit seinen weichen, länglichen Gesichtszügen und der weißen Krawatte erinnerte er Eva an den Hasen aus ›Alice im Wunderland‹, ein Buch, das sie und Stefan nicht mochten, denn dieses Wunderland war ausschließlich von unfreundlichen Figuren bevölkert. Es war der Verteidiger von sieben der...

Erscheint lt. Verlag 21.9.2018
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
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ISBN-10 3-8437-1816-4 / 3843718164
ISBN-13 978-3-8437-1816-5 / 9783843718165
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