Neunundachtzig (eBook)

Helden-Geschichten

(Autor)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
224 Seiten
Ch. Links Verlag
978-3-86284-422-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Neunundachtzig - Alexander Osang
Systemvoraussetzungen
4,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

'Neunundachtzig. Ich habe immer eine Weile gebraucht, um den Leuten den Titel dieses Buches zu erklären. Die Zahl berührt die beiden wichtigsten journalistischen Ereignisse meines Lebens. Den Untergang der DDR und den Angriff auf New York.
89 ist das Jahr in dem die Mauer fiel und 89 ist die Nummer der Etage des World Trade Centers, deren Schicksal ich beschreibe. Beim ersten war ich noch kein Reporter, beim zweiten wollte ich für einen Moment keiner mehr sein. Einmal schien ich ganz dicht dran zu sein, einmal ganz weit weg. Aber letztlich gab es kaum einen Unterschied. Ich mußte nirgendwo hinfahren, ich war schon da. Beide Male stolperte ich ein paar Augenblicke durch den Sturm, bevor ich mich auf den sicheren Boden des Beobachters rettete.
Ich bin Reporter. Ich mache keine Geschichte, ich hänge mich immer nur ran. Ich lebe von Helden, so kann ich alt werden. Für die Helden aber ist das schwerer. Die Menschen rennen weiter, es gibt soviel zu tun.'
Alexander Osang



Alexander Osang, geboren 1962 in Berlin, studierte in Leipzig und arbeitete nach der Wende als Chefreporter der Berliner Zeitung. Seit 1999 berichtet er als Reporter für den Spiegel, acht Jahre lang aus New York, und bis 2020 aus Tel Aviv. Für seine Reportagen erhielt er mehrfach den Egon-Erwin-Kisch-Preis und den Theodor-Wolff-Preis. Er lebt heute mit seiner Familie in Berlin.

Sein Roman 'Fast hell' (Aufbau Verlag, 2021), stand mehrere Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste. Sein Erzählungsband »Winterschwimmer« ist als Aufbau Taschenbuch lieferbar. Seit 30 Jahren erscheint sein essayistisches Werk im Ch. Links Verlag.  Zuletzt erschien dort »Das letzte Einhorn. Menschen eines Jahrzehnts«.

Jahrgang 1962; Studium der Journalistik in Leipzig; Wirtschaftsredakteur, später Chefreporter der Berliner Zeitung; seit 1999 Reporter für den Spiegel, u.a. in New York und Tel Aviv; 1993, 1999, 2001 Egon-Erwin-Kisch-Preis, 1995 Theodor-Wolff-Preis, 2009 Auszeichnung als "Reporter des Jahres" durch das Medium Magazin; er veröffentlichte zahlreiche Bücher mit Reportagen und Porträts, Erzählungen und Romanen.

Neunundachtzig


Wenn Menschen in die Geschichte geraten


An einem Abend im Frühsommer 1989 drückte mich mein Schwager in die Polster des Zweisitzers seiner Schwedenmöbelcouchgarnitur, auf die ich immer ein bißchen neidisch gewesen war, und schaute ernst. Er wollte mit mir reden. Es war eine ungewöhnliche Situation. Ich glaube, bis dahin hatte ich mit meinem Schwager keine ernsthaften Gespräche geführt.

Ich war 27 Jahre alt, 1,81 Meter groß und Diplomjournalist. Mein Schwager war zweieinhalb Jahre jünger als ich, aber einen Kopf größer. Er sprach das »Z« aus wie ein scharfes »S«, viele Berliner tun das. Er sagte »Sssucker« statt »Zukker«. Er hatte die 10. Klasse gerade so geschafft, aber er fuhr bereits sein drittes Auto. Sein Hängeboden war mit Autoersatzteilen vollgestopft, aber das wußte ich damals noch nicht. Er besaß alle Platten von Udo Lindenberg, er hatte weiche, beigefarbene Auslegeware und die hellen Möbel aus Holz und Leinen, die meine Mutter »Messemodelle« nannte, wie alle Produkte, die ihr zu gut für die DDR schienen. Er hatte viele, gesunde Zimmerpalmen und immer ein bißchen Westgeld. Er wirkte nie angestrengt. Er war hilfsbereit, er hatte die Decken meiner Wohnung tapeziert, eine Aufgabe, die mir unlösbar schien. Wenn gar nichts mehr lief, fiel ihm immer noch irgend etwas ein. Einmal besorgte er mir eine Sekretärin, die meine Diplomarbeit in zwei Tagen abtippte. Ich hatte nur noch diese zwei Tage bis zum Abgabetermin, und es war Wochenende. Niemand konnte mir helfen. Mein Schwager lud mich in sein Auto, ich glaube, es war gerade ein Saporoshez, und fuhr zu einem grauen Neubaublock in der Greifswalder Straße, er klingelte in einer oberen Etage, ein Mann in Unterwäsche machte auf, es schrieen Kinder, und zwischen ihnen in der kleinen, überheizten Wohnung gab es auch eine Frau, der mein Schwager irgendwann mal einen Gefallen getan hatte. Diese Frau war eine erstklassige Sekretärin. Sie konnte meine Handschrift lesen und schaffte es an dem Wochenende. Mein Schwager kannte überall Leute, die einmal wichtig sein konnten. Den meisten hatte er mal einen Gefallen getan. Er hatte im Wasserbau gearbeitet, dann in verschiedenen Malerbetrieben, seit ein paar Monaten verkaufte er an der Ostsee Turnhosen, auf die er Puma-Zeichen gedruckt hatte. Er verdiente damit an einem Wochenende soviel wie ich im halben Jahr als Wirtschaftsredakteur der Berliner Zeitung. Er verkaufte gefälschte Turnhosen, ich schrieb gefälschte Planwirtschaftsmeldungen. Mein Schwager kam mit dem Leben in der DDR offenbar besser zurecht als ich.

Wir saßen uns also im 4. Stock seiner Altbauwohnung im Prenzlauer Berg gegenüber.

»Wir hauen ab«, sagte mein Schwager.

Es dämmerte, wir waren gerade vom Wochenendgrundstück meiner Eltern zurückgekommen. Mein Schwager hatte mich mitgenommen. Ich hatte damals kein Auto und war überzeugt davon, daß ich mir in den nächsten zehn Jahren auch keines leisten könnte. Es war warm, die Türen zum Balkon standen offen. Den Balkon durfte man nur noch auf eigene Gefahr betreten, das alte Mietshaus zerbröselte. Es war die Zeit, in der die ersten Leute über Ungarn in den Westen flüchteten. Es schien, als hätte mein Schwager seine Flucht schon lange vorbereitet. Er erwähnte Tauchübungen, jetzt aber wollte er mit seinem Freund Mike wie die anderen über die ungarische Grenze nach Österreich fliehen. Anschließend würde er meine Schwester anrufen, die überrascht tun, schließlich aber einen Ausreiseantrag stellen würde. Er wollte sich Arbeit suchen, eine Existenz aufbauen, in zwei oder drei Jahren wäre die Familie wieder zusammen. Das war der Plan.

»Die Welt ist zu groß«, sagte mein Schwager.

Ich könnte schwören, daß er auch sagte: »Der Sinn meines Lebens kann nicht darin bestehen, einmal das Grundstück deiner Eltern zu erben.« Aber als ich ihm das neulich mal erzählte, stritt er es ab. Es hätte natürlich auch gut in meinen Kopf gepaßt. Es ist ein schönes Grundstück, es liegt im Wald und an einem See.

Bestimmt dachte ich an meine Schwester, die nebenan ihren kleinen Sohn ins Bett brachte. Ich würde sie lange nicht wiedersehen. Es war Frühsommer, die DDR wankte nicht, die Mauer stand noch fest. Ich wollte nicht abhauen. Ich würde von der Einschulung meines Neffen nur die Fotos sehen.

Das war traurig, aber ich kam nicht auf die Idee, sie zurückzuhalten. Nicht einen Moment lang. Womöglich habe ich sie verstanden, aber vielleicht habe ich auch schon an ihre Pakete gedacht. Ich würde endlich Westverwandte haben. Westverwandte ersten Grades. Ich müßte nicht mehr darauf warten, daß meine Mutter Rentnerin wurde. Das wäre erst im Jahr 1997 gewesen, ich wäre 35 Jahre alt gewesen und damit – davon war ich überzeugt – zu alt für die Jeans, die meine Mutter mir dann mitbringen könnte. So würde alles sehr schnell gehen. Ich war 27. Ich würde bald Jeans haben und Lindenbergplatten.

Ein Auto kriegte ich sofort.

Mein Schwager überließ mir seinen Polski Fiat an jenem Abend wie ein Vermächtnis. Er wollte das Auto in guten Händen wissen, sagte er. Er sprach über den 17 Jahre alten polnischen Wagen wie über einen Sohn. Autos waren damals auch Kinder. Er würde es so aussehen lassen, als hätte er es mir geborgt, bevor er ging. Er wollte 4000 Mark für das Auto haben, was praktisch geschenkt war, zumal ich keine 4000 Mark besaß. Es war eine Summe in Reichweite. Mein Schwager nannte mir Adressen von Leuten, die mir helfen würden, wenn zum Beispiel die Wasserpumpe kaputtgehen sollte. Die Wasserpumpe des Polski Fiat war sehr sensibel. Wir beschlossen auch, mich als Untermieter in ihre Wohnung einschreiben zu lassen. Es war eine kleine, helle Wohnung im Bötzow-Viertel zwischen Friedrichshain und Greifswalder Straße. Ich dachte daran, sie später zusammen mit der kleinen Karlshorster Wohnung, in der ich mit meiner Freundin und unserem Sohn wohnte, in eine große zu tauschen.

An diesem Abend griff die Geschichte direkt in mein Leben, aber ich spürte nichts davon. Ich dachte nicht an Geschichte, ich dachte an Jeanshosen. Als ich nach unten ging, streichelte ich den fleckigen Polski Fiat, der vor ihrem Haus stand. Mein erstes Auto. Ich behielt das Geheimnis. Aber als ich ein paar Tage später mit dem Auto zur Ostsee fuhr, fühlte ich mich schon wie der Besitzer. Dort rief mich meine Schwester irgendwann an und sagte, daß ihr Mann in den Westen abgehauen war. Ich hatte jeden Tag auf diesen Anruf gewartet. Jetzt stand ich im Essensaal eines FDGB-Heims in Ahlbeck auf der Insel Usedom und tat überrascht.

»Was!« rief ich in den Hörer.

»Jaa!« rief sie zurück. »Ist das nicht schlimm? Ich weiß gar nicht, was ich machen soll.«

»Bleib ruhig«, rief ich zurück.

Wir spielten ein aufgeregtes Telefongespräch, weil wir sicher waren, daß man uns dabei zuhörte. Meine Schwester war in den Mittelpunkt der Welt gerückt. Ihre kleine Familie war zerrissen, verstreut über zwei Gesellschaftssysteme. Ihr Mann war unvorstellbar weit weg, wir waren alle nie im Westen gewesen. Wahrscheinlich hatte die Staatssicherheit in diesen Tagen wichtigere Dinge zu tun, aber woher sollten wir das wissen. Meine Schwester wollte so schnell wie möglich raus, und mein Leben in der DDR ging ja weiter.

Ich weiß noch genau, wie ich an den Tisch zurückging, an dem meine Freundin mit unseren Urlaubsbekanntschaften aus Pankow saß. Es war ein langer Weg, auf dem ich versuchte, ernst zu bleiben. Mein Schwager war in Gießen. Er war durch ungarische Wälder gerobbt, während ich im Strandkorb saß. Er war ein Held, ich ein FDGB-Urlauber.

Er hat wohl eher an sich gedacht als an das sozialistische Lager. Aber er brachte es ins Schwanken. Er, sein Freund Mike und all die anderen. Sie waren Helden der Geschichte, sie bestimmten die Nachrichten. Ich dagegen richtete mich in meiner kleinen Welt noch ein bißchen gemütlicher und fester ein.

Mein Schwager reiste nach Westberlin und winkte seiner Familie von einem der Grenztürme zu. Sie standen im Prenzlauer Berg und winkten zurück. Meine Schwester begann, die Wohnung aufzulösen. Einmal trug ich mit meinem Vater einen Kühlschrank runter, mehr weiß ich nicht mehr. Es war Herbst, es wurde früher dunkel.

Immer mehr Menschen gingen in den Westen. Ich blieb. Ich schlich um die Funktionärshäuser, die mit Westgeld gebaut wurden, ich interviewte Horst Sindermann in seinem Wohnzimmer in Wandlitz, Alexander Schalck-Golodkowski auf der Parteiversammlung des Außenhandels in Berlin-Mitte und Volkspolizisten in der Wache an der Gethsemane-Kirche. Aber als die Mauer fiel, ging ich ins Bett. Ich machte das Radio aus, in dem Menschen schrieen, ich schloß die Fenster und klappte die Klappliege aus. Ich war enttäuscht. Ich habe nicht mal daran gedacht, daß ich hier eine historische Nacht verpassen könnte. Ich war soweit weg. Meine Schwester packte ihre Sachen und fuhr rüber zu ihrem Mann. Damit ging die Geschichte zu Ende. Der Plan war erfüllt, für die äußeren Umstände konnte man sie nicht verantwortlich machen.

Ich hatte noch gar nicht angefangen, für meinen Schwager war an diesem Novemberabend die Heldenzeit vorbei. Es gab jetzt neue Helden. Ich folgte ihnen. Ich fuhr mit dem geerbten Polski Fiat übers Land.

Die Grenzen zwischen meinem Leben und dem Leben, das ich beschrieb, berührten sich nun.

Die Wohnung im Bötzow-Viertel stand leer. Mein...

Erscheint lt. Verlag 31.5.2018
Reihe/Serie Literarische Publizistik
Zusatzinfo 21 s/w-Abbildungen
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Angela Merkel • Boris Becker • David Fontana • Gregor Gysi • Joschka Fischer • Judith Lapierre • Katarina Witt • Nadja Bunke • Oliver Kahn • Pablo Ortiz • Tamara Bunke • Teofilo Stevenson
ISBN-10 3-86284-422-6 / 3862844226
ISBN-13 978-3-86284-422-7 / 9783862844227
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,4 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich

von Elke Heidenreich

eBook Download (2024)
Hanser Berlin (Verlag)
15,99
Nr. 898, Heft 03, März 2024

von Christian Demand; Ekkehard Knörer

eBook Download (2024)
Klett-Cotta (Verlag)
9,99