Heilige und andere Tote (eBook)

Roman

(Autor)

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2018 | 1. Auflage
382 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-8431-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Heilige und andere Tote -  Jess Kidd
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Bridlemere - ein herrschaftliches Anwesen im Westen Londons, das seine besten Tage bereits gesehen hat. Hier haust mutterseelenallein Cathal Flood. Einst Antiquitäten- und Kuriositätenhändler, ist er längst zu einem Messie verkommen. Sein Sohn hofft, ihn auf Dauer in ein Altenheim verfrachten zu können. Die Neueste in der endlosen Reihe erfolgloser und unterbezahlter Sozialarbeiter, die Cathal nun zur Räson bringen soll, ist Maud Drennan. Unter den wüsten Beschimpfungen des Alten zieht sie beherzt gegen Dreck und Müll zu Felde. Doch trotz aller Unerschrockenheit ist ihr Bridlemere unheimlich. Überall im Haus scheinen verschlüsselte Botschaften zu warten. Wie das Foto von zwei Kindern, auf dem das Gesicht des Mädchens weggebrannt ist. Hat Flood eine Tochter? Wieso weiß niemand von ihr? Und warum hasst er seinen Sohn so sehr? Auch der Tod seiner Frau gibt Fragen über Fragen auf. Maud würde am liebsten alle bedrückenden Hinweise ignorieren. Doch ihre leicht bizarre Vermieterin Renata, die für ihr Leben gern Detektivin spielt, und eine Horde marodierender Heiliger, die nur Maud sehen kann, wittern längst ein Verbrechen.

Jess Kidd, 1973 in London geboren, hat einen Großteil ihrer Kindheit an der irischen Westküste verbracht. Sie hat Literatur an der St. Mary's University in Twickenham studiert. Bei DuMont erschienen 2017 ihr Debütroman >Der Freund der Toten<, der auf der Krimibestenliste stand, 2018 und 2019 die Romane >Heilige und andere Tote< und >Die Ewigkeit in einem Glas<. Die Autorin lebt mit ihrer Tochter in West London.

Jess Kidd, 1973 in London geboren, hat einen Großteil ihrer Kindheit an der irischen Westküste verbracht. Sie hat Literatur an der St. Mary’s University in Twickenham studiert. Bei DuMont erschienen 2017 ihr Debütroman ›Der Freund der Toten‹, der auf der Krimibestenliste stand, 2018 und 2019 die Romane ›Heilige und andere Tote‹ und ›Die Ewigkeit in einem Glas‹. Die Autorin lebt mit ihrer Tochter in West London.

Kapitel 2

Ich haue nicht ab, ganz im Gegenteil. Ich gehe in die Küche, schließe die Tür, klemme einen Stuhl unter die Klinke und suche mir eine schwere Eisenpfanne aus. Ich teste ihr Gewicht in der Hand und stelle sie griffbereit auf den Resopaltisch.

Ich bin von Berufswegen verpflichtet, Mr Flood ein nahrhaftes Abendessen zuzubereiten. Dann kann ich abhauen.

Heute mache ich ihm eine Pastete aus Rindfleisch, Nieren und Kartoffeln. Zum Nachtisch gibt es Götterspeise mit Mandarinen. Meine Vermieterin Renata Sparks meint, ich sollte Mr Floods Geld einstecken und ihm Hundefutter und Cracker servieren. Ich erkläre ihr, dass ich einen gewissen beruflichen Stolz daraus beziehe, jeden Morgen einen leer gegessenen Teller vorzufinden. Außerdem sieht der alte Mann schon deutlich weniger kränklich aus, zwar immer noch ausgemergelt, aber um die Augenhöhlen herum schon ein bisschen voller. Renata lacht schnaubend über mich.

Überdies muss ich sein Katzenrudel füttern, bevor ich verschwinde.

Ich habe sie alle nach großen Schriftstellern benannt. Hemingway hat ein halbes Ohr und miaut aufreizend, Dame Cartland ist eine umgängliche Perserkatze mit verfilztem Hinterteil, und Burroughs, mürrisch und hinterhältig, faucht argwöhnisch in den Ecken. So allmählich kommen sie, wenn ich sie rufe. Sie streichen mir um die Beine und verpassen mir beulige Sternbilder aus Flohbissen.

Das eine oder andere Mal verharre ich, weil ich etwas an der Tür höre: ein schwaches Rufen, ein Kratzen, vielleicht nicht von den Katzen. Das eine oder andere Mal greift meine Hand nach der Pfanne. Doch letztlich ist es falscher Alarm. Jetzt, wo ich der Toilette unten entflohen bin, rufe ich mir Folgendes in Erinnerung:

1. Bekanntlich gibt es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde usw. usw., aber selten sind ihre Methoden so unmittelbar oder verständlich.

2. Ich habe Biba Morels Haftungsklausel nur überflogen, aber wenn ich sie genauer studiert hätte, wären mir die Formulierungen amtliche Durchsuchung, Sprengfallen, raffinierte Mechanismen, polizeiliche Warnung aufgefallen.

3. Schnelle Reflexe und schweres Kochgeschirr können das Blatt in nahezu allen verzweifelten Situationen wenden.

Ich erledige den Abwasch in einem ruhigen, gleichmäßigen Tempo, ziehe meine Jacke an und schließe den hinteren Eingang hinter mir ab. Ich unterdrücke das Verlangen loszurennen und schreite bedächtig den Gartenweg hinunter. Ich beglückwünsche mich selbst, als ich das Tor in einer gelassenen und beherrschten Gangart erreiche, und trete hinaus auf die Straße.

Und hole tief Luft.

Hier fühlt sich der Bürgersteig unter meinen Füßen sicher an, nichts schwankt oder rutscht weg. Hier sind die Gerüche einfach, unkompliziert: Busabgase, der schwindende Hauch einer Zigarette. Nicht der starke, strenge, überwältigende, ekelerregende Gestank von jahrzehntelang gehortetem Abfall, einem ungewaschenen alten Mann, einhundert Katzen, der Scheiße von einhundert Katzen und den gedeihlichen Überresten eines verrotteten Gartens.

Es ist komisch, wie Menschen und Sozialbetreuer sich anpassen. An meinem ersten Tag dachte ich, der Mief in Mr Floods Haus würde mir den Rest geben. Am Ende meiner Schicht konnte ich ein Feigenröllchen essen, solange ich durch den Mund atmete.

Aber ich habe mich nicht an die Beklommenheit gewöhnt, die mich befällt, wenn ich in den Bus zur Arbeit steige, oder an die Bangigkeit, die mit jedem Schritt auf dem Weg von der Haltestelle zu Mr Flood wächst, oder an das Grauen, das mich erfasst, wenn ich über die Schwelle seines Hauses trete.

Ich blicke durchs Tor zurück auf Bridlemere. Von der Straße aus ist es eine dunkelgrüne Wand, ein Wald aus Leyland-Zypressen, die um Dornröschens Schloss herum in die Höhe ragen.

Der einzige Weg hinein führt jetzt durch das hintere Tor, vorbei an Schuppen und anderen halb verfallenen Nebengebäuden. Einen Pfad entlang, der gesäumt wird von Fahrradwracks, zerfetzten Matratzen und ausgebauten Autobatterien. Verlässt du den Pfad, kommst du angeblich in einen ummauerten Garten mit einem Eishaus, einem alten Ziehbrunnen und einem Torhaus mit Bogenfenstern. Bleibst du auf dem Pfad, gelangst du zur Rückseite des Hauses mit dem Wintergarten rechter Hand. Eine Miniatur-Glaskathedrale voller Spitztürme und Bogen, die Scheiben weiß von Tünche-Wirbeln und grün bemoost. Die unteren Fenster des Hauses sind blickdicht gemacht worden: mannshoch mit Zeitungen zugeklebt oder die Klappläden geschlossen. Eine Eisentreppe führt zur hinteren Tür, zur Küche, zum Wirtschaftsraum und zur Vorratskammer.

Das Haus hat vier Stockwerke, und das oberste ist ein Belvedere, eine lange verglaste Galerie, die mir, sollte ich sie je betreten, Aussicht auf ganz London bieten würde. Von da oben würde ich die Tragflächenspitzen der Flugzeuge sehen, die in Heathrow landen, oder die Masten der Schiffe in Greenwich. Von da oben würde ich den Wachwechsel vor dem Buckingham Palace sehen können oder wie eine Taube auf die Nelsonsäule kackt.

Linker Hand führt ein schmaler Pfad weiter zur Vorderseite des Hauses, wo sich zwischen wild wucherndem Gestrüpp und gärenden Müllsäcken noch immer eine Einfahrt erahnen lässt. Sie umschließt ein Wasserbecken mit einem Springbrunnen, wo eine Nymphe mit Moos in den Ritzen und Spalten verwittert.

Die Stelle, wo 1977 zwei Kinder standen, eines mit Gesicht und eines ohne. (Ich schaue in meiner Handtasche nach. Das Foto ist da, steckt fürs Erste wieder aufgerollt in der Flasche.)

Die Nymphe hält sich noch immer eine Muschel ans Ohr, tut so, als würde sie lauschen. Zu ihren Füßen tummeln sich Steinfische mit Glupschaugen, und unsägliche Teichgeschöpfe dümpeln im Wasser voller Algen, einer schlammigen Suppe. Sie blickt gelangweilt zur Veranda hinüber, als warte sie darauf, dass die Bewohner des Hauses herauskommen, was sie nicht tun, da die Tür mit Lackfarbe zugeklebt ist. Geh die breite, flache Treppe hinauf und späh durch den Briefschlitz – geht nicht: Er ist zugenagelt.

In Bridlemere hat das Licht einen Unterwassereffekt, einen grünlichen Schimmer von den hohen Bäumen rings um das Haus. Auch der Klang ist anders, Geräusche werden leiser, sodass der Verkehr draußen kaum zu hören ist. In Bridlemere gibt es nur den Müll, der langsam in sich zusammensinkt, das Schleichen von Katzen und, wenn er nicht aus vollem Halse brüllt, die leisen Bewegungen von Mr Flood oder die Stille seiner Reglosigkeit. Manchmal auch eine Art gedämpftes Rascheln, eine Art Flüstern. Als würde ein Häufchen Blätter aufgeweht oder ein Gebet geraunt, hastig und verzweifelt, knapp außer Hörweite.

In Bridlemere zaudert die Zeit und weicht zurück, hustend und schlurfend. Hier verwest Geschichte lautlos, und Eleganz welkt höflich vor sich hin.

Trotz alledem wirkt das stille Haus nicht friedlich, denn immer ist da das ominöse Gefühl, beobachtet zu werden, ein unstetes zielloses Gefühl. Als würden nicht nur Katzen deine Bewegungen verfolgen, als würden namenlose Augen dir bei allem, was du tust, auf die Finger schauen.

In Bridlemere verschwinden Gegenstände und tauchen irgendwo anders wahllos wieder auf. Legst du deine Armbanduhr auf die Fensterbank, findest du sie an einem Haken der Anrichte wieder. Schau kurz weg, und die Teekanne, die du auf den Tisch gestellt hast, steht nun auf einem Regal in der Vorratskammer.

In Bridlemere erschrecken Katzen vor nichts und flüchten fauchend mit gesträubten Nackenhaaren und angelegten Ohren durch den Flur. Oder aber sie reiben sich schnurrend an leerer Luft.

In Bridlemere bauen Spinnen Netze wie barocke Kunstwerke. Sie hängen überall im Haus wie verschlüsselte Warnungen.

Doch es ist nicht ratsam, zu viel darüber nachzudenken.

Sam Hebden hat zweifellos zu viel darüber nachgedacht, und deshalb hat Bridlemere ihn nervlich zerrüttet. Mr Floods versuchte Körperverletzung mit dem Hurling-Schläger hat ihm den Rest gegeben; das Haus wird Sam vorher schon fertiggemacht haben.

Sam Hebden war ein hochqualifizierter Sozialbetreuer mit Zusatzdiplom im Bereich »Konfliktbewältigung in der Altenpflege«. Er musste nicht eingearbeitet werden, warf lediglich einen Blick auf die Risikoanalyse. Er arbeitete allein. Manche sagten, Sam war ein großer Mann mit einem Haarknoten auf dem Kopf wie ein Samurai. Manche sagten, er fuhr eine Ducati und hatte eine Kobra auf den Hals tätowiert. In Wahrheit hatte nur Biba ihn je gesehen, und sie sprach seinen Namen leise und mit mühsam beherrschter Begeisterung aus. Sam war die menschliche Verkörperung eines erfolgreich umgesetzten Betreuungsplans. Er war unangreifbar.

Dann kam er nach Bridlemere.

Dann war er weg.

Vielleicht ist er auf sein Motorrad gestiegen und nach Hause gefahren. Vielleicht ist er mit Schaum vor dem Mund und von empfindungsfähigem Müll faselnd in eine psychiatrische Einrichtung eingeliefert worden.

Wer weiß?

Es ist nicht ratsam, Sam Hebdens Schicksal auf die leichte Schulter zu nehmen. Arbeitsbedingungen wie hier hat es zuletzt vor 150 Jahren gegeben. Ganze Tage gefangen in einem Labyrinth aus Gerümpel, dazu ein gestörter alter Knacker, der jeden Augenblick einen Tobsuchtsanfall kriegen kann, mit klapperndem Gebiss und Speichel sprühenden Hängelippen und allem, was dazugehört. Dem heutigen Tag nach zu urteilen ist er mit seinen langen Beinen trotz seines Alters dermaßen flott unterwegs, dass ich ihm nicht entwischen könnte. Mein einziger Schutz sind ständige Wachsamkeit und die Bereitschaft, einem Achtzigjährigen kräftig in den Hintern zu treten.

Als ich das...

Erscheint lt. Verlag 17.9.2018
Übersetzer Klaus Timmermann, Ulrike Wasel
Sprache deutsch
Original-Titel ›The Hoarder‹
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Literatur Krimi / Thriller / Horror
Schlagworte Abfall • Alter Mann • Betrüger • cover mit katze • Der Freund der Toten • Ehefrau • Eifersucht • Fantasie • Geheimzimmer • Geister • Gothic novel • Grusel • Habgier • Heilige • Himself • Hobby-Detektiv • Katzen • Kuriositätenhändler • Medium • Messie • Misstrauen • Mord • Mörder • Müll • Phantastische Literatur • Romane & Erzählungen • Schuld • Schwester • Skurrilität • sohne • Sozialdienst • Spuk • the Hoarder • Things in Jars • Tochter • Todesangst • verschwundene Mädchen
ISBN-10 3-8321-8431-7 / 3832184317
ISBN-13 978-3-8321-8431-5 / 9783832184315
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