'Ich würde heute ungern sterben' (eBook)

Interviews von 1978 bis 2016

(Autor)

Thekla Chabbi (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
576 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00146-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

'Ich würde heute ungern sterben' -  Martin Walser
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Die wichtigsten Interviews aus 40 Jahren: intellektuell brillant, weitsichtig und streitlustig. «Meine Muse heißt Mangel» - so hat Martin Walser schon früh den Ausgangspunkt seines Schreibens gefasst. Was es heißt, ein Leben als Schriftsteller und Intellektueller mit diesem Mangel zu führen, darüber geben die wichtigsten Interviews Martin Walsers Auskunft - und über so viel mehr: über Kafka, natürlich, über das Verhältnis von Literatur und Welt, die Gruppe 47, deutsch-deutsche Geschichte, große Zeitenwenden und die Größe der kleinen Momente, über das Schreiben als Belebung. Ein tiefer Einblick in das Werk und das Denken Martin Walsers.

Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Martin Walser starb am 26. Juli 2023 in Überlingen. 

Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Martin Walser starb am 26. Juli 2023 in Überlingen.  Thekla Chabbi, 1968 geboren, studierte Sinologie in Trier und Nanjing. Sie übersetzte u.a. die Romane des chinesischen Schriftstellers Li Er ins Deutsche. Für ihr Lehrwerk "Liao Liao" erhielt sie den Friedhelm-Denninghaus-Preis.

Ansprüche an die Romanform


Ein Gespräch mit Irmela Schneider 1981

In Ihren Reden und Aufsätzen betonen Sie immer wieder die Bedeutung, die Hölderlin, Kafka und Robert Walser für Sie haben. In welcher Weise wirkt sich eine so enge Traditionsbindung auf den eigenen Schreibprozess aus?

Kafka hat mich in einem Augenblick des Prosaschreibenwollens getroffen, sodass ich jahrelang nicht anders konnte, als mein eigenes Schreibenwollen unter dem Klischee dieses Meisters ausbilden zu müssen. Ich bin jahrelang davon nicht losgekommen. Das war für mich eine Art universaler Resignation, als ich feststellen musste, nicht nur durch die Beobachtung dessen, was ich selber machte, sondern auch durch das Herumschauen in Europa und in der Welt, dass in der Kafka-Nachfolge sozusagen kein Roman mehr zu schreiben ist. Die, die das probiert haben, sind, glaube ich, ehrenvoll gescheitert. Ich habe unwillkürlich kürzere Prosastücke unter seinem Einfluss geschrieben, habe aber gemerkt, dass ich meine eigenen Erfahrungen, soweit sie romanhaft zu Buche schlagen wollten, in seinem Zeichen nicht habe ausarbeiten können.

Sehen Sie Ihr Romanschreiben in einer bestimmten literarischen Tradition?

Ich glaube, das ist die Crux beim Romanschreiben, dass es darin wenig Tradition gibt, viel weniger sicher als beim Theaterschreiben. Brecht hat eine ganze Reihe von Autoren beeinflusst, das kann man feststellen. Sie haben bei ihm was gelernt, und das merkt man, dass sie was gelernt haben. Beim Romanschreiben, das ist ziemlich schlimm für die ganze Gattung, wird wenig gelernt. Zum Beispiel glaube ich aus eigener Erfahrung, dass die meisten Autoren die Form des Romans gar nicht ernst nehmen, dass sie gar nicht glauben, dass es so etwas gibt wie eine Romanform. Für mich spielt die Romanform seit 1975/76 eine erahnbare Rolle. Vorher habe ich so eine Art Ich-Oratorien geschrieben. Jetzt habe ich das Gefühl, ich müsste meine eigene Romanform entwickeln.

Sie haben ja einmal die Lyrik als die höchste Form bezeichnet.

Lyrik ist die begehrenswerteste Ausdrucksweise oder die anspruchsvollste Ausdrucksweise, weil sie den größten Formwiderstand mit der größten Unmittelbarkeit synthetisieren können soll. Deswegen findet sie auch ziemlich selten statt.

Auf diesem Anspruchsniveau.

Ja, aber darunter ist es nicht. Das wäre im Grunde genommen auch das, was man vom Roman verlangen müsste, aber bei der Lyrik kann man es gedichtweise mit einem Blick fast überschauen: Hier ist es. In einem Stefan-George-Gedicht, in einem Stefan-George-Schlager, Im Jahr der Seele: Komm in den totgesagten Park und schau … – Das ist vollkommen. Und jetzt das Erzählen, nicht nur als Satz für Satz, sondern auch noch als Romanform, das heißt, ein glücklich sich rundendes Abenteuer aus nichts als Sprache heraus wirtschaftend, aus der Antwort, die man selber gezwungen ist, seinen Erfahrungen zu geben. Das ergäbe einen Roman. Und das ist auch schwer, gerade das sich Rundende, was zum Abenteuer gehört. Zum Abenteuer gehört der Schluss, und der Roman stammt wie alle Literatur aus der Religion, und die Religion ist der Versuch, ein Happy End aus einer Wüste und aus einem Wust von gegensprecherischen Erfahrungen herauszuwirtschaften. Das ist eben Kunst, diese Sinnlosigkeitswüste mit so einer Produktion zu beantworten. Und wenn man das nicht will, wenn man nur die Misere ihren Ton haben lassen will, dann braucht man erst gar nicht zu schreiben, dann soll man stammeln oder Surrealismus machen oder ich weiß nicht was.

Ich will ein Stichwort aufgreifen: Literatur als «bastardisierte Religion».

Das ist ein Understatement, eine die Herkunft vermuten lassende Formulierung.

Wenn man an die Formulierung von Marx denkt: Religion als Seufzer der bedrängten Kreatur und gleichzeitig Opium des Volkes, trägt dann nicht jedes literarische Werk notwendig diese Ambivalenz von schlechter Affirmation und Protest in sich?

Beide Meinungssplitter von Marx wären mir unzureichend als Charakterisierung dessen, was Religion ist. Das ist viel mehr. Der Seufzer ist zu wenig, weil Seufzer ja unmittelbar ist und Religion ist Form, Opium kann alles werden, da braucht es nicht Religion, alles was wir produzieren, kann umschlagen ins Gegenteil, alles kann formalisiert, entleert, hierarchisiert werden. Das passiert nicht nur der Religion. Wenn ich Religion sage, dann meine ich immer erstens meine Kindheitsgeschichte, von der ich natürlich weit weg bin, aber das habe ich ja erlebt, das war ja das literarische Erlebnis schlechthin, die ersten Geschichten, die man mir erzählt hat, von Absalom, Susanne, Abraham und Isaak. Das waren die ersten Geschichten, die ich gehört habe, und die waren natürlich noch vor Kafka da und haben deswegen noch mehr gewirkt auf mich. Auch die Rundungen dieser Geschichten sind natürlich ein unglückliches Vorbild für jeden, der Erzähler wird, weil auf diese Weise keine Geschichten mehr zu runden sind. Aber gut, nehmen wir mal an, dass man sich das so vorstellen kann, dass die Literatur eine geschichtliche Nachfolgerin dieser Bilderproduktion Religion ist, dann kann sie es auch auf sich nehmen, wie Sie es meinten, das hat sie ja auch oft bewiesen. Natürlich kann sie beides sein, natürlich kann sie Licht und Dunkel machen, das ist nicht schlimm, das ist eben so.

Natürlich gibt es eine Menge affirmativer Literatur. Mir kam es darauf an, ob in dieser Parallelisierung von Religion und Literatur die Implikation enthalten ist, dass Literatur notwendigerweise auch affirmativ sein muss.

Ich hatte einmal Anlass, mir das genau zu überlegen, und bin da zu einem für manche aktuelle Komplikation beschämenden Ergebnis gekommen. Ich möchte das, was ich jetzt sage, nicht für jede aktuelle Situation wieder anwenden oder anwenden müssen: nämlich wenn es heute möglich ist, dass irgendein negativer gesellschaftlicher Anlass, um es ganz abstrakt zu sagen, Anlass für Literatur wird, dann ist unter unseren Umständen selbst die negative Antwort eines Schriftstellers auf diesen negativen Anlass in der Wirklichkeit auch zu einem Teil Affirmation. Adorno hat in seinem Aufsatz Versuch, das Endspiel zu verstehen gesagt, Brecht sei affirmativ mit seiner ganzen Kritik, und das meinte Adorno böse, kritisch gegen Brecht, während irgendeine Unverständlichkeit Becketts unheimlich kritisch sei.

Durch die Verweigerung.

Ja, Entschuldigung, ich bin ja weit draußen, Laie am Rande – ich finde das blödsinnig. Ich finde schon, dass Brecht affirmativ ist, wenn er sich einlässt auf Wirklichkeit, aber ich finde, das ist nicht kritisierbar. Ich finde das ungeheuer gut, dass Brecht die Wirklichkeit in seine Diskussion so hineinzieht und dass die Wirklichkeit so mit sich reden lassen muss, und dass er ihr Darstellungsstrenge ablistet usw. Seinen ganzen listigen Umgang mit der Wirklichkeit finde ich bewundernswert. Es ist mir aber auch klar, dass das affirmativ ist. Aber das ist für mich etwas anderes, als Adorno es gemeint hat. Für mich ist das Affirmative daran, dass die Wirklichkeit doch schon so akzeptabel ist, dass man mit ihr reden kann und dass ich mir nicht selbst eine Pistole bastle und eine Revolution mache. Nur das meine ich damit. Es gibt Verhältnisse, da kann man nicht mehr schreibend umgehen damit, da muss man was anderes tun. Und wenn wir in diese Verhältnisse gekommen sind, wo wir uns auf diese Weise auseinandersetzen, ist jede schriftliche Äußerung auch etwas Affirmatives, auch die – in Adornos Sinne – becketthafte Verweigerung. Aber so wie es Adorno dort gesagt hat, da finde ich, das haben die Verhältnisse nicht verdient, das würde wohl auch kein Schriftsteller, der an diesem Allgemeinen, nämlich an der Sprache, so interessiert ist, das würde, glaube ich, keiner, wenn er nicht von allen guten Geistern verlassen ist, wollen. Denn dann benutze ich nicht Sprache. Dann mache ich wiederum etwas anderes, dann ist selbst Tachismus viel zu sehr ABC. Dann mache ich doch überhaupt nicht Ausdrucksgewerbe, dann nehme ich doch Sprengpaketchen und lege sie irgendwohin. Das ist doch dann viel vernünftiger, dann weiß ich wenigstens sicher, dass ich mich nicht eingelassen habe.

In Ihrer Abgrenzung scheinen Sie mir, was auch mit Ihrer Hinwendung zum Roman und dem zunehmenden Interesse am Roman zusammenhängt, von einer positiv gearteten Geschichtsphilosophie auszugehen, die bei Beckett ja zu einer negativen geworden ist.

Ich gehe nicht von irgendeiner Philosophie aus, aber ich habe ein Bedürfnis, natürlich, dass diese kurze Zeit mit Illusionen verbracht wird, die die Kürze dieser Zeit erträglicher machen, und dass sich die Kürzen dieser Zeit miteinander verbinden lassen, von einer Generation auf die andere, weil das sonst einfach ein bisschen blödsinnig ist.

Eine weitere Formulierung, die prägend geworden ist und die Sie auch schon häufig erläutert haben: Schreiben als Ausdruck eines Mangels. Was mir auffällt: Sie umschreiben diese Standortbestimmung mit gesellschaftskritischen Kategorien, und die Gestalten des Romans – etwa in Seelenarbeit und in Schwanenhaus – bekommen diesen Mangel nicht gesellschaftspolitisch in den Griff, sondern privatisieren ihn. Sie tun genau das, was die Gesellschaft abverlangt,...

Erscheint lt. Verlag 24.4.2018
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Biografie • Interviews • Kafka • Literatur • Poetologie • Politik • Roman • Schreiben • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-644-00146-4 / 3644001464
ISBN-13 978-3-644-00146-6 / 9783644001466
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