Ich bin mal eben wieder tot (eBook)

Wie ich lernte, mit Angst zu leben
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
272 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-44476-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ich bin mal eben wieder tot -  Nicholas Müller
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So offen hat es noch niemand beschrieben, wie das ist, wenn einem Angst und Panikattacken das Leben schier unmöglich machen wie Nicholas Müller. Und das ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Karriere seiner Band Jupiter Jones. Der Herzschlag beschleunigt sich, der Blutdruck steigt, der Atem wird schneller, kalter Schweiß bricht aus. Ein Herzinfarkt? Ein Schlaganfall? Ein Tumor? Der erfolgreiche Liedermacher Nicholas Müller kann die Symptome nicht deuten, als sie zum ersten Mal auftreten. Nach vielen medizinischen Untersuchungen erst erhält er die Diagnose: generalisierte Angststörung mit starken Panikattacken, Hypochondrie und depressiven Episoden. Zehn Jahre lebt er mit der Krankheit, doch dann geht nichts mehr. Zu diesem Zeitpunkt ist sein Song 'Still' das meistgespielte Lied im Radio. Nicholas Müller begibt sich in Therapie, zieht sich aus allem raus. Wie Nicholas Müller es schafft, die Angst zu überwinden und mit seiner neuen Band von Brücken wieder Auftritte zu wagen, erzählt er in diesem Buch radikal ehrlich und mit kraftvoller Sprache. Ein Buch, mit dem der erfolgreiche Musiker Nicholas Müller all jenen Mut macht, die ebenfalls unter einer Angststörung leiden, und in dem er Wege aufzeigt, mit Angst zu leben.

Nicholas Müller, geboren 1981, war Sänger der Band Jupiter Jones, bis ihn 2014 eine Angststörung zwang, auszusteigen. Für den Top-Ten-Hit 'Still' erhielt er einen Echo und Gold- und Platinschallplatten. Nach einer Therapie schaffte er den Neuanfang: 2015 gründete er die Band von Brücken. Der Hochschul-Dozent für Popmusik arbeitet auch als Textschreiber. Zudem ist er Schirmherr der Deutschen Angstselbsthilfe. www.nicholas-mueller.de www.vonbruecken.de

Nicholas Müller, geboren 1981, war Sänger der Band Jupiter Jones, bis ihn 2014 eine Angststörung zwang, auszusteigen. Für den Top-Ten-Hit "Still" erhielt er einen Echo und Gold- und Platinschallplatten. Nach einer Therapie schaffte er den Neuanfang: 2015 gründete er die Band von Brücken. Der Hochschul-Dozent für Popmusik arbeitet auch als Textschreiber. Zudem ist er Schirmherr der Deutschen Angstselbsthilfe. www.nicholas-mueller.de www.vonbruecken.de

Prolog:
Der Tod kann mich mal am Abend besuchen


Sometimes I get this feeling, that I won’t be on this planet for very long

Ben Folds – Don’t change your plans

 

Ich bin in den letzten zehn Jahren zwischen vierundzwanzig und fünfunddreißig, zwischen 2006 und 2017, mindestens tausend Mal gestorben. Keine Angst, ich schreibe Ihnen nicht aus dem Orkus. Das hier ist keine zwischenweltliche Erfahrung oder Ähnliches. Genau genommen sitze ich in einem kleinen Studio am Münsteraner Hafen, aus meinen Boxen klimpert Meditatives, und wenn ich den Blick schweifen lasse, dann sehe ich durch das Fenster zu meiner Linken den rümpeligen Innenhof der benachbarten Wohnungsverwaltung und rechts ein paar Irre, die bei Lauskälte Wasserpolo spielen. Mein Rücken schmerzt wie immer, daran hat auch der unbequeme Hightech-Aktivsitz-Stuhl nichts geändert, den ich mir für teuer Geld hab aufschwatzen lassen. Irgendwie schmerzt heute auch mein linkes Knie, und es würde mich nicht wundern, wenn ich die Arthrose meines Vaters geerbt hätte. Alles in allem eine sehr weltliche Erfahrung. Ich glaube nicht, dass im Jenseits orthopädische Sitzmöbel und Knochenleiden noch eine Relevanz haben. Ich will es zumindest schwer hoffen.

Ich habe mal eine Stunde in einem Floating-Tank verbracht. Das ist so eine New-Age-Maschine, in der extrem salziges und perfekt auf die Körpertemperatur abgestimmtes Wasser dafür sorgt, dass man auf der Oberfläche treibt und sich nach wenigen Minuten selbst nicht mehr spürt. Das Ganze geschieht in totaler Dunkelheit und mit Unterwasser-Lautsprechern, die Klangschalengeräusche und Waldgeplänkel von sich geben. Zumindest dann, wenn man der Dame vom New-Age-Institut Folge leistet. In meinem Fall hat Peter Gabriel für mich gesungen. So oder zumindest sehr ähnlich stelle ich mir die Architektur des Jenseits vor. Irgendwo rumschweben, und im Hintergrund läuft »Wallflower« in der Orchester-Version. Das wäre voll okay so.

Aber es ist noch nicht so weit. Ich bin hier, existiere. Ich denke, also bin ich. Ich hab Rücken, also bin ich. Und so weiter.

Um sie und mich restlos davon zu überzeugen, ertaste ich gerne genau jetzt meinen Puls. Geben Sie mir ein paar Sekunden. Jipp, da ist er. Eins, zwei, drei, dreieinhalb – Extrasystole – vier, fünf … Irgendwie paukt der heute ganz ordentlich. Ich lasse das lieber. Das macht mich am Ende nur besorgt.

Wir wissen also: Ich lebe. Wider jegliche Erwartung. Zumindest dann, wenn man von meiner Erwartung ausgeht. In meiner Erwartung hatte ich schon alles möglichst Tödliche. Herkömmliche Lebensbeender wie Herzinfarkte, Schlaganfälle, Aneurysmen, Hepatitis A bis Z, Krebs, vom Scheitel bis zu Sohle. Hirnhautentzündungen, spontane Epilepsie. Ich bin schon überall heruntergefallen, mit allem abgestürzt, vor jede Mauer gekracht. Meine aus der Jugendzeit rübergerettete Adipositas hat mir die Arterien verstopft, mein Zigarettenkonsum die Lungen schwarz gestrichen. Nicht etwa, dass mich das zum Asketen gemacht hätte.

Nein, so konsequent bin ich nicht. Schade eigentlich.

Nun, ich habe mir auch schon Absurdes und Obskures gefangen. Denguefieber, weil der Freund eines Bekannten das aus dem Urlaub mitgebracht hatte. Die Krätze, von diesem einen Mal, als ich den Junkie im ICE von Hamburg nach Münster davon abgehalten habe, sich die Haut vom Arm zu kratzen und das Zugabteil zu demontieren, und ich dafür zwei Getränkegutscheine vom Zugbegleiter als Dankeschön bekam. All das hatte ich schon. Und dann wieder nicht. Superseltene Erbkrankheiten, für die es an meinem Stammbaum nicht einen einzigen, noch so winzigen Ast elften Grades gab, der Anlass zur Sorge gegeben hätte. Aber vielleicht war das einfach nicht entdeckt worden?! Die meisten meiner Vorfahren sind ja schon vor zig Jahren gestorben.

Gestorben sind sie!

Ja, warum eigentlich? Müsste man das als gewissenhafter Chronist nicht dazuschreiben? Onkel Heinz *1870, †1950 – litt an Abetalipoproteinämie, starb bei Fenstersturz. Es hätte mich auf merkwürdige Weise beruhigt. Warum? Weil ich gerne das Leben berechnen würde, aus Liebe zu ihm getrost all die Eventualitäten und alles Ungeklärte streichen würde. Weil ein Dasein in einer Blase keine Option, der Wunsch danach aber durchaus vorhanden ist. Denn ich hasse Überraschungen und Kontrollverlust. Und ich will hier nicht weg. Und weg ist irgendwie das Gegenteil von Leben.

Ich liebe es, jawohl! Mit all seinen Unwegsamkeiten, mit den ganzen Untiefen, mit seiner Unberechenbarkeit, mit allen »Un«s. Aber nicht wegen ihnen. Verstehen Sie?

Ich bin keiner dieser Zweckoptimisten, die sich in jede Tragödie einen höheren Sinn quatschen, um sie besser zu ertragen oder um überhaupt ein Quäntchen Sinn zu finden. Im Leiden, na: Glückwunsch! Ich glaube an Gott und an einen Ort hinter oder über diesem hier, und ich gehe davon aus, dass es dort besser ist, aber ich möchte das nicht als Ziel sehen. Ziel wäre es, den Tod zu überlisten.

Bei meiner Musterung damals bin ich einfach mit einem unfassbaren Stapel von Attesten aufgekreuzt, die allesamt klarstellten, dass ich wegen krummer Knie und generellem Schiefwuchs noch nicht mal dazu geeignet war, mich selbst, geschweige denn das Land zu verteidigen, und habe sie dem Amtsarzt auf den Tisch geknallt. Der hat nur mit den Augen gerollt, las all die Befunde kurz quer und schickte mich in Bausch und Bogen heimwärts. So sollte es mir auch mit dem Tod ergehen. Müller?

Völlig untauglich! Hier, frag die Experten, frag Gevatter Sensenmann. Der hat die Hose so gestrichen voll, mit dem hast du nur Ärger. Echt jetzt.

Und da haben wir es, hier löst sich alles auf, hier scheißt der Bär in den Weizen: Ich habe Angst. Ein ganzes Jahrzehnt lang zirkulierte mein Leben wie ein Trabantenplanet um die Angst herum, war Anhängsel statt Selbstzweck, wie sich das eigentlich gehört hätte. Angst vor allem Möglichen. Lähmende Hypochondrie, Panikattacken, Phobien noch und nöcher.

Dass das krankhaft war, stand wie der berühmte rosa Elefant im Raum. Er brauchte nur noch einen Namen. Irgendwo ist er, der große Karton voller Diagnosen und Anamnesebögen zu meiner Person in feinstem Fachlatein. Ein Dschungel aus Seelen-Kladderadatsch, über den ich zwischenzeitlich komplett den Überblick verlor und der mir absolut undurchdringbar schien ob der schieren Anzahl verschiedener Namen für ein großes Gefühl des Verlorenseins. Ich brauchte einen Oberbegriff, eine Zusammenfassung, einen Endgegner. Irgendjemanden oder wohl eher irgendetwas, dem ich zumindest meine Wut entgegenschleudern konnte.

Also kam der Tag, an dem ich mir Stift und Papier nahm, all die Probleme, die Malessen und Neuröschen untereinander aufschrieb wie in einer einfachen Gleichung. Ich strich die irrationalen Ängste und die wüstesten Seelenschwurbeleien, um sie den Profis zu überlassen, fantasierte einen Masterplan für die Dinge, die ich im Alleingang zu beheben plante, vermaß meine Sorgen bis auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, und unterm Strich stand in scharlachroten Lettern: TOD.

Das war so simpel, dass ich schon wieder erschrak. Tod also, der Erzfeind. Ja, natürlich! Ja, Sapperlot! Aber was tun? Bei allem Gewünsche und Gehoffe auf medizinischen Fortschritt, der lässt sich nicht verhindern. Da muss sich geeinigt werden, ein Kompromiss muss her! Mobilisiert die Diplomaten, spitzt die Stifte und schreibt Pamphlete dagegen, hier muss lösungsorientiert gehandelt werden! Kann ja nicht sein! Also, eine derart rationale Furcht kann ich mir nicht erlauben. Der ganze Rest, das ganze »einen an der Klatsche haben« – das lässt sich behandeln.

Aber TOD? TO-HOD? Ich bitte Sie!

Es ist nichts Besonderes, Angst davor zu haben. Sie, die Angst, als allgegenwärtigen Begleiter mit sich zu führen, ist aber schon weit über die Grenze hinaus anstrengend. Die fatalistischste aller Lösungen musste her.

Ich sterbe im Schlaf. Das habe ich so beschlossen. Soll mal einer versuchen, mich davon abzuhalten! Meine Oma sagte gerne »Der kann mich mal am Abend besuchen«, wenn sie vornehm ausdrücken wollte, dass irgendwer sie gepflegt am Arsch lecken konnte. So halte ich es jetzt auch mit der Ablebe: Der Tod kann mich mal am Abend besuchen. Dann merke ich das nicht, dann wache ich einfach nicht auf.

Verstehen Sie wieder? Vielleicht ist das eine Milchmädchenrechnung, aber im Grunde genommen geht sie auf. Wenn der Tod das Problem und die Angst das Symptom ist, das mir das Leben verleidet, dann muss ich die beiden trennen. Im Hier leben und im Fort sterben. Dann kann’s von mir aus schon heute passieren, was kümmert es mich?!

Guter Gott, ist das ein widerlich egoistischer Gedanke. Ich habe eine Familie, die mich braucht, wie ich sie brauche. Eine kleine Tochter, die ich mehr liebe, als ich jemals Furcht verspüren könnte. Und ich Kotzbrocken sitze hier und hacke ein »Mir doch egal« in die Tasten. Eine absurde Kampfansage an das nicht zu Bändigende. Ich fühle mich fürchterlich dabei, und dennoch erscheint es mir als einzig sinnvolle Lösung, um meine Tage hier unbeschwert zu verbringen.

Vielleicht ist das der Grund, warum ich so selten schlafe.

Stellen Sie sich mein Leben bitte wie eine Säule vor. Wie einen dieser langen Tetris-Steine, bei denen man nie so recht weiß, wie man sie unterbringen soll. Sie fällt vertikal ins Spiel, da ist die passende Lücke, dann kommt man aus Versehen auf den falschen Knopf, dreht sie längsseits, und in letzter Sekunde schafft man es noch, sie hektisch um weitere neunzig Grad zu drehen, und sie passt wieder, steht aber kopf. Man bemerkt das nicht, denn sie sieht oben wie unten gleich aus, doch die...

Erscheint lt. Verlag 2.10.2017
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 9 Tage wach • Ängste loswerden • Angsterkrankung • angstfrei • Angstselbsthilfe • Angststörung • Angststörungen überwinden • Angststörungen und Panikattacken • angststörungen und panikattacken dauerhaft überwinden • Angst überwinden • Autobiografie Musiker • Autobiographie Musiker • Beschwerden & Krankheiten • Biografie Musiker • Bücher von Promis • Buch über Krankheit • Bühne • Depression • Erfahrungen Krankheit • Erfahrungen und Schicksale • Erfahrungen und wahre Geschichten • Erfahrungsberichte • Eric Stehfest • Generalisierte Angststörung • Hochsensibel • Hypochonder • Hypochondrie • Jupiter Jones • Jupiter Jones Buch • Krankheiten • Lebensgeschichten • Lebensgeschichten Schicksal Bücher • Männer-Memoir • Morgen ist leider auch noch ein Tag • Münster • Musik Biographien • Musiker • Mutmachbuch • Mutmach-Buch • Mut machen • Nicholas Müller • Nicholas Müller Buch • Panik • Panikattacke • Panikattacken • Psychisch • Sänger • Schicksale Bücher • Schicksale und Erfahrungen • Still • Still-Sänger • Therapie • Tobi Katze • Umgang mit Gefühlen • Verhaltensstörung • Von Brücken
ISBN-10 3-426-44476-3 / 3426444763
ISBN-13 978-3-426-44476-4 / 9783426444764
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