Der Betrachter (eBook)
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00025-4 (ISBN)
Imre Kertész, 1929 in Budapest geboren, wurde 1944 als 14-Jähriger nach Auschwitz und Buchenwald deportiert. In seinem «Roman eines Schicksallosen» hat er diese Erfahrung auf außergewöhnliche Weise verarbeitet. Das Buch erschien zuerst 1975 in Ungarn, wo er während der sozialistischen Ära jedoch Außenseiter blieb und vor allem von Übersetzungen lebte (u.a. Nietzsche, Hofmannsthal, Schnitzler, Freud, Joseph Roth, Wittgenstein, Canetti). Erst nach der europäischen Wende gelangte er zu weltweitem Ruhm, 2002 erhielt er den Literaturnobelpreis. Seitdem lebte Imre Kertész überwiegend in Berlin und kehrte erst 2012, schwer erkrankt, nach Budapest zurück, wo er 2016 starb.
Imre Kertész, 1929 in Budapest geboren, wurde 1944 als 14-Jähriger nach Auschwitz und Buchenwald deportiert. In seinem «Roman eines Schicksallosen» hat er diese Erfahrung auf außergewöhnliche Weise verarbeitet. Das Buch erschien zuerst 1975 in Ungarn, wo er während der sozialistischen Ära jedoch Außenseiter blieb und vor allem von Übersetzungen lebte (u.a. Nietzsche, Hofmannsthal, Schnitzler, Freud, Joseph Roth, Wittgenstein, Canetti). Erst nach der europäischen Wende gelangte er zu weltweitem Ruhm, 2002 erhielt er den Literaturnobelpreis. Seitdem lebte Imre Kertész überwiegend in Berlin und kehrte erst 2012, schwer erkrankt, nach Budapest zurück, wo er 2016 starb. Heike Flemming, geboren 1982 bei Dresden, promovierte über den ungarischen Gegenwartsroman und übersetzt seit mehreren Jahren aus dem Ungarischen (u.a. Péter Esterházy, László Krasznahorkai und Szilárd Borbély). Lacy Kornitzer, in Budapest geboren, Theaterregisseur, Dramaturg und Übersetzer. Er veröffentlicht Essays und übersetzt aus dem Ungarischen, u. a. Bücher von Imre Kertész, Szilárd Borbély, Péter Nádas, Alaine Polcz, László Végel, György Dragomán, István Örkény. Er lebt in Berlin.
Je mehr Gespräche, desto größer die Depression; sie lastet wie eine schwere Dunstwolke über dem ganzen Land; niemand glaubt an etwas, was bedeutet, Glauben gibt es nicht, jeder rechnet mit etwas Schrecklichem, was bedeutet, daß jeder etwas Schreckliches anstellt – wenn nicht anders, dann damit, daß er mit etwas Schrecklichem rechnet. Etwas Schreckliches wird (fürchte ich) geschehen.
Pasolinis 1. Evangelium – Matthäus. Ob diese «Wunder», fragte A. während des Films, irgendwelche Fakirkünste gewesen seien. Nein, sagte ich, sie sind einfach geschehen. Aber das Brot bei der Hochzeit … der Aussätzige usw.? Ja, sagte ich, das ist geschehen, auch das Wandeln auf dem Wasser. Warum muß man den als absolut erkannten (für uns als absolut erkannten) Gesetzen der Physik glauben? Diese Geschichten haben sich ganz sicher ereignet. Den Jesus, von dem Renan und die Geschichte berichten, gab es vielleicht nicht. Doch den, der auf der Hochzeit zu Kanaan Brot und Wein verteilte, den gab es ganz bestimmt.
Die Welt nicht zu verstehen, nur weil sie unbegreifbar ist, ist Dilettantismus. Wir verstehen die Welt deshalb nicht, weil das nicht unsere Aufgabe auf Erden ist.
Christus ist mehrmals zu mir gekommen. Zweimal im Traum (einmal als Erlöser; einmal unheilverkündend, selbst wenn ich die Vermutung habe, daß seine Identität nicht eindeutig war), einmal durch Pasolinis Film und nun in Wittgensteins Text, der dieses Innehalten, das Niederschreiben dieser Zeilen in Wien, veranlaßt. All dies widerfährt mir im reifen Alter. Könnte ich mit Jung sagen, daß Christus ein Archetyp ist? Mein Gefühl befriedigt das nicht, soviel Arbeit die Menschheit auch investiert hat, um diesen ethischen Heros zu erschaffen. Ich wittere hier eine äußerst wichtige Wahrheit, eine Wahrheit, die nicht historisch und nicht erklärbar, ja, auch keine Wahrheit ist. Christus existiert – nur nicht in dieser Welt. In gewissen Momenten kann jeder von sich behaupten, Christus ist in mir, ja, sogar, ich bin Christus.
In gewisser – sehr wohl praktischer – Hinsicht bin ich doch Jude: Die neuen politischen Entwicklungen, der aufkommende offizielle Antisemitismus lassen mir bewußt werden, daß meine Vorfahren (die ich nie gekannt habe und von denen ich nicht weiß, wer sie waren) irgendwoher aus der Fremde gekommen sind, sich im Laufe der Generationen angepaßt haben, sozusagen zu einheimischen Bürgern geworden sind, auf daß ich jetzt wieder als Fremder hier leben oder als Fremder von hier weggehen muß.
Man muß gerecht sein, weil das Leben ungerecht ist. Alles, was moralisch, was ethisch ist, wendet sich gegen das Lebensgesetz – ist Rebellion. Alles, was natürlich ist, sei abscheulich, sagte schon Baudelaire.
Heute weiß ich, daß ich auch bisher Emigrant in dem Land war, in dem ich lebe und dessen Sprache ich spreche, und ich glaube, ich muß bald wirklich erwägen, die Emigration zu wählen, eigentlich – was die Sprache und die dennoch als heimatlich begriffenen Verhältnisse betrifft – das Exil. Aus dem Exil ins Exil exilieren.
Seit dem Roman eines Schicksallosen hat sich meine Meinung über das «Jüdischsein» erheblich verändert. Es brauchte nicht Wittgenstein dazu (er schadete allerdings auch nicht), um einzusehen, daß es so etwas wie «jüdisch» doch gibt. Jüdisch, das ist ein Sachverhalt. Im Grunde genommen begreife ich erst jetzt wirklich, mit Haut und Haaren, was ich in Kaddisch beschrieben habe: diesem Sein Gestalt geben und es dann aussterben lassen. – Aus rein künstlerischer Sicht gibt das auf jeden Fall sehr viel her und schafft ein Fundament, das dem europäischen, dem positiven, Werte bestimmenden, das Recht auf Objektivität besitzenden (usurpierenden?) Menschen oft fehlt.
Nostalgische Gefühle, Schuldbewußtsein, Traurigkeit. Wir leben in der fehlbaren Welt der Erscheinungen, ich lasse die sitzen, die ich liebe, bekümmere die, deren Freude mir am wichtigsten ist. – Der Friedhof in Hietzing; vorn das Grabmal von Dollfuß. Eine Atmosphäre wie auf dem Farkasréti-Friedhof, nur daß hier alles gehegt und gepflegt ist; wo die Toten wichtig sind, gibt es Hoffnung auch für die Lebenden.
Mir geht die Cellistin des Franz-Liszt-Kammerorchesters nicht aus dem Sinn, die nach manchen akzentuierten Bogenstrichen den Kopf mit einer so verstörten Bewegung nach hinten, zur linken Schulter hin warf, als gehöre er nicht ihr, es schmerzte fast, und zwar derartig, daß es mir in bedrückenden Momenten immer wieder in den Sinn kommt; ein Musikalisches Opfer, im wahrsten Wortsinn, nebenbei bemerkt spielte man in der Tat Bach, die Brandenburgischen Konzerte.
Im Wiener Kunsthistorischen Museum, Breughel; ein Winternachmittag, die Jäger kehren heim. Zum ersten Mal stellte ich mir die Frage, was das Bild damals – im 16. Jahrhundert – bedeutet haben mag, als die Menschen noch nicht umgeben waren von Fotos und beweglichen Bildern, als ihnen weder Romane noch Musik zur Verfügung standen – welche Bedeutung hatte ein Gemälde damals, und wie wurde wohl dieses Bild gesehen, mit dem Schnee, den Bäumen, mit der Farbe und sogar dem Geruch der Luft, der Melancholie des Nachmittags als Höhepunkt, etwas ganz Vollkommenes, ein ewiges und unverrückbares Erlebnis, wie ich es noch aus meiner Kindheit erinnere; mich ergreift Bewunderung für den Geist der Kunst – einen Geist, von dem man sich in diesem Jahrhundert verabschiedet. In Zusammenhang damit muß ich feststellen, daß mich hier in Wien doch eine Art Wirklichkeit umgibt – im Gegensatz zu der Pester Scheinhaftigkeit, der Grunderfahrung meines Lebens.
Während ich zwischen prächtigen Gebäuden über stille Straßen spazierte, um schließlich zu einem dunkelroten Bau mit der Aufschrift Akademie der Bildenden Künste zu gelangen, dachte ich darüber nach, daß die Kunst völlig überflüssig geworden ist. Vom speziellen Gepränge der Breughels, der Heroenepoche ausgehend. Was könnte ich heute malen? Was könnte selbst ein genialer Mensch heute malen? Keinen Winternachmittag. Vielleicht gibt es auch keine Winternachmittage mehr. Welche Stimmungen verfestigen sich bei einem Kind heute zu späterer Erinnerung? Ein langer, grauer, nebliger und glücklicher Winternachmittag ist gewiß nicht darunter. Heute muß sich der Künstler – in jeder Gattung der Kunst – «etwas einfallen lassen», denn in der unkreativen Atmosphäre und im Bewußtsein seiner Überflüssigkeit ist jeder natürliche Trieb gelähmt, jede Originalität gekünstelt.
Woher mein ängstlicher Respekt vor dem pedantischen Kleinbürgertum? Warum will ich imponieren? Schizophrenie? Oder bin ich ein «verirrter Kleinbürger»? Ängstlich vielleicht am ehesten der Undurchschaubarkeit meines Wesens, meiner verdächtigen Tätigkeit wegen; und diese Tätigkeit hebt sich in Gegenwart von Kleinbürgern, in ihrem Blickfeld, ohne Zweifel besonders grell ab und ist da gleichzeitig besonders verletzbar.
Meine arme, arme Mutter, die entsetzliche Erinnerung (sie quält mich seit Tagen), wie sie sich im Bett aufsetzte, schon knochendürr, vom Verstand verlassen, jedoch mit leidvollem Gesicht, das sich durch Krankheit und Alter entblößt und irgendwie verändert hatte, ihr eigenes geworden war, mehr als ihr früheres, durch Fleisch und Kosmetik verändertes Gesicht, dann die Arme ausbreitete und in der Ohnmacht ihres völligen Ausgeliefertseins mit gereizter, gleichzeitig hilfesuchender Stimme zweimal hintereinander sagte: «Ich weiß nicht, ich weiß nicht!» Ich habe ihr nicht zu helfen vermocht. Die Zähne waren schon ausgefallen; ich habe nichts getan, um sie ersetzen zu lassen. Ihre Beine waren, wie man «dort» sagt, «bamstig»; ich bemühte mich, nicht hinzusehen. Ich habe nichts getan, damit sie wieder hätte laufen, sich hätte regenerieren können – auch wenn sie weder wieder laufen noch sich hätte regenerieren können. Während sie Monate – nein: zwei Jahre lang im Sterben lag, habe ich mir meine Bequemlichkeit bewahrt. Doch Dr. L. sagte: «Du hast alles getan …» Ich habe gar nichts getan. Ich konnte auch gar nichts tun – mein Trost ist, daß ich mich zumindest damit niemals getröstet habe. Ich hätte dort stehen sollen, aufpassen, ob sie sich etwas wünschte, ob sie Hunger oder Durst hatte – statt dessen flüchtete ich zur Stationsschwester, wenn ich ihre Gedärme arbeiten hörte. – Bin ich ein schlechter Mensch? Ja, eher schlecht als gut; es kommt darauf an, woran ich mich messe. Letztlich bin ich eher schlecht, obwohl sich auch Beispiele für das Gegenteil finden lassen. Ich bin durchschnittlich; ich fühle keinen Segen auf mir, den ich auf die Menschen weiterverstreuen könnte wie gesammeltes Sonnenlicht; ich zweifle auch an meiner Befähigung, spüre meine erbärmliche Unvollkommenheit (gelinde gesagt). Und auf Liebe reagiere ich mit Schuldgefühl: Das ist vielleicht am schrecklichsten, weil es nicht nur Gewissensqualen hervorruft, sondern deutlich meine Unwürdigkeit zeigt.
Ich sehe keinerlei Zusammenhang zwischen meinem Leben und meinem sogenannten Werk; vielleicht bin gar nicht ich es gewesen, der es geschrieben hat. Das ist jedoch, sagen wir mal, nicht wahrscheinlich. Doch ich glaube nicht genug an … ja, an was? An meine Existenz. Die Ereignisse – gestern Scheitern, heute Erfolg – sind geisterhaft; mein Leben ist geisterhaft; ich erlebe es nicht genug, ich bin quasi...
Erscheint lt. Verlag | 21.9.2016 |
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Übersetzer | Heike Flemming, Lacy Kornitzer |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Briefe / Tagebücher |
Schlagworte | 1991 bis 2001 • Antisemitismus • Galeerentagebuch • Judentum • Letzte Einkehr • literarisches Zeugnis • Literaturnobelpreis • Literatur-Nobelpreis • Literaturnobelpreisträger • Nobelpreis Literatur • Roman eines Schicksallosen • Tagebuch • Ungarische Literatur • Ungarn |
ISBN-10 | 3-644-00025-5 / 3644000255 |
ISBN-13 | 978-3-644-00025-4 / 9783644000254 |
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