Roter Mars (eBook)
816 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-11640-8 (ISBN)
Es ist die größte Herausforderung, der sich die Menschheit je gegenübersah: die Besiedlung unseres Nachbarplaneten Mars. Die Verwandlung einer lebensfeindlichen Wüstenwelt in einen blauen Planeten wie die Erde. Von der ersten bemannten Landung auf dem Mars über die frühen Kolonien und ihre Auseinandersetzungen, welche Form von Gesellschaft sie erbauen sollen, bis zum riskanten Versuch, das Klima einer ganzen Welt zu verändern - Kim Stanley Robinson erzählt in seiner Mars-Trilogie die Geschichte der Zukunft wie ein großes historisches Epos.
Kim Stanley Robinson wurde 1952 in Illinois geboren, studierte Literatur an der University of California in San Diego und promovierte über die Romane von Philip K. Dick. Mitte der Siebzigerjahre veröffentlichte er seine ersten Science-Fiction-Kurzgeschichten, 1984 seinen ersten Roman. 1992 erschien mit »Roter Mars« der Auftakt der Mars-Trilogie, die ihn weltberühmt machte und für die er mit dem Hugo, dem Nebula und dem Locus Award ausgezeichnet wurde. In seinem Roman »2312« erkundet er die verschiedenen Gesellschaftsformen, die die Menschheit nach ihrem Aufbruch ins Sonnensystem erschafft. Zuletzt sind bei Heyne seine Romane »New York 2140«, der in einem vom Klimawandel gezeichneten New York der nahen Zukunft spielt, und sein Bestseller »Das Ministerium für die Zukunft« erschienen. Kim Stanley Robinson lebt mit seiner Familie in Davis, Kalifornien.
Zuerst war es ein Druck auf der Brust. Dann wurden sie in ihre Sessel gepresst, und eine Sekunde lang war der Druck sehr vertraut: Ein g, die Schwerkraft, die sie nie wieder erleben würden. Die Ares hatte die Erde mit 28000 Kilometern in der Stunde umkreist. Einige Minuten lang beschleunigte sie. Der Schub der Raketen war so stark, dass ihre Sicht unscharf wurde, als sich die Hornhaut abflachte, und das Atmen anstrengend. Bei 40000 Stundenkilometern war Brennschluss. Sie hatten die Erdanziehung überwunden und waren nur noch im Sonnenorbit.
Die Kolonisten saßen blinzelnd in den Beschleunigungssesseln, ihre Haut rötete sich, und sie hatten Herzklopfen. Maya Katarina Toitovna, die offizielle Leiterin des russischen Kontingents, schaute sich um. Die Leute wirkten benommen. Wenn Besessene plötzlich das Objekt ihrer Begierde in Händen halten, was fühlen sie dann? Schwierige Frage. In gewissem Sinne war ihr Leben zu Ende. Aber etwas anderes, ein neues Leben, hatte endlich, endlich begonnen … Sie war überwältigt von unterschiedlichen Gefühlen, die sie verwirrten. Es war eine Interferenzerscheinung, manche Gefühle waren verschwunden, andere verstärkt. Maya schnallte sich von ihrem Sitz los und bemerkte das Grinsen, das ihr Gesicht verzerrte. Auf den Gesichtern ringsum sah sie dasselbe nicht mehr zu unterdrückende Lächeln – bei allen außer Sax Russell, der gleichgültig wie eine Eule blinzelte, als er die Daten auf den Computerbildschirmen an den Wänden überflog.
Sie schwebten gewichtslos in der Kabine. 21. Dezember 2026: Sie bewegten sich schneller als je ein Mensch zuvor. Sie waren unterwegs. Es war der Beginn einer neunmonatigen Reise – einer Reise, die den Rest ihres Lebens dauern würde. Sie waren auf sich allein gestellt.
Die für die Steuerung der Ares Verantwortlichen zogen sich an die Kontrollkonsolen und gaben Anweisung, die seitlichen Raketen zu zünden. Die Ares fing an, sich um ihre Achse zu drehen und stabilisierte sich bei vier Umdrehungen pro Minute. Die Kolonisten sanken zu Boden und standen in einer künstlichen Schwerkraft von 0,38 g, die sie in etwa auch auf dem Mars fühlen würden. Viele Langzeittests hatten gezeigt, dass man in dieser Schwere recht gesund leben konnte. Sie war sehr viel vorteilhafter als Schwerelosigkeit, deswegen hatte man sich für ein rotierendes Schiff entschieden. Und es war ein großartiges Gefühl, dachte Maya. Gerade genug Anziehungskraft, um leicht die Balance halten zu können, aber keinerlei Belastung. Es spiegelte die allgemeine Hochstimmung perfekt wieder, als sie durch die Korridore zu dem großen Speisesaal in Torus D stolperten, ungehemmt und fröhlich, wie auf Wolken wandelnd.
Sie feierten den Abflug in einer Art Cocktailparty. Maya ging umher, nippte ungezwungen an einem Glas Champagner und fühlte sich unwirklich und überglücklich, eine Mischung, die sie an ihre Hochzeitsfeier vor vielen Jahren erinnerte. Sie hoffte, dass es diesmal besser klappen würde als damals, weil das jetzt tatsächlich für immer währen musste. Die verschiedenen Stimmen hallten durcheinander. »Es ist eine nicht so sehr soziologische als vielmehr mathematische Symmetrie. Eine Art ästhetischer Balance.« – »Wir hoffen, in den Bereich von eins zu einer Milliarde zu gelangen, aber das wird nicht leicht sein.« Maya lehnte ab, als ihr jemand nachschenken wollte, da ihr ein bisschen schwindlig war. Außerdem war das hier Arbeit. Sie war sozusagen Mit-Bürgermeisterin dieses Dorfes und verantwortlich für die Gruppendynamik, die bestimmt kompliziert wurde. Antarktische Gewohnheiten machten sich selbst in diesem Moment des Triumphs geltend, und sie lauschte und beobachtete wie ein Anthropologe – oder ein Spion.
»Die Seelenklempner hatten ihre Gründe. Wir werden am Ende fünfzig glückliche Paare sein.«
»Und sie wussten auch schon, wer mit wem.«
Sie sah, wie sie lachten. Schlau, gesund, wohlerzogen – war das endlich die rationale Gesellschaft, die wissenschaftlich geplante Gemeinschaft, die der Traum der Aufklärung gewesen war? Aber da waren noch Arkady, Nadia, Vlad und Ivana. Sie kannte das russische Kontingent zu gut, um sich irgendwelchen Illusionen hinzugeben. Es konnte ebenso gut damit enden, dass sie wie in einem Studentenwohnheim einer Technischen Universität leben würden, lauter bizarre Streiche und wilde Affären. Für so ein Leben sahen sie definitiv zu alt aus. Einige Männer bekamen bereits Glatzen, und viele Personen beiderlei Geschlechts zeigten graue Strähnen im Haar. Hinter ihnen lag bereits ein langer Weg. Das Durchschnittsalter betrug sechsundvierzig Jahre, mit Extremen von dreiunddreißig (Hiroko Ai, das japanische Wunderkind in der Biosphärenplanung) bis achtundfünfzig (Vlad Taneev, Nobelpreisträger für Medizin).
Aber jetzt war doch ein Hauch von Jugend auf allen Gesichtern. Arkady Bogdanov war ein Porträt in Rot: Haar, Bart, Haut. Aus all diesem Rot blitzten seine stahlblauen Augen fröhlich hervor, als er rief: »Endlich frei! Endlich frei! Unsere Kinder sind endlich frei!« Die Videokameras waren ausgeschaltet worden, nachdem Janet Blyleven eine Reihe Interviews für die Fernsehsender zu Hause aufgezeichnet hatte. Sie hatten keinen Kontakt mit der Erde, zumindest nicht im Speisesaal. Arkady sang, und die Leute um ihn stießen darauf an. Maya blieb stehen und gesellte sich zu dieser Gruppe. Endlich frei! Es war kaum zu glauben, sie waren wirklich unterwegs zum Mars! Überall scharten sich die Leute zusammen, die meisten Weltklasse auf ihrem Fachgebiet, und unterhielten sich: Ivana hatte, mit anderen, den Nobelpreis in Chemie gewonnen, Vlad war einer der berühmtesten Medizinbiologen der Welt, Sax gehörte in das Pantheon derer, die große Beiträge für die subatomare Theorie geleistet hatten, Hiroko war unerreicht in der Planung geschlossener Lebenserhaltungssysteme – und so weiter. Ein brillanter Haufen!
Und Maya war eine ihrer Anführer. Das war etwas entmutigend. Ihre Fähigkeiten als Ingenieurin und Kosmonautin waren eher bescheiden. Es war wohl ihr diplomatisches Geschick, das sie an Bord gebracht hatte. Dass man sie ausgewählt hatte, das ungleiche, uneinige russische Team, mit diversen Mitgliedern aus GUS-Staaten, zu leiten – nun, das war in Ordnung. Es war eine interessante Arbeit, an die sie gewöhnt war. Ihre Fähigkeiten könnten sich durchaus als die wichtigsten an Bord erweisen, schließlich mussten sie alle miteinander zurechtkommen. Andere Leute dazu zu bewegen, das zu tun, was man ihnen auftrug, war eine Sache von List, Schläue und Willenskraft. Sie blickte in die Menge leuchtender Gesichter und lachte. Hier an Bord waren alle gut in dem, was sie taten, aber einige waren zu Höherem berufen. Diese Personen musste sie sich herauspicken und kultivieren. Ihre Führungsposition hing davon ab, denn, dachte sie, am Ende würden sie eine Art loser, auf wissenschaftlichen Verdiensten beruhende Gemeinschaft sein. Und in einer solchen Gemeinschaft waren die außergewöhnlichen Talente die wichtigsten Kräfte. Wenn es hart auf hart ging, würden sie die wahren Führer der Kolonie werden – sie oder diejenigen, die sie beeinflussten.
Sie schaute sich um und entdeckte ihren Gegenspieler, Frank Chalmers. In der Antarktis hatte sie ihn nicht besonders gut kennengelernt. Ein hochgewachsener, großer Mann mit dunklem Teint. Er war kommunikativ und unglaublich energisch, aber schwer zu durchschauen. Sie fand ihn attraktiv. Sah er die Dinge so wie sie? Sie hatte das nie in Erfahrung bringen können. Er sprach gerade am anderen Ende des Raums mit einigen Leuten und hörte auf seine scharfe, schwer zu deutende Art zu, den Kopf zur Seite geneigt und bereit, mit einer geistreichen Bemerkung dazwischenzufahren. Sie musste mehr über ihn herausfinden. Schließlich musste sie mit ihm auskommen.
Sie ging durch den Saal und blieb dicht neben ihm stehen, sodass ihre Oberarme sich fast berührten. Sie neigte ihren Kopf seinem zu, machte eine Geste, die seine Gesprächspartner umfasste, und sagte: »Das wird großartig werden, meint ihr nicht auch?«
Chalmers sah sie an und sagte: »Wenn alles gut geht.«
Nach der Feier und dem Essen wanderte Maya, die nicht schlafen konnte, durch die Ares. Sie alle hatten schon einige Zeit im Weltraum verbracht, aber die Ares war sehr viel größer als jedes andere Schiff und jede Station. Sie war wirklich enorm. Am Bugende des Schiffs befand sich eine Art Penthaus, ein einziger Tank wie ein Bugspriet, der in entgegengesetzter Richtung zum Schiff rotierte, sodass er stillstand. Instrumente zur Sonnenbeobachtung, Richtantennen und alle anderen Geräte, die ohne Rotation besser arbeiteten, waren in diesem Tank untergebracht; und ganz an der Spitze war ein runder Raum aus transparentem Kunststoff, der Blasenkuppel genannt wurde. In ihm herrschte Schwerelosigkeit, und von hier aus bot sich der Besatzung ein Ausblick auf die Sterne und auf einen Teil des gewaltigen Schiffes.
Maya schwebte zur Fensterwand der Blasenkuppel und blickte neugierig auf die Ares zurück. Sie war aus Außentanks der Space Shuttles erbaut worden. Um die Jahrhundertwende hatten NASA und Glavkosmos angefangen, die Tanks mit kleinen Schubraketen in den Orbit zu bringen. Dutzende von Tanks waren losgeschickt worden. Man hatte sie zu den Baustellen geschleppt und umgebaut. Daraus waren zwei große Raumstationen, eine Station am...
Erscheint lt. Verlag | 12.10.2015 |
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Reihe/Serie | Die Mars-Trilogie | Die Mars-Trilogie |
Übersetzer | Winfried Petri |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Red Mars |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | Der rote Planet • eBooks • Fremde planeten • Future History • Kim Stanley Robinson • Mars • Mars-Kolonie • Mars-Trilogie • Science-fiction • Weltraum-Epos |
ISBN-10 | 3-641-11640-6 / 3641116406 |
ISBN-13 | 978-3-641-11640-8 / 9783641116408 |
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