Der Erwählte (eBook)

Roman

(Autor)

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2014 | 1. Auflage
256 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403404-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Erwählte -  Thomas Mann
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?Der Erwählte? ist eine Neuerzählung der Legende von Papst Gregorius: Gregorius ging aus der Liebe eines Geschwisterpaares hervor und wurde in einem Fässchen dem Meer ausgeliefert. Nach seiner Rettung druch Fischer erhält er eine klösterliche Erziehung und macht sich schließlich auf die Suche nach seinen Eltern. Durch einen Kampf erobert er sich das Herz der Königin, die später seine Gattin wird. Erst nach Jahren stellen sie fest, dass Gregorius seine Mutter geheiratet hat. Er flieht auf einen Felsen im Meer, wo er siebzehn Jahre ohne Nahrung und Schutz vor Sonne und Kälte verbringt. Zwei Römer erlösen ihn aus dieser Buße, und ihre Vision wird Realität: In Rom wird Gregorius zum Papst ernannt. Thomas Mann lernte diese Legende als Student in München bereits 1894 in der Fassung Hartmanns von Aue kennen. Während seiner Arbeit an ?Doktor Faustus? (1947) stieß er erneut auf den Stoff und formte daraus »dieses in Gott vergnügte Büchlein«. ?Der Erwählte? erschien 1951.

Thomas Mann, 1875-1955, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Mit ihm erreichte der moderne deutsche Roman den Anschluss an die Weltliteratur. Manns vielschichtiges Werk hat eine weltweit kaum zu übertreffende positive Resonanz gefunden. Ab 1933 lebte er im Exil, zuerst in der Schweiz, dann in den USA. Erst 1952 kehrte Mann nach Europa zurück, wo er 1955 in Zürich verstarb.

Thomas Mann, 1875–1955, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Mit ihm erreichte der moderne deutsche Roman den Anschluss an die Weltliteratur. Manns vielschichtiges Werk hat eine weltweit kaum zu übertreffende positive Resonanz gefunden. Ab 1933 lebte er im Exil, zuerst in der Schweiz, dann in den USA. Erst 1952 kehrte Mann nach Europa zurück, wo er 1955 in Zürich verstarb.

Wer läutet?


Glockenschall, Glockenschwall supra urbem, über der ganzen Stadt, in ihren von Klang überfüllten Lüften! Glocken, Glocken, sie schwingen und schaukeln, wogen und wiegen ausholend an ihren Balken, in ihren Stühlen, hundertstimmig, in babylonischem Durcheinander. Schwer und geschwind, brummend und bimmelnd, – da ist nicht Zeitmaß noch Einklang, sie reden auf einmal und alle einander ins Wort, ins Wort auch sich selber: an dröhnen die Klöppel und lassen nicht Zeit dem erregten Metall, daß es ausdröhne, da dröhnen sie pendelnd an am anderen Rande, ins eigene Gedröhne, also daß, wenn's noch hallt »In te Domine speravi«, so hallt es auch schon »Beati, quorum tecta sunt peccata«, hinein aber klingelt es hell von kleineren Stätten, als rühre der Meßbub das Wandlungsglöcklein.

Von den Höhen läutet es und aus der Tiefe, von den sieben erzheiligen Orten der Wallfahrt und allen Pfarrkirchen der sieben Sprengel zu Seiten des zweimal gebogenen Tibers. Vom Aventin läutet's, von den Heiligtümern des Palatin und von Sankt Johannes im Lateran, es läutet über dem Grabe dessen, der die Schlüssel führt, im Vatikanischen Hügel, von Santa Maria Maggiore, in Foro, in Domnica, in Cosmedin und in Trastevere, von Ara Celi, Sankt Paulus außer der Mauer, Sankt Peter in Banden und vom Haus zum Hochheiligen Kreuz in Jerusalem. Aber von den Kapellen der Friedhöfe, den Dächern der Saalkirchen und Oratorien in den Gassen läutet es auch. Wer nennt die Namen und weiß die Titel? Wie es tönt, wenn der Wind, wenn der Sturm gar wühlt in den Saiten der Äolsharfe und gänzlich die Klangwelt aufgeweckt ist, was weit voneinander und nahe beisammen, in schwirrender Allharmonie: so, doch ins Erzene übersetzt, geht es zu in den berstenden Lüften, da alles läutet zu großem Fest und erhabenem Einzug.

Wer läutet die Glocken? Die Glöckner nicht. Die sind auf die Straße gelaufen wie alles Volk, da es so ungeheuerlich läutet. Überzeugt euch: die Glockenstuben sind leer. Schlaff hängen die Seile, und dennoch wogen die Glocken, dröhnen die Klöppel. Wird man sagen, daß niemand sie läutet? – Nein, nur ein ungrammatischer Kopf ohne Logik wäre der Aussage fähig. »Es läuten die Glocken«, das meint: sie werden geläutet, und seien die Stuben auch noch so leer. – Wer also läutet die Glocken Roms? – Der Geist der Erzählung. – Kann denn der überall sein, hic et ubique, zum Beispiel zugleich auf dem Turme von Sankt Georg in Velabro und droben in Santa Sabina, die Säulen hütet vom greulichen Tempel der Diana? An hundert weihlichen Orten auf einmal? – Allerdings, das vermag er. Er ist luftig, körperlos, allgegenwärtig, nicht unterworfen dem Unterschiede von Hier und Dort. Er ist es, der spricht: »Alle Glocken läuteten«, und folglich ist er's, der sie läutet. So geistig ist dieser Geist und so abstrakt, daß grammatisch nur in der dritten Person von ihm die Rede sein und es lediglich heißen kann: »Er ist's.« Und doch kann er sich auch zusammenziehen zur Person, nämlich zur ersten, und sich verkörpern in jemandem, der in dieser spricht und spricht: »Ich bin es. Ich bin der Geist der Erzählung, der, sitzend an seinem derzeitigen Ort, nämlich in der Bibliothek des Klosters Sankt Gallen im Alamannenlande, wo einst Notker der Stammler saß, zur Unterhaltung und außerordentlichen Erbauung diese Geschichte erzählt, indem ich mit ihrem gnadenvollen Ende beginne und die Glocken Roms läute, id est: berichte, daß sie an jenem Tage des Einzugs sämtlich von selber zu läuten begannen.«

Damit aber auch die zweite grammatische Person zu ihrem Recht komme, so lautet die Frage: Wer bist du denn, der Ich sagend an Notkers Pult sitzt und den Geist der Erzählung verkörpert? – Ich bin Clemens der Ire, ordinis divi Benedicti, zu Besuch hier als brüderlich aufgenommener Gast und Sendbote meines Abtes Kilian vom Kloster Clonmacnois, meinem Hause in Irland, damit ich die alten Beziehungen pflege, welche seit Columbanus' und Gallus' Tagen fortwalten zwischen meiner Heimat und dieser festen Burg Christi. Ich habe auf meiner Reise eine große Anzahl von Stätten frommer Gelehrsamkeit und Musensitzen besucht, wie Fulda, Reichenau und Gandersheim, Sankt Emmeram zu Regensburg, Lorsch, Echternach und Corvey. Hier aber, wo das Auge sich in Evangeliaren und Psalterien an so köstlicher Buchmalerei in Gold und Silber auf Purpur mit Zutaten von Zinnober, Grün und Blau erlabt, die Brüder unter ihrem Sangesmeister so lieblich im Chor litaneien, wie ich es nirgends vernommen, die Refektur des Leibes vorzüglich ist, des herzigen Weinchens nicht zu vergessen, das dazu geschenkt wird, und man sich im Klosterhofe nach Tische so zuträglich um den Sprudelbrunnen ergeht: hier habe ich für etwas geraumere Zeit Station gemacht, von den immer bereiten Gastzellen eine bewohnend, in welche der hochehrwürdige Abt, Gozbert seines Namens, mir ein irisches Kreuz zu stellen die Aufmerksamkeit hatte, worauf man ein Lamm, von Schlangen umwunden, den Arbor vitae, einen Drachenkopf mit dem Kreuz im Rachen und Ecclesia abgebildet sieht, wie sie Christi Blut in einem Kelche auffangt, während der Teufel einen Schluck und Bissen davon zu erschnappen sucht. Das Stück zeugt vom frühen Hochstande unseres irischen Kunstgewerbes.

Ich bin meiner Heimat sehr anhänglich, Sankt Patricks buchtenreichem Eiland, seinen Weiden, Hecken und Mooren. Dort gehen die Lüfte feucht und mild, und milde auch ist die Lebensluft unseres Klosters Clonmacnois, will sagen: zugetan einer von mäßiger Askese gezügelten Bildung. Mit unserem Abte Kilian bin ich der wohlgeprüften Ansicht, daß die Religion Jesu und die Pflege antiker Studien Hand in Hand gehen müssen in Bekämpfung der Roheit, daß es die gleiche Unwissenheit ist, die von dem einen und dem andern nichts weiß, und daß, wo jene Wurzel schlug, immer auch diese sich ausbreitete. Tatsächlich ist die Bildungshöhe unserer Brüderschaft sehr beträchtlich und meiner Erfahrung nach derjenigen des römischen Klerus selbst überlegen, welcher von der Weisheit des Altertums oft allzuwenig berührt ist, und unter dessen Mitgliedern bisweilen ein wahrhaft beklagenswertes Latein geschrieben wird, – wenn auch kein so schlechtes wie unter deutschen Mönchen, von denen einer, allerdings ein Augustiner, mir neulich schrieb: »Habeo tibi aliqua secreta dicere. Robustissimus in corpore sum et saepe propterea temptationibus Diaboli succumbo.« Das ist ja schwer erträglich, stilistisch sowohl wie auch im übrigen, und niemals wohl könnte so bäurisches Zeug aus einer römischen Feder fließen. Überhaupt wäre es fehlerhaft, zu glauben, ich wollte Unrede führen gegen Rom und seine Suprematie, als deren getreuer Anhänger ich mich vielmehr bekenne. Mag es so sein, daß wir irischen Mönche stets auf Unabhängigkeit des Handelns gehalten und in vielen Gegenden des Festlandes zuerst die kristliche Lehre gepredigt, uns auch außerordentliche Verdienste erworben haben, indem wir überall, in Burgund und Friesland, Thüringen und Alamannien Klöster als Bastionen des Glaubens und der Mission errichteten. Das hindert nicht, daß wir seit alters den Bischof im Lateran als Haupt der kristlichen Kirche anerkannt und ein Wesen fast göttlicher Art in ihm gesehen haben, indem wir höchstens nur die Stätte der göttlichen Auferstehung für heiliger als Sankt Peter erachteten. Man kann sagen, ohne zu lügen, daß die Kirchen von Jerusalem, Ephesus und Antiochia älter sind als die römische, und wenn Petrus, bei dessen unerschütterlichem Namen man nicht gern an gewisse Hahnenschreie denkt, das Bistum Rom gestiftet hat (er hat es gestiftet), so trifft unstreitig für die Gemeinde Antiochia das gleiche zu. Aber diese Dinge können nur die Rolle flüchtiger Bemerkungen spielen am Rande der Wahrheit, daß, erstens, unser Herr und Heiland, wie es bei Matthäus, allerdings nur bei diesem, zu lesen steht, den Petrus zu seinem Lehensträger hienieden berufen, dieser aber dem römischen Bischof das Vikariat übertragen und ihm den Vorrang über alle Episkopate der Welt verliehen hat. Lesen wir ja in Dekretalen und Protokollen der Urzeit sogar die Rede, die der Apostel noch selbst bei der Ordination seines ersten Nachfolgers, des Papstes Linus, gehalten hat, was ich als eine rechte Glaubensprobe und als eine Herausforderung an den Geist erachte, seine Kraft zu erweisen und zu zeigen, was alles zu glauben er fertigbringt.

In meiner so viel bescheideneren Eigenschaft als Inkarnation des Geistes der Erzählung habe ich alles Interesse daran, daß man mit mir die Berufung zur Sella gestatoria als der Erwählungen höchste und gnadenvollste betrachte. Und ein Zeichen meiner Ergebenheit für Rom ist es denn auch schon gleich, daß ich den Namen Clemens führe. Von Hause aus nämlich heiße ich Morhold. Aber ich habe diesen Namen nie geliebt, da er mich wild und heidnisch anmutete, und mit der Kutte habe ich denjenigen des dritten Nachfolgers Petri angezogen, also daß in der gegürteten Tunika und dem Skapulier nicht mehr der gemeine Morhold, sondern ein verfeinerter Clemens wandelt und sich vollzogen hat, was der heilige Paul ad Ephesios mit so glücklichem Wort das ›Anziehen eines neuen Menschen‹ nennt. Ja, es ist der Fleischesleib gar nicht mehr, der im Wams jenes Morhold herumlief, sondern ein geistlicher Leib ist es, den das Cingulum umwindet, – ein Körper demnach nicht in dem Grade, daß mein früheres Wort, es ›verkörpere‹ sich etwas in mir, nämlich der Geist der Erzählung, ganz billigenswert gewesen wäre. Ich liebe dies Wort ›Verkörperung‹ gar nicht sehr, da es sich ja vom Körper und vom Fleischesleibe herleitet, den ich zusammen mit dem Namen Morhold ausgezogen habe, und der allerwegen eine Domäne des Satans ist, durch ihn zu Greueln...

Erscheint lt. Verlag 4.9.2014
Reihe/Serie Thomas Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke, Briefe, Tagebücher
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anspruchsvolle Literatur • Buße • Eltern • Eremit • Inzest • Kloster • Legende • Mutter • Papst • Rom • Roman • Suche • Sünde • Zweikampf
ISBN-10 3-10-403404-4 / 3104034044
ISBN-13 978-3-10-403404-1 / 9783104034041
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