Abendruh (eBook)
416 Seiten
Limes (Verlag)
978-3-641-09601-4 (ISBN)
Sie sind die einzigen Überlebenden schrecklicher Familientragödien. Erst wurden ihre Eltern und dann obendrein ihre Pflegefamilien brutal ermordet. In Abendruh, einem Internat in der Abgeschiedenheit Maines, sollen sie ihre Sicherheit wiedergewinnen und in ein normales Leben zurückfinden. Doch obwohl die Schule hermetisch gesichert ist, kommt es zu höchst beunruhigenden Vorfällen, und drei Jugendliche bangen um ihr Leben. Maura Isles, die eine persönliche Verbindung zu Abendruh hat, ist vor Ort, als die Bedrohung eskaliert ...
Rizzoli & Isles - die Bestsellerserie im Überblick!
Band 1: Die Chirurgin
Band 2: Der Meister
Band 3: Todsünde
Band 4: Schwesternmord
Band 5: Scheintod
Band 6: Blutmale
Band 7: Grabkammer
Band 8: Totengrund
Band 9: Grabesstille
Band 10: Abendruh
Band 11: Der Schneeleopard
Band 12: Blutzeuge
Alle Bände sind eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.
So gekonnt wie Tess Gerritsen vereint niemand erzählerische Raffinesse mit medizinischer Detailgenauigkeit und psychologischer Glaubwürdigkeit der Figuren. Bevor sie mit dem Schreiben begann, war die Autorin selbst erfolgreiche Ärztin. Der internationale Durchbruch gelang ihr mit dem Thriller »Die Chirurgin«, in dem Detective Jane Rizzoli erstmals ermittelt. Seither sind Tess Gerritsens Thriller von den internationalen Bestsellerlisten nicht mehr wegzudenken. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Maine.
1
An dem Abend, als die dreizehnjährige Claire Ward hätte sterben sollen, stand sie in Ithaca auf dem Fensterbrett ihres Zimmers im zweiten Stock und überlegte hin und her, ob sie springen sollte oder nicht. Sechs Meter unter dem Fenster waren wild wuchernde Forsythiensträucher, die ihre Frühlingsblüte längst hinter sich hatten. Sie würden ihren Sturz abfedern, aber ohne Knochenbrüche würde es wahrscheinlich nicht abgehen. Sie sah zu dem Ahorn hinüber, beäugte den starken Ast, der sich so nahe zum Fenster hin reckte, dass sie ihn mit ausgestrecktem Arm fast berühren konnte. Bis zu diesem Abend hatte sie den Sprung noch nie gewagt, denn sie war nie dazu gezwungen gewesen. Bis zu diesem Abend war es ihr immer gelungen, sich unbemerkt aus dem Haus zu schleichen. Aber diese Abende der mühelos gewonnenen Freiheit gehörten der Vergangenheit an, denn Bob die Spaßbremse war ihr auf die Schliche gekommen. In Zukunft bleibst du schön zu Hause, wenn es draußen dunkel wird, junge Dame! Jetzt ist Schluss mit dem Herumstreunen!
Wenn ich mir bei diesem Sprung den Hals breche, dachte sie, dann ist es allein Bobs Schuld.
Ja, doch, diesen Ast konnte sie mit Sicherheit erreichen. Sie hatte an diesem Abend noch etwas vor, sie wollte Leute treffen, und sie konnte nicht ewig hier herumsitzen und ihre Chancen abwägen.
Sie ging in die Hocke, spannte die Muskeln zum Sprung an – und erstarrte plötzlich, als die Scheinwerfer eines Autos um die Ecke kamen. Der Geländewagen glitt wie ein schwarzer Hai unter ihrem Fenster vorüber und fuhr weiter die ruhige Straße entlang, als ob der Fahrer nach einem bestimmten Haus suchte. Sicher nicht nach unserem, dachte sie; nie tauchte irgendjemand Interessantes bei ihren Pflegeeltern auf, bei Bob »Spaßbremse« Buckley und seiner noch langweiligeren Gattin Barbara. Sogar ihre Namen waren langweilig, ganz zu schweigen von ihren Tischgesprächen. Wie war dein Tag, Schatz? Und deiner? Das Wetter hat sich gebessert, nicht wahr? Reichst du mir bitte die Kartoffeln?
In ihrer verstaubten Akademikerwelt war Claire die Fremde, das wilde Mädchen, das sie niemals verstehen würden, sosehr sie sich auch mühten. Und sie gaben sich wirklich Mühe. Wäre sie doch nur bei einer Familie von Künstlern oder Schauspielern oder Musikern untergekommen, bei Leuten, die die ganze Nacht aufblieben und wussten, wie man sich amüsiert. Bei ihrer Art von Leuten.
Der schwarze Wagen war verschwunden. Jetzt oder nie, dachte sie.
Sie holte tief Luft und sprang. Spürte das Rauschen der Nachtluft in ihren langen Haaren, als sie durch die Dunkelheit flog. Dann landete sie, geschmeidig wie eine Katze, und der Ast erzitterte unter ihrem Gewicht. Ein Kinderspiel. Sie kletterte auf einen tieferen Ast und wollte gerade springen, als der schwarze Geländewagen zurückkam. Wieder glitt er mit leise schnurrendem Motor vorbei. Sie sah ihm hinterher, bis er um die Ecke verschwand, dann ließ sie sich auf das nasse Gras fallen.
Ihr Blick ging zurück zum Haus, und sie rechnete schon damit, dass Bob zur Haustür hinausstürmen und sie anschreien würde: Rein mit dir, junge Dame, aber auf der Stelle! Doch die Außenbeleuchtung ging nicht an.
Jetzt konnte der Abend beginnen.
Sie zog den Reißverschluss ihrer Kapuzenjacke hoch und machte sich auf den Weg zum Stadtpark, wo die ganze Action war – wenn man es so nennen konnte. Zu dieser späten Stunde war die Straße ruhig, die meisten Fenster dunkel. Es war ein Viertel mit Lebkuchenhäuschen wie aus dem Bilderbuch, bevölkert von Professoren und Dozenten und glutenfreien, veganen Ehefrauen und Müttern, die alle in Lesegruppen waren. Zehn Quadratmeilen, umgeben von der wirklichen Welt, so lautete Bobs augenzwinkernde Definition der Stadt, doch er und Barbara gehörten tatsächlich hierher.
Claire wusste nicht, wo sie hingehörte.
Sie überquerte die Straße mit großen Schritten und kickte mit ihren ausgetretenen Stiefeln das tote Laub vor sich her. Einen Block weiter stand ein Trio von Teenagern, zwei Jungen und ein Mädchen, im Lichtkegel einer Straßenlaterne und rauchte Zigaretten.
»Hey«, rief sie ihnen zu.
Der größere Junge winkte. »Hey, Claire-Bear. Ich hab gehört, du hättest wieder Einzelhaft.«
»Für dreißig Sekunden vielleicht.«
Sie nahm die brennende Zigarette, die er ihr anbot, machte einen Lungenzug und atmete mit einem zufriedenen Seufzer aus. »Also, was geht ab heute Abend? Was wollen wir machen?«
»Hab gehört, drüben bei den Wasserfällen steigt ’ne Party. Aber wir brauchen ein Auto.«
»Was ist mit deiner Schwester? Sie könnte uns doch hinfahren.«
»Nee, Dad hat ihr die Autoschlüssel weggenommen. Lass uns noch ’ne Weile hier rumhängen und schauen, wer sonst noch aufkreuzt.« Der Junge hielt inne, runzelte die Stirn und spähte über Claires Schulter. »O Scheiße, sieh mal, wer da kommt.«
Sie drehte sich um und stöhnte, als ein dunkelblauer Saab neben ihr am Bordstein hielt. Das Beifahrerfenster wurde heruntergedreht, und Barbara Buckley sagte: »Steig ein, Claire!«
»Ich treffe mich bloß mit meinen Freunden.«
»Es ist fast Mitternacht, und morgen ist Schule.«
»Ist ja nicht so, als ob ich was Verbotenes mache.«
Vom Fahrersitz kommandierte Bob Buckley: »Steig sofort ein, junge Dame!«
»Ihr seid nicht meine Eltern!«
»Aber wir sind verantwortlich für dich. Es ist unser Job, dich zu einem anständigen Menschen zu erziehen, und genau das versuchen wir zu tun. Wenn du nicht sofort mit uns nach Hause kommst, dann … also, dann wirst du die Konsequenzen zu spüren bekommen.«
Ja, ja, ich mach mir vor Angst gleich in die Hose. Sie wollte schon loslachen, doch da fiel ihr plötzlich auf, dass Barbara einen Morgenmantel trug und dass Bobs Haare seitlich vom Kopf abstanden. Sie hatten sich so überhastet auf die Suche nach ihr gemacht, dass sie sich nicht einmal angezogen hatten. Sie sahen beide älter und müder aus, ein zerknittertes Ehepaar mittleren Alters, das aus dem Schlaf gerissen worden war und ihretwegen am nächsten Morgen völlig erschöpft aufwachen würde.
Barbara seufzte resigniert. »Ich weiß, dass wir nicht deine Eltern sind, Claire. Ich weiß, dass es dir nicht passt, bei uns zu wohnen, aber wir tun doch nur unser Bestes. Also steig jetzt bitte ein. Hier draußen bist du nicht sicher.«
Claire warf ihren Freunden einen genervten Blick zu, kletterte auf den Rücksitz des Saab und knallte die Tür zu. »Okay?«, sagte sie. »Jetzt zufrieden?«
Bob drehte sich zu ihr um. »Es geht hier nicht um uns. Es geht um dich. Wir haben deinen Eltern geschworen, dass wir uns immer um dich kümmern würden. Wenn Isabel noch am Leben wäre und dich jetzt sehen könnte, würde es ihr das Herz brechen. Außer Rand und Band, immer voller Zorn. Claire, du hast eine zweite Chance bekommen, und das ist ein Geschenk. Ich bitte dich, wirf es nicht weg.« Er seufzte. »Und jetzt schnall dich an, ja?«
Wäre er wütend gewesen, hätte er sie angebrüllt, dann hätte sie damit umgehen können. Aber der Blick, mit dem er sie ansah, war so kummervoll, dass sie ein ganz schlechtes Gewissen bekam. Weil sie sich so unmöglich benahm, weil sie ihre Güte mit Rebellion erwiderte. Es war nicht die Schuld der Buckleys, dass ihre Eltern tot waren. Dass ihr Leben so verkorkst war.
Während sie davonfuhren, saß sie zusammengekauert auf dem Rücksitz, reumütig, aber zu stolz, um sich zu entschuldigen. Morgen werde ich netter zu ihnen sein, dachte sie. Ich werde Barbara helfen, den Tisch zu decken, und vielleicht sogar Bobs Wagen waschen. Denn diese Kiste hat es wirklich verdammt nötig.
»Bob«, sagte Barbara, »was macht denn das Auto da vorn?«
Ein Motor heulte auf. Scheinwerfer kamen auf sie zu.
Barbara schrie: »Bob!«
Durch den Aufprall wurde Claire in ihren Gurt geschleudert, und ein entsetzliches Getöse zerriss die Nacht. Splitterndes Glas. Knirschendes Metall.
Und irgendjemand weinte, wimmerte leise. Sie schlug die Augen auf, sah, dass die Welt auf dem Kopf stand, und merkte, dass das Wimmern von ihr selbst kam. »Barbara?«, flüsterte sie.
Sie hörte einen gedämpften Knall, dann noch einen. Benzingeruch stieg ihr in die Nase. Sie hing in ihrem Gurt, und er schnitt ihr so tief in die Rippen, dass sie kaum atmen konnte. Blind tastete sie nach der Schnalle. Sie löste sich mit einem Klick, Claires Kopf schlug unten auf, und ein jäher Schmerz schoss ihr in den Nacken. Irgendwie gelang es ihr, sich umzudrehen, sodass sie flach dalag, vor sich das zerschmetterte Fenster. Der Benzingeruch war jetzt stärker. Sie wälzte sich zum Fenster hin, dachte an Flammen, an sengende Hitze, die das Fleisch auf ihren Knochen zum Kochen brachte. Raus hier, raus. Solange noch Zeit bleibt, Bob und Barbara zu retten! Sie schlug die letzten Glassplitter aus dem Rahmen, und sie fielen klirrend auf den Asphalt.
Zwei Füße tauchten in ihrem Blickfeld auf und blieben vor ihr stehen. Sie starrte zu dem Mann auf, der ihr den Fluchtweg versperrte. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen, nur seine Silhouette. Und die Waffe, die er in der Hand hielt.
Reifen kreischten, als ein weiterer Wagen mit röhrendem Motor auf sie zuschoss.
Claire wich erschrocken in den Saab zurück, wie eine Schildkröte, die sich in den Schutz ihres Panzers verkriecht. Sie zog sich vom Fenster zurück, hielt sich die Arme über den Kopf und fragte sich nur, ob die Kugel diesmal wehtun würde. Ob sie spüren...
Erscheint lt. Verlag | 26.4.2013 |
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Reihe/Serie | Rizzoli-&-Isles-Serie | Rizzoli-&-Isles-Serie |
Übersetzer | Andreas Jäger |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Last to Die (Rizzoli & Isles 10) |
Maße | 120 x 120 mm |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Schlagworte | Bestseller • Bestseller, Rizzoli, Isles, Mord, Geheimnis, Maine, USA, Boston, new york times bestseller • Boston • eBooks • Geheimnis • Gerichtsmedizin • isles • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Maine • Mord • New York Times Bestseller • Pathologie • Reihe • Rizzoli • SPIEGEL-Bestseller • Thriller • Traumatisierte Kinder • USA • Weltbestseller |
ISBN-10 | 3-641-09601-4 / 3641096014 |
ISBN-13 | 978-3-641-09601-4 / 9783641096014 |
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