Mein verwundetes Herz (eBook)
352 Seiten
Pantheon (Verlag)
978-3-641-09070-8 (ISBN)
Martin Doerry, geboren 1955, ist promovierter Historiker und arbeitete von 1987 bis 2021 als Redakteur für den SPIEGEL. 16 Jahre lang war er stellvertretender Chefredakteur des Nachrichtenmagazins. Bei der DVA erschienen von ihm der in 19 Sprachen übersetzte Bestseller »?Mein verwundetes Herz?. Das Leben der Lilli Jahn 1900-1944« (2002) und »Nirgendwo und überall zu Haus - Gespräche mit Überlebenden des Holocaust« (2006, in Zusammenarbeit mit der Fotografin Monika Zucht). Gemeinsam mit Susanne Beyer hat er den Band »Mich hat Auschwitz nie verlassen. Überlebende des Konzentrationslagers berichten« herausgegeben (2015).
Ein Buch bewegt seine Leser
Vorwort zur Pantheon-Ausgabe
Eigentlich wusste man das alles. Dass die Nationalsozialisten rücksichtslos und grausam ihre Ziele verfolgt, dass sie Familien zerstört und Millionen Menschen ermordet hatten. Dass die Deutschen tatenlos zugesehen und manche sogar applaudiert hatten, wenn ihre jüdischen Nachbarn drangsaliert und schließlich deportiert worden waren. Dass ein Volk einem verbrecherischen Regime blind in den Tod gefolgt war.
Und doch kannte niemand diese eine Geschichte. 57 Jahre nach Kriegsende kam sie aus einem bis dahin verborgenen Nachlass ans Licht der Öffentlichkeit, eine Geschichte, die das, was man schon zu wissen meinte, offenbar so erzählte, dass viele Leser plötzlich verstanden: Sie verstanden, wie Intoleranz und Rassenhass um sich griffen, was der alltägliche Terror mit den Menschen machte, wie jene zu Opfern wurden, die eben noch geachtete Mitbürger waren.
Die Geschichte der jüdischen Ärztin Lilli Jahn aus Immenhausen bei Kassel, die von ihrem nichtjüdischen Mann Ernst verstoßen, von ihren fünf Kindern getrennt und schließlich 1944 in Auschwitz getötet worden war – diese Geschichte löste vor zehn Jahren ein überraschend starkes Interesse unter den deutschen Lesern aus.
Überraschend deswegen, weil viele längst mit einem Abflauen der Aufmerksamkeit für den Holocaust und seine Vorgeschichte gerechnet hatten. Mit der Jahrhundertwende, so hieß es, werde die Vergangenheitsfixierung der Deutschen langsam nachlassen. Eine neue Epoche würde sie für neue Perspektiven öffnen und das Schuldbewusstsein als Voraussetzung allen politischen Handelns durch ein neues Selbstbewusstsein ersetzen. Die Außenpolitik der rot-grünen Bundesregierung mit ihrer Zustimmung zu ersten Kriegseinsätzen der Bundeswehr im Ausland, in Jugoslawien und Afghanistan, schien diesen Mentalitätswechsel zu bestätigen.
Doch politische Kulturen verändern sich nicht so geradlinig, wie ihre Interpreten zuweilen glauben. Das Erscheinen der Briefbiographie »›Mein verwundetes Herz‹. Das Leben der Lilli Jahn 1900 – 1944« im August 2002 löste eine Welle der Anteilnahme aus. Die Holocaust-Überlebende Cordelia Edvardson empfahl das Buch in der »Welt«, Martin Walser schrieb in einem seitenlangen Text für die »Süddeutsche Zeitung«: »Ich habe noch nie von einem Buch gesagt, es gehöre in die Schule, hier muss ich das sagen.« Und die Autorin Eva Menasse urteilte in der »Frankfurter Allgemeinen«: »Eine wahre Entdeckung, ein großes, ergreifendes Dokument über eine private Katastrophe inmitten der politischen.«
Viele Zeitungen, Zeitschriften, Fernseh- und Rundfunkanstalten berichteten nun über die Biographie, Theater wie das Berliner Ensemble oder das Hamburger Schauspielhaus nahmen szenische Lesungen ins Programm, die BBC produzierte zum Erscheinen der englischen Ausgabe »My Wounded Heart« einen großen Dokumentarfilm und sendete eine Woche lang täglich Auszüge im Hörfunk. Schulbuchverlage nahmen den Stoff – Walsers Vorschlag folgend – in die Geschichtsbücher auf; Schüler und Lehrer organisierten Lesungen; Zeithistoriker nutzten das neu aufgetauchte Quellenmaterial; Saul Friedländer, zum Beispiel, berief sich in seiner großen Studie über »Das Dritte Reich und die Juden« ausführlich auf das Schicksal Lillis.
Die Nachricht vom Erfolg des Buches ging bald um die Welt. Verlage in Nord- und Südamerika, in allen west- und mitteleuropäischen Ländern sowie in Asien erwarben Lizenzen, insgesamt 19 Übersetzungen liegen inzwischen vor. Goethe-Institute in Chikago, Kopenhagen, London, Madrid, Mailand, Montreal, Seoul und Weimar inszenierten Lesungen und Podiumsdiskussionen. Bemerkenswerte Reaktionen schließlich kamen aus Israel. Die hebräische Ausgabe wurde in allen großen Zeitungen, in den Hauptnachrichtensendungen des Fernsehens und auf der Buchmesse in Jerusalem vorgestellt. Nur die muslimisch geprägten Länder zeigten kein Interesse. Der arabische Kulturraum ist der einzige, in dem sich bis heute kein Verlag fand, der eine Übersetzung in Auftrag geben wollte.
Am größten war und ist die Aufmerksamkeit natürlich an den deutschen Schauplätzen des Buches, also in Lillis Geburtsstadt Köln und vor allem in Nordhessen. In der Gedenkstätte Breitenau bei Kassel gibt es schon seit den frühen 90er Jahren eine Vitrine mit Kopien der Briefe Lillis, auch eine Straße und eine Schule in Immenhausen trugen bereits ihren Namen. Nun aber wurden Gedenktafeln an den ehemaligen Wohnhäusern der Familie Jahn in Immenhausen und Kassel angebracht, in Breitenau wurde der Platz vor der früheren Synagoge nach Lilli Jahn benannt und in Köln ein Stolperstein zur Erinnerung an ihr Schicksal verlegt.
Eine Reihe von Lesungen, die der Hessische Rundfunk mit den Schauspielerinnen Sunnyi Melles und Andrea Wolf im Herbst 2002 organisiert hatte, stieß in der Region auf ein so starkes Echo, dass einzelne Veranstaltungen in große Sporthallen verlegt werden mussten, allein in Vellmar bei Kassel kamen mehr als 1000 Zuhörer. Bis heute haben Lillis älteste Tochter Ilse und ihr Enkel, der Autor dieser Zeilen, weitere etwa 120 Lesungen absolviert. Und stets reagierte das Publikum mit großer Betroffenheit auf die Briefe Lillis und ihrer Kinder.
Diese innere Bewegung spiegeln auch Hunderte von Leserbriefen, die den Verlag und den Autor erreichten. Viele berichten vom eigenen Schicksal während des Krieges, von ähnlichen Erfahrungen der Ausgrenzung und Verfolgung. Viele fragen aber auch nach: Wie es denn geschehen konnte, dass Lillis Mann Ernst trotz der so offensichtlichen Gefahr für seine jüdische Frau mitten im Krieg die Scheidung einreichte? Und warum der Autor so scheinbar unbeteiligt all dies schildere, warum er das Verhalten seines Großvaters nicht verurteile?
Eine erste Antwort auf diese Frage findet sich im Buch selbst. »Der Autor«, so heißt es in der Einleitung, »beschränkt sich zumeist auf die Rolle des Chronisten.« Die Quellen, also die Briefe vor allem, sollten durch Wertungen und Interpretationen nicht einseitig präsentiert werden.
Ein moralisches Urteil mag der unbeteiligte Leser treffen, der Nachgeborene will es nicht, jedenfalls nicht öffentlich. Wer nicht unter so dramatischen Umständen lebt, wie es den Zeitgenossen des Nazi-Regimes auferlegt war, sollte sich vor Verurteilungen hüten. Die Wechselfälle einer bürgerlichen Lebensführung, etwa das Einreichen einer Scheidung oder die Trennung von einer Familie, sind heute in ihren Konsequenzen weitgehend überschaubar. Niemand muss gegenwärtig im Alltag zum Helden werden. Wer hingegen damals im falschen Moment Schwäche zeigte und sich scheiden ließ, konnte gegen seinen Willen zum Handlanger der Henker werden. Und genau das ist im Falle von Ernst Jahn geschehen.
Für den Erfolg des Buches sind wohl nicht diese dramatischen Umstände, sondern eher andere Faktoren verantwortlich. Ganz wesentlich sind es die Briefe selbst. Diese schlichten Zeugnisse einer bedingungslosen Liebe, die bis zu Lillis Tod in Auschwitz alle Belastungen mühelos übersteht, übersetzen das Drama der großen Geschichte ins Private. Sie sind zudem von besonderer sprachlicher Schönheit, das gilt für die humorvollen, lebhaften Briefe der Tochter Johanna, die eher ernsten, verantwortungsbewussten Berichte ihrer älteren Schwester Ilse und vor allem für die liebevollen, lebensklugen Antworten Lillis.
Wenn Geschichte, auch die des Holocaust, gemeinhin aus der Vogelperspektive erzählt wird, als Gerüst von Daten, Zahlen, Fakten, dann erscheint sie in diesen Briefen mit dem Ausdruck aller Freude und aller Trauer als zutiefst menschlich, alltäglich, getrieben von Emotionen, die den Menschen zu jeder Zeit und in jeder Epoche bewegt haben. Lilli, Ernst und ihre fünf Kinder Gerhard, Ilse, Johanna, Eva und Dorothea lebten zunächst in der Mitte der Gesellschaft, in einer intakten bürgerlichen Welt; Lilli selbst stammte aus einer stark assimilierten jüdischen Familie in Köln. Um so überraschender dann der Einbruch des Barbarischen in dieser wohlgeordnete Welt, ganz langsam noch in den frühen dreißiger Jahren, dann immer schneller, immer heftiger im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs.
Das, was der Leser schon früh als eine sich über Jahre, ja Jahrzehnte anbahnende Katastrophe begreift, war eine für Lilli anfangs noch völlig offene Situation. Niemand in der Familie ahnte, welchen Lauf die Geschichte nehmen würde. Ernst sträubte sich in den dreißiger Jahren gegen eine Emigration, weil er im Ausland nur schwer als Arzt hätte arbeiten können, Lilli wollte die schwierige Zeit im Schutz der Familie abwarten und hoffte bis zuletzt auf bessere Zeiten. So schloss sich der Ring um Lilli, weil sie und Ernst die ihr drohende Gefahr nicht oder zu spät erkannten.
Wer bislang unter dem Begriff Holocaust allein das systematische, fabrikmäßige Töten der Juden Europas begriff, wird hier eines Besseren belehrt. Die Tötungsmaschine hatte viele Helfer. Erst sind es die Freunde und Nachbarn der Familie, die sich abwenden. Dann registriert der Bürgermeister, dass nur noch eine einzige Jüdin, nämlich die gerade geschiedene Lilli, in Immenhausen lebt, und schiebt sie mit den Kindern nach Kassel ab. Dort wird sie von der Gestapo unter einem Vorwand vorgeladen und in ein Arbeitserziehungslager eingesperrt. Und erst von Breitenau aus wird die Mutter von fünf Kindern nach monatelangen Schikanen nach Auschwitz deportiert.
Nach ihren Lesungen wurden Lillis Tochter Ilse und der Autor stets gefragt, welche Botschaft die Biographie enthalte. Die Geschichte wiederhole sich...
Erscheint lt. Verlag | 27.8.2012 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Antisemitismus • Auschwitz • Biografie • Biographien • Breitenau • eBooks • Holocaust • Judenverfolgung • Kassel • Kinderbriefe • Konzentrationslager • Nationalsozialismus • Tagebuch |
ISBN-10 | 3-641-09070-9 / 3641090709 |
ISBN-13 | 978-3-641-09070-8 / 9783641090708 |
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