Liebesleben (eBook)

Roman
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2010 | 1. Auflage
368 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-7230-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Liebesleben -  Zeruya Shalev
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Die Begegnung mit Arie, einem alten Freund ihres Vaters, wirft das Leben der Ich-Erzählerin Ja'ara aus der Bahn. Vom ersten Moment an verfällt sie der erotischen Anziehungskraft des ebenso rätselhaften wie tyrannischen Egozentrikers. Ja'ara erlebt eine bedingungslose, obsessive und demütigende Liebesbeziehung, die sie dazu bringt, auf alles zu verzichten, was ihr Leben bisher ausgemacht hat: ihre Ehe, ihre Karriere, ihre Vorstellungen von Treue und Anstand.

Zeruya Shalev, 1959 in einem Kibbuz am See Genezareth geboren, studierte Bibelwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Haifa. Ihre vielfach ausgezeichnete Trilogie über die moderne Liebe - «Liebesleben», «Mann und Frau», «Späte Familie» - wurde in über zwanzig Sprachen übertragen. Zuletzt erschienen ihre Romane »Schmerz« und »Schicksal«. Zeruya Shalev gehört weltweit zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit.

Zeruya Shalev, 1959 in einem Kibbuz am See Genezareth geboren, studierte Bibelwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Jerusalem. Ihre vielfach ausgezeichnete Trilogie über die moderne Liebe – "Liebesleben", "Mann und Frau", "Späte Familie" – wurde in über zwanzig Sprachen übertragen. Zeruya Shalev gehört zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit.

Kapitel 1


Er war nicht mein Vater und nicht meine Mutter, weshalb öffnete er mir dann ihre Haustür, erfüllte mit seinem Körper den schmalen Eingang, die Hand auf der Türklinke, ich begann zurückzuweichen, schaute nach, ob ich mich vielleicht im Stockwerk geirrt hatte, aber das Namensschild beharrte hartnäckig darauf, daß dies ihre Wohnung war, wenigstens war es ihre Wohnung gewesen, und mit leiser Stimme fragte ich, was ist mit meinen Eltern passiert, und er öffnete weit seinen großen Mund, nichts ist ihnen passiert, Ja’ara, mein Name rutschte aus seinem Mund wie ein Fisch aus dem Netz, und ich stürzte in die Wohnung, mein Arm streifte seinen kühlen glatten Arm, ich ging an dem leeren Wohnzimmer vorbei, öffnete die verschlossene Tür ihres Schlafzimmers.

Wie auf frischer Tat ertappt, drehten sie mir die Gesichter zu, und ich sah, daß sie im Bett lag, ein geblümtes Küchenhandtuch um den Kopf gewickelt, eine Hand an der Stirn, als fürchte sie, das Tuch könne runterfallen, und mein Vater saß auf dem Bettrand, ein Glas Wasser in der Hand, das Glas bewegte sich im gleichen Rhythmus wie er hin und her, und auf dem Fußboden, zwischen seinen Füßen, hatte sich schon eine kleine zitternde Pfütze gebildet. Was ist passiert? fragte ich, und sie sagte, ich fühle mich nicht wohl, und mein Vater sagte, noch vor zwei Minuten hat sie sich prima gefühlt, und sie maulte, siehst du, er glaubt mir wieder mal nicht. Was hat der Arzt gesagt, fragte ich, und mein Vater sagte, was für ein Arzt, sie ist gesund wie ein Ochse, ich wünschte, ich wäre so gesund wie sie, und ich blieb hartnäckig, aber ihr habt einen Arzt gerufen, oder? Er hat mir doch die Tür aufgemacht, oder?

Wieso Arzt, mein Vater lachte, das ist mein Freund Arie Even, erinnerst du dich nicht an Arie? Und meine Mutter sagte, warum sollte sie sich an ihn erinnern, sie war noch nicht geboren, als er das Land verlassen hat, und mein Vater stand auf und sagte, ich gehe zu ihm, es gehört sich nicht, ihn allein zu lassen. Eigentlich sah es aus, als käme er ganz gut allein zurecht, sagte ich, er benahm sich wie der Herr des Hauses, und meine Mutter begann zu husten, ihre Augen wurden rot, und mein Vater hielt ihr ungeduldig das Glas hin, das inzwischen schon fast leer war, und sie schnaubte, bleib bei mir, Schlomo, ich fühle mich nicht wohl, aber er war schon an der Tür, Ja’ara bleibt bei dir, sagte er, wofür hat man denn Kinder.

Sie trank den Rest Wasser und nahm sich das nasse Handtuch vom Kopf, ihre dünnen Haare standen hoch wie die Stacheln eines Igels, mitleiderweckend, und als sie versuchte, sie an ihrem Schädel glattzustreichen, dachte ich an den Zopf, den sie einmal hatte, diesen hinreißenden Zopf, der sie überallhin begleitete, lebendig wie eine kleine Katze, und ich sagte, warum hast du ihn abgeschnitten, das war, wie wenn man ein Bein amputiert, hättest du dir mit derselben Leichtigkeit ein Bein abnehmen lassen? Sie sagte, der Zopf hat schon nicht mehr zu mir gepaßt, nachdem sich alles verändert hatte, und richtete sich im Bett auf, schaute nervös auf die Uhr, wie lange will er noch hier sitzen, mir stinkt es, den hellichten Tag im Bett zu verbringen.

Du bist wirklich nicht krank, stellte ich fest, und sie kicherte, natürlich nicht, ich kann diesen Kerl einfach nicht ausstehen, und ich sagte sofort, ich auch nicht, denn die Stelle, wo unsere Arme sich berührt hatten, brannte, als hätte mich etwas gestochen, und dann fragte ich, warum.

Das ist eine lange Geschichte, sagte sie, dein Vater schätzt ihn, sie haben zusammen studiert, vor dreißig Jahren, er war sein bester Freund, aber ich habe immer gedacht, daß Arie nur mit ihm spielt, ihn sogar ausnützt, ich glaube nicht, daß er überhaupt in der Lage ist, etwas zu fühlen. Schau doch, jahrelang haben wir nichts von ihm gehört, und plötzlich taucht er hier auf, weil Papa etwas für ihn arrangieren soll.

Aber du hast gesagt, daß er nicht hier gelebt hat, sagte ich und fand mich plötzlich in der Situation, daß ich ihn verteidigte, aber sie sagte, stimmt, sie haben in Frankreich gelebt, erst jetzt sind sie nach Israel gekommen, aber wenn man will, kann man auch von dort aus Kontakt halten, und ihr Gesicht reduzierte sich auf eine konzentrierte Bosheit, auf ein Dreieck voller Falten und Altersflecken, das trotzdem kindlich wirkte, mit den mißtrauisch zusammengekniffenen Augen, staubig wie Fenster, die man seit Jahren nicht geputzt hat, und der geraden schönen Nase, die sie mir vererbt hat, darunter spannten sich bitter die blassen Lippen, die allmählich immer leerer wurden, als würden sie von innen aufgesaugt.

Was hat er in Frankreich gemacht, fragte ich, und sie sagte, was er überall macht, eigentlich gar nichts. Papa ist überzeugt, daß er im Auftrag des Geheimdienstes dort war, aber meiner Meinung nach hat er auf Kosten seiner reichen Frau gelebt, einfach ein Habenichts, der Geld geheiratet hat, und jetzt kommt er her und gibt mit den europäischen Manieren an, die er sich angeeignet hat, und ich sah, daß ihre Augen am Spiegel an der Wand gegenüber hingen und zusahen, wie die Worte aus ihrem Mund kamen, schmutzig, vergiftet, und wieder dachte ich, wer weiß, was sie nicht alles über mich sagen würde, ein Gefühl der Erstickung überfiel mich, und ich sagte, ich muß gehen, und sie stieß aus, noch nicht, versuchte mich festzuhalten, so, wie sie es bei ihm versucht hatte, bleib bei mir, bis er geht, und ich fragte, warum, und sie sagte achselzuckend, wie ein verstocktes Kind, ich weiß nicht.

Der scharfe Geruch französischer Zigaretten drang aus dem Wohnzimmer, und mein Vater, der niemals erlaubt hatte, daß jemand in seiner Gegenwart rauchte, hockte, in Rauchschwaden gehüllt, auf dem Sofa, und auf seinem weichen Sessel räkelte sich sein Gast, gelassen und selbstzufrieden, und sah zu, wie ich näher kam. Erinnerst du dich an Ja’ara, sagte mein Vater fast flehend, und der Gast sagte, ich erinnere mich an sie als Baby, ich hätte sie nicht wiedererkannt, und erhob sich mit erstaunlicher Geschmeidigkeit und streckte mir eine schöne Hand entgegen, mit dunklen Fingern, lächelte spöttisch und sagte zu mir, erwartest du immer das Schlimmste? Er erklärte meinem Vater, als sie mich an der Tür gesehen hat, hat sie mich angesehen, als hätte ich euch beide umgebracht und sie wäre als nächste an der Reihe, und ich sagte, stimmt, und meine Hand fiel herab, schwer und überrascht, wie die Hand eines Menschen, der gerade ohnmächtig wird, denn er ließ sie ganz plötzlich los, bevor ich damit gerechnet hatte, und setzte sich wieder in den Sessel, seine dunkelgrauen Augen musterten mein Gesicht, ich versuchte, mich hinter meinen Haaren zu verstecken, setzte mich ihm gegenüber und sagte zu meinem Vater, ich habe es eilig, Joni wartet zu Hause auf mich. Wie geht es deiner Mutter, fragte der Gast, seine Stimme war tief, und ich sagte, nicht so gut, ein schiefes Lächeln entschlüpfte mir, wie immer, wenn ich log, und mein Vater sah mich mit glänzenden Augen an, du weißt, daß wir zusammen studiert haben, als wir jung waren, sagte er, jünger als du, wir haben sogar eine Zeitlang zusammen gewohnt, aber die Augen des Gastes glänzten nicht, als seien seine Erinnerungen längst nicht so begeisternd, und mein Vater ließ nicht locker, warte einen Moment, er erhob sich vom Sofa, ich muß dir ein Bild von uns zeigen, wie immer weckte die Vergangenheit eine ungeheure Erregung in ihm.

Man hörte ihn im Nebenzimmer suchen, Schubladen wurden aufgerissen, Bücher auf den Boden gelegt, die Geräusche überdeckten unser unangenehmes, erstickendes Schweigen, und der Gast steckte sich wieder eine Zigarette an, unternahm nicht einmal den Versuch einer Unterhaltung, betrachtete mich mit seinem Blick, der Hochmut, Herausforderung und zugleich Gleichgültigkeit ausdrückte, seine Anwesenheit füllte das Zimmer aus, und ich versuchte, ihm mit einem strahlenden Blick zu antworten, aber meine Augen blieben gesenkt, wagten es nicht, an den geöffneten Knöpfen seines kurzen Hemdes hochzuklettern, eines Hemdes, das eine braune glatte Brust freilegte, sie senkten sich tiefer, zu seinen fast lächerlich glänzenden spitzen Schuhen, dazwischen eine große schwarze Tüte, auf der mit Goldbuchstaben stand: Das linke Ufer, Pariser Moden, ich unterdrückte ein Grinsen, die Koketterie, die darin lag, verwirrte mich, sie paßte nicht zu seinem konventionellen Gesichtsausdruck, und das Grinsen blieb mir im Hals stecken, ich hustete verlegen, suchte nach etwas, was ich sagen könnte, und am Schluß sagte ich, er findet es bestimmt nicht, er findet nie etwas.

Er wird es nicht finden, weil das Foto bei mir ist, bestätigte der Gast flüsternd, und genau in dem Moment war ein Krachen zu hören, dann ein Fluch, und mein Vater kam hinkend ins Zimmer zurück, mit der Schublade, die ihm auf den Fuß gefallen war, wo kann es nur sein, dieses Foto, und der Gast blickte ihn spöttisch an, laß gut sein, Schlomo, was spielt das für eine Rolle, und ich wurde ganz nervös, warum sagte er ihm nicht, daß das Foto bei ihm war, und woher wußte er, daß ich es nicht sagen würde, wie zwei Betrüger beobachteten wir die geschäftige Sucherei, bis ich es nicht mehr aushielt und aufstand, Joni wartet zu Hause auf mich, sagte ich noch einmal, als wäre das die Losung, das rettende Wort, das mich befreien würde. Schade, sagte mein Vater bedauernd, ich wollte dir zeigen, wie wir damals aussahen, und der Gast sagte, sie braucht das nicht, auch du brauchst das nicht, und ich sagte, stimmt, obwohl ich gern gewußt hätte, wie sein dunkles, scharfes Gesicht früher ausgesehen hatte, und mein Vater begleitete mich hinkend zur Tür und flüsterte, na, sie ist nicht wirklich krank, stimmt’s, sie verstellt sich nur, nicht wahr? Und ich sagte, wieso denn, sie ist wirklich krank, du mußt den Arzt rufen.

Die Treppe vor dem...

Erscheint lt. Verlag 1.7.2010
Übersetzer Mirjam Pressler
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Amour fou • Bedingungslos • Bestseller • Bundestagswahl • Dekadenz • erotisch • Gerhard Schröder • Israel • Liebe • Literatur • Preisgekrönt • Respekt • Roman • spiegel bestseller • Theory Of Art
ISBN-10 3-8270-7230-1 / 3827072301
ISBN-13 978-3-8270-7230-6 / 9783827072306
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