Das Leben von Marcy Taggart gerät völlig ins Wanken, als ihre Tochter bei einer Bootsfahrt unter rätselhaften Umständen verschwindet. Auch wenn ihre Leiche nie gefunden wird, gilt Devon als tot - nur Marcy weigert sich, dies zu glauben, und klammert sich an die Hoffnung, dass Devon noch lebt. Als Marcy alleine nach Irland reist, passiert das Unfassbare: Bei einem Besuch im Pub glaubt sie, ihre Tochter auf der Straße vorbeilaufen zu sehen. Von nun an setzt sie alles daran, Devon zu finden - nicht ahnend, dass sie ihr eigenes Leben aufs Spiel setzt ...
Joy Fielding gehört zu den großen Spitzenautorinnen Amerikas. Seit ihrem Psychothriller »Lauf, Jane, lauf« waren alle ihre Bücher internationale Bestseller. Joy Fielding hat zwei Töchter und lebt mit ihrem Mann in Toronto, Kanada, und in Palm Beach, Florida.
KAPITEL EINS
»Okay, wenn Sie sich bitte für einen Moment um mich versammeln würden, dann erzähle ich Ihnen ein bisschen was über das prachtvolle Gebäude vor Ihnen.« Der Führer lächelte die Gruppe von müden und leicht abgekämpft wirkenden Touristen aufmunternd an, die vor der St. Anne’s Shandon Church umherschwirrten. »So ist’s fein«, schmeichelte er in seinem übertriebenen irischen Singsang und schwenkte ungeduldig einen smaragdgrünen Schal über seiner stattlichen Gestalt. »Kommen Sie ein Stückchen näher, junge Dame. Ich beiße nicht.« Sein Lächeln wurde breiter, sodass die untere Reihe seiner fleckigen und krummen Zähne sichtbar wurde.
Gut, dass ihr Mann die Reise nach Irland am Ende doch nicht mitgemacht hatte, dachte Marcy Taggart, als sie ein paar zögerliche Schritte nach vorn machte. Er hätte das schiefe Gebiss des armen Mannes als persönlichen Affront betrachtet. Da geben die Leute haufenweise Geld für Schönheitsoperationen und Designerklamotten aus und vergessen das Wichtigste von allem – ihre Zähne, empörte er sich regelmäßig. Als Kieferorthopäde neigte Peter zu solch harschen Urteilen. Hatte er ihr nicht einmal erklärt, dass ihm als Erstes nicht ihre schlanke Figur oder ihre großen braunen Augen aufgefallen waren, sondern ihre sorgfältig gepflegten, geraden und makellos weißen Zähne? Heute konnte Marcy sich nur wundern, dass sie solche Äußerungen einmal schmeichelhaft, ja, sogar romantisch gefunden hatte.
»Darf ich um Ihre volle Aufmerksamkeit bitten«, sagte der Touristenführer mit einem leicht tadelnden Unterton. Offensichtlich war er an die beiläufige Unhöflichkeit der ihm Anbefohlenen gewöhnt und nahm schon lange keinen Anstoß mehr daran. Obwohl die vierundzwanzig Frauen und Männer vorwiegend mittleren Alters viel Geld für den Tagesausflug nach Cork bezahlt hatten, der mit etwa 120 000 Einwohnern zweitgrößten Stadt der Republik Irland, hatte bestenfalls eine Handvoll von ihnen auch nur einem Wort zugehört, das der Mann seit der Abfahrt in Dublin gesagt hatte.
Marcy hatte es versucht, sie hatte sich wirklich angestrengt. Immer wieder hatte sie sich zur Konzentration ermahnt, als der Führer sie auf der scheinbar endlosen Busfahrt über 168 Meilen verstopfte Autobahnen und enge Landstraßen über die wechselvolle Geschichte Corks belehrt hatte. Der Name ging auf das irische Wort »corcach« zurück, ausgesprochen »kar-kax«, was so viel bedeutete wie »sumpfiger Ort« und sich auf die Lage der Stadt an dem Fluss Lee bezog; sie war im siebten Jahrhundert nach Christus gegründet worden und heute Verwaltungssitz der Grafschaft Cork und die größte Stadt der Provinz Munster. »Die eigentliche Hauptstadt Irlands« nannten die Bewohner Corks ihre Stadt; ihr Beiname »Rebel City« kam daher, dass die Stadtoberen 1491 nach dem Ende der englischen Rosenkriege den Kronprätendenten Perkin Warbeck unterstützt hatten. Heute war Cork der größte Industriestandort im Süden Irlands, wichtigster Zweig war die pharmazeutische Industrie, bekanntestes Produkt ausgerechnet Viagra.
Zumindest glaubte Marcy, dass der Führer das gesagt hatte. Sicher war sie sich nicht. Ihre Fantasie spielte ihr in letzter Zeit unerfreulich häufig Streiche, und mit fünfzig war ihr Gedächtnis auch nicht mehr das, was es einmal war. Aber wovon konnte man das schon behaupten, dachte sie, als sie den Blick verstohlen über die starren Mienen ihrer Mitreisenden schweifen ließ, die ihre besten Zeiten allesamt offensichtlich längst hinter sich hatten.
»Wie Sie sehen, beherrscht der Turm von St. Anne’s hier oben auf der Hügelkuppe den gesamten Nordteil der Stadt«, mühte der Führer sich, die Führer der anderen Reisegruppen zu übertönen, die plötzlich aufgetaucht waren und sich an der Straßenecke um die beste Position drängelten. »St. Anne’s ist das bedeutendste Gebäude von Cork, ihr 1722 erbauter Turm, der an einen riesigen Pfefferstreuer erinnert, gilt weithin als Wahrzeichen der Stadt. Von jedem Punkt in der Altstadt können Sie die Spitze mit der vergoldeten Kugel und die einzigartige Wetterfahne in Fischform sehen. Zwei Seiten des Turmes sind mit rotem Sandstein verklinkert, die beiden anderen mit weißem Kalkstein, Farben, die sich auch in den Trikots der Fußball-Mannschaft und des Hurling-Teams der Stadt wiederfinden.« Er wies auf die große, runde, schwarz-goldene Uhr im untersten Stock der vierstöckigen Turmspitze. »Die große Uhr von Shandon sagt den Bewohnern Corks, wie spät es ist, die Fahne auf der Spitze, wie das Wetter wird.« Im selben Moment ertönte ein Glockenspiel, das die Umstehenden mit offenem Mund staunen ließ. »Das sind unsere berühmten acht Shandon-Glocken«, sagte der Führer stolz. »Wie Ihnen bestimmt schon aufgefallen ist, sind sie den ganzen Tag überall in der Stadt zu hören. Und wenn Sie den Turm besteigen, können Sie sogar selbst darauf spielen, jede Melodie, die Sie wollen, obwohl die meisten Leute sich entweder für ›Danny Boy‹ oder für ›Ave Maria‹ entscheiden.« Er atmete tief ein. »Okay, dreißig Minuten für die Besichtigung der Kirche, danach geht es rüber zum Patrick’s Hill, damit Sie selbst erleben, wie steil die Gassen dort sind. Amerikaner sagen, sie könnten es mit den berüchtigten Straßen von San Francisco aufnehmen.«
»Was ist mit denjenigen, für die der Aufstieg zu beschwerlich ist?«, fragte eine ältere Frau, die weiter hinten stand.
»Für heute hab ich genug von Kirchen«, murmelte der Mann neben ihr. »Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich könnte ein Pint Guinness vertragen.«
»Für diejenigen unter Ihnen, die genug gesehen haben und sich vor der Weiterfahrt lieber ein wenig ausruhen und entspannen wollen, herrscht in der Umgebung kein Mangel an Pubs. Obwohl man die Einheimischen dort eher bei einem Murphy’s oder einem Beamish antreffen wird, zwei Dunkelbiere, die hier in Cork gebraut werden.«
»Klingt gut«, meinte irgendjemand.
»Wir treffen uns in einer Stunde am Busbahnhof Parnell Place«, verkündete der Führer. »Bitte seien Sie pünktlich, sonst bleibt uns am Ende womöglich nicht genug Zeit, auf der Rückfahrt nach Dublin das berühmte Blarney Castle zu besichtigen. Und Sie wollen doch sicher alle den berühmten Blarney Stone küssen, oder?«
Nein, das wollten sie auf keinen Fall, dachte Marcy und erinnerte sich an Peters Ekel bei der Vorstellung, wie eine Fledermaus an den Füßen kopfüber herabgelassen zu werden, um »einen schmutzigen, bakterienverseuchten grauen Stein zu küssen, der mit dem Speichel anderer Leute beschmiert war«, wie er sich so denkwürdig ausgedrückt hatte, als sie ihm die Prospekte zum ersten Mal gezeigt hatte. »Warum sollte jemand, der halbwegs bei Verstand ist, so etwas tun wollen?«, hatte er vorwurfsvoll gefragt.
Marcy hatte gelächelt und geschwiegen. Peter hatte schon vor einiger Zeit aufgehört zu glauben, dass sie halbwegs bei Verstand war.
War das nicht der Grund gewesen, warum sie überhaupt beschlossen hatten, diese Reise zu unternehmen? Hatten nicht alle gesagt, dass es wichtig – ja, entscheidend – für ihr seelisches Wohlbefinden wie auch ihre Ehe war, dass sie und Peter mehr Zeit miteinander verbrachten, Zeit, um das Geschehene als Einheit zu verarbeiten? War das nicht der Ausdruck, den der Psychologe benutzt hatte?
Als ihre Schwester dann die Idee aufgebracht hatte, sie könnten ihren 25. Hochzeitstag doch mit zweiten Flitterwochen begehen, hatte Marcy sich kopfüber in die Planung gestürzt. Irland war Peters Vorschlag gewesen, weil seine Mutter aus Limerick stammte. Jahrelang hatte er davon gesprochen, eine Pilgerfahrt ins Land seiner Vorfahren zu machen. Marcy hatte anfangs für ein exotischeres Ziel wie Tahiti oder Bali plädiert, irgendwo, wo die Durchschnittstemperatur im Juli spürbar über 18 Grad lag, sie Mai Tais am Strand schlürfen und Blumen im Haar tragen konnte; im Gegensatz zu einem Land, in dem Guinness angesagt und es ständig so regnerisch und feucht war, dass sie garantiert aussehen würde, als ob gerade ein Klumpen widerspenstiges Moos auf ihrem Kopf gelandet wäre. Doch im Grunde war es egal, wohin sie fuhren, hatte sie sich gesagt, solange sie es als Einheit taten.
Also hatten sie sich für Peters Vorschlag entschieden.
Aber am Ende hatte Peter sich für eine ganz andere Frau entschieden.
Galt man alleine auch noch als Einheit, fragte Marcy sich jetzt. So sehr sie die oft spektakuläre Natur der irischen Landschaft mit ihren viel gerühmten vierzig Schattierungen von Grün liebte, so sehr hasste sie das graue regnerische Wetter und die alles durchdringende Feuchtigkeit, die wie eine zweite Haut an ihr klebte.
Er könne nicht noch mehr Drama ertragen, hatte Peter gesagt, als er ihr erklärt hatte, dass er sie verlassen wollte. Es ist besser so. Für uns beide. Du wirst bestimmt viel glücklicher sein. Hoffentlich können wir irgendwann Freunde sein. Die feigen Phrasen des Deserteurs.
»Wir haben nach wie vor einen gemeinsamen Sohn«, hatte er gesagt, als ob sie daran erinnert werden müsste.
Ihre Tochter blieb unerwähnt.
Zitternd zog Marcy ihren Trenchcoat enger um ihren Körper und beschloss, sich den Reihen derjenigen anzuschließen, die für eine kurze Pause und ein Bier optiert hatten. Seit der Bus am Morgen um halb neun in Dublin abgefahren war, waren sie unterwegs. Nach einem kurzen Mittagessen in einem typisch irischen Pub gleich nach der Ankunft in Cork hatten sie eine dreistündige Wanderung durch die Stadt gemacht, bei der sie Sehenswürdigkeiten wie das Gefängnis, den Cork Quay Market, das Opernhaus und die St. Fin-Barre’s-Kathedrale besichtigt und die St....
Erscheint lt. Verlag | 12.9.2011 |
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Übersetzer | Kristian Lutze |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Now you see her |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | eBooks • Irland • Kanada • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Psychothriller • Rätsel • Roman • Spannung • Thriller • Tochter • Verschwinden |
ISBN-10 | 3-641-06225-X / 364106225X |
ISBN-13 | 978-3-641-06225-5 / 9783641062255 |
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