Muttersohn (eBook)

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2011 | 1. Auflage
512 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01241-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Muttersohn -  Martin Walser
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Wovon handelt dieser Roman? Es ist leichter zu sagen, wovon er nicht handelt. Er handelt von 1937 bis 2008, kommt nicht aus ohne Augustin, Seuse, Jakob Böhme und Swedenborg, handelt aber vor allem von Anton Percy Schlugen. Seine Mutter Josefine, Fini genannt, ist Schneiderin; sie lebt, auch als sie mit einem Mann zusammenlebt, allein. Jahrelang schreibt sie Briefe an Ewald Kainz, der auf den Stufen des Neuen Schlosses in Stuttgart eine politische Rede hielt. Die Briefe schickt sie nicht ab; sie liest sie ihrem Sohn vor und vermittelt ihm so, dass zu seiner Zeugung kein Mann nötig gewesen sei. Mit diesem Glauben lebt Percy. Er wird Krankenpfleger im psychiatrischen Landeskrankenhaus Scherblingen, wird gefördert von Professor Augustin Feinlein und eines Tages mit einem Fall betraut, an dem die Ärzteschaft fast verzweifelt. Es geht um einen Suizidpatienten, einen Motorradlehrer, der sich allen Therapieversuchen stumm widersetzt. Dieser Patient heißt: Ewald Kainz. Percy ist inzwischen berühmt, weil er keiner Weltvernunft zuliebe verzichtet auf die von der Mutter in ihn eingegangene Botschaft vom Kind ohne leiblichen Vater. Berühmt auch durch seine prinzipiell unvorbereiteten Reden. Das ist sein Thema: Ich sage nicht, was ich weiß. Ich sage, was ich bin. In «Muttersohn» fügen sich Bekenntnisse und Handlungen zu einem Roman des Lebens: empfindungsreich, ironisch und schwerelos zugleich.

Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Martin Walser starb am 26. Juli 2023 in Überlingen. 

Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Martin Walser starb am 26. Juli 2023 in Überlingen. 

I Dem Leben zuliebe


1.


Ewald, ich heiße Percy. Das sagte er, als er die Tür hinter sich zugemacht hatte. Ewald hatte auf sein Klopfen nicht geantwortet. Percy sagte, das verstehe er. In der Geschlossenen Abteilung an eine Tür zu klopfen und auf ein Herein zu warten, sei heuchlerisch, da doch der Klopfende den Schlüssel habe, mit dem die Tür aufzuschließen sei.

Ewald lag auf dem gemachten Bett. Er lag auf dem Rücken. Die Augen offen. Die rechte Seite seines Gesichts war rot, vernarbt, die rechte Hand auch. Diese rechte Hand lag auf Ewalds Brust. Sie hielt ein Handy. Das konnte nur heißen, dass er auf etwas wartete, was aus dem Handy kommen musste. Percy sagte: Ich setz’ mich auf den Stuhl an deinem Tisch. Dann schwieg er. Er wartete nicht, er schwieg. Plötzlich richtete sich Ewald auf, schlüpfte in die schwarzen Schuhe, die unter seinem Bett standen, und legte sich wieder hin und schaute zur Decke. Es war klar, er wollte nicht, dass ihn jemand ohne Schuhe sähe. Schwarze Schlüpfschuhe, schwarze Socken, schwarze Hose, schwarzes, langärmliges Hemd. Als Manschettenknöpfe goldgefasste rote Steine. Karneol, dachte Percy. Das Handy hatte Ewald beim In-die-Schuhe-Schlüpfen in der Hand behalten.

So blieben sie. Stumm. Zwei Stunden lang oder drei. Dann stand Percy auf, ging zur Tür, schloss auf und sagte: Ich will nicht, dass du dich wunderst. Ich bin mit allen per du, seit ich hier in der Pflegerschule war. Der Professor hat mich Latein lernen lassen. Da gibt es kein Sie. Seit dem sag ich zu allen du. Es ist dann immer, als spräche ich Latein. So ein Gefühl halt. Bis bald, Ewald.

Als Percy draußen war, drehte er den Schlüssel so leise wie möglich im Schloss.

Zwei Empfindungen waren Percy fremd: Furcht und Ungeduld.

 

An einem solchen Maitag, der das Grün zum Leuchten brachte, waren die Waldwege im Klinik-Areal belebt. Patienten mit ihren Angehörigen, Patienten ohne Angehörige. Einmal wurde Percy sogar mit einem lauten Zuruf begrüßt von einem Pfleger, der eine Gruppe von Patienten zu einem Termin führte. Percy grüßte zurück. Ihm war noch rechtzeitig eingefallen, dass das Alfons war. Einaug Alfons. Der war mit ihm hier auf der Pflegerschule ausgebildet worden. Vielleicht sieht man sich noch, hatte Einaug Alfons gerufen. Das hoff’ ich schwer, hatte Percy zurückgerufen und hatte daran gedacht, dass Alfons inzwischen ein Auge eingebüßt hatte. In einem Kampf mit einem Tobsüchtigen. Der Professor, der ihm das erzählt hatte, hatte gesagt, Alfons habe sich nicht gewehrt. Und dass er sich nicht gewehrt habe, sei inzwischen Alfons’ Wappen. Beide hatten, was sie riefen, mit winkenden Händen begleitet.

Als Percy dann den Brunnenplatz überquerte, der dem Klinik-Areal eine Art Zentrum liefert, wurde er gestoppt. Ein junger Mann, der auf dem niederen Brunnenrand gesessen hatte, sprang auf, trat Percy in den Weg, gab aber dann den Weg, den er gerade noch gesperrt hatte, mit großer Gebärde wieder frei und sagte: Bitte! An Friedlein Vogel ist bis jetzt noch jeder vorbeigekommen, also wird der Baron Schlugen keine Ausnahme machen wollen.

Etwas, was er gemacht oder bewirkt oder gesagt hatte, zu bedauern, lag Percy nicht. Nur wenn er dem Potpourri begegnete, das mit seinem oder mit seinen Namen veranstaltet wurde, spürte er, dass er während seiner mehrjährigen Wanderschaft durch die Pfarrhäuser und Anstalten zwischen Donau und Bodensee manchmal zu mitteilsam gewesen sein musste. Wenn es nicht die Pfarrköchinnen waren, müssen es Ärzte oder Pfleger im PLK gewesen sein, die seinem Ruhm allzu farbige Kränze flochten. Baron Schlugen? Er wusste schon nicht mehr, wem er erzählt hatte, dass seine Mutter hoffe, die Schlugen seien einmal adelig gewesen. Sie betrieb Ahnenforschung.

Der sich als Friedlein Vogel vorgestellt hatte, war mindestens eins neunzig und so hager, dass er, was er als Kleidung trug, bei weitem nicht ausfüllen konnte. Ein Kinn wie ein Schiffsbug und ein Adamsapfel, der mit der auch nicht gerade unbeträchtlichen Nase konkurrieren konnte.

Feierlich langsam holte er Papiere aus seiner Jackentasche, entfaltete sie und sagte:

Noch vor zwei Wochen hätte ich nicht auf Sie lauern können. In der Geschlossenen, wenn auch nur Stufe zwei. Seit einer Woche wird mir geglaubt, dass ich weder mich noch sonst jemanden umbringen werde. Vorerst. Mein Auftrag bleibt mein Auftrag, aber ich habe dem Pharmakonisten Dr. Bruderhofer klargemacht, dass von mir, solange ich null und nichts bin, keine Tat zu erwarten ist. Politisch ambitionierter Suizidkandidat, das haben sie mir hier als Etikett verpasst. Will ein Signal setzen! Aber was denen erst sehr mühsam klargemacht werden musste: Ein Signal setzen – was für eine eisenbahnerhafte Ausdrucksweise – kann ich nur, wenn ich der berühmte Schriftsteller bin, der zu werden ich zwar jede Fähigkeit habe, aber noch keine Aussicht. Zur geistigen Elite zu zählen, reicht nicht, wenn Sie einen historischen Erleuchtungsblitz beabsichtigen. Intelligenzquotient 147 und im Sprachbereich 180. Inzwischen haben elf Verlage meine Manuskripte abgelehnt. Die Ablehnungsschreiben bewiesen mir durch ihre zum Himmel schreiende Syntax der Inkompetenz, wie gut meine Manuskripte sind. Dass ich keinen literarischen Ehrgeiz habe, sondern eine historische Mission, das geht in diese Feuilletonbirnen nicht hinein. Die amerikanische Führungsclique muss begreifen, dass man heute Frieden nicht per Krieg schafft. Und diese kriegslüsterne Clique wird nicht aufhören, wenn sich nicht ein Schriftsteller vor dem Weißen Haus verbrennt, ein Schriftsteller von säkularem Rang. Seit ich das verlautbarte, werde ich von CIA und MOSSAD verfolgt. Das Bundesinnenministerium, das ich fünfzehnmal um Personenschutz gebeten habe, reagiert nicht. Natürlich nicht. CIA und MOSSAD, das sind Komplizen. Von Krieg zu Krieg haben wir uns daran gewöhnt, dass der Krieg zum einzigen Problemlöser geworden ist. Zuerst schaffen wir Probleme, dann lösen wir sie per Krieg. Natürlich machen wir mal Witze über diesen und jenen US-Präsidenten. Einer immer noch simpler als der andere. Bald müssen wir uns für unsere Hohenzollern nicht mehr genieren. Widerstand ist in der Fernseh-Klamottenkiste verschwunden. Artikel 20,4 Grundgesetz interessiert nur noch Spinner. Wie mich, zum Beispiel. Wenn CIA und MOSSAD mich verschwinden lassen, interessiert das keinen. Wenn ich als epochemachender Autor mich vor dem Weißen Haus verbrenne, bleibt dem US-Koloss die Spucke weg. Ein Weltautor, Nobelpreiskandidat, verbrennt sich vor dem Weißen Haus. Und ich handle, mich verbrennend, so egoistisch wie alle anderen auch. Plato: Der Mensch kann sein Interesse nur dann zu seinem Wohl wahrnehmen, wenn er zugleich die Interessen seiner Mitmenschen bedenkt. Quelle, wo’s steht, wird auf Wunsch nachgereicht. Jetzt, was schreibe ich jetzt, um meine Mission zu erfüllen? Gedichte. Ich les’ Ihnen das allerneueste Gedicht vor, dass Sie wissen, was auf dem Spiel steht. Und las:

Ich bin der göttliche Gedanke,

im Weltdekor die geilste Ranke.

Ohne mich wäre das Ganze

ein Blumentopf ohne Pflanze.

Dann fragte er: Soll ich noch?

Percy sagte: Ich bitte darum.

Der:

Ich habe mich getrennt von dir,

dass dir’s nicht gehe wie mir,

die Einsamkeit ist aus schwarzem Eis,

aber die Westen der Herrn strahlen weiß.

Er faltete das Papier, reichte es Percy und sagte: Wie finden Sie die Idee, dass ich es jetzt mit Gedichten versuche?

Ich beneide dich, sagte Percy.

Wissen Sie, sagte der Hagere, ich bin auf das Gedicht gekommen, als ich erkannt habe, es gibt überhaupt keine schlechten Gedichte. Ein Gedicht sagt immer schon alles. Und das auf kleinem Raum. Das hat mich angezogen. Wer glaubt, es gebe schlechte Gedichte, ist ein Halsabschneider oder Folterknecht oder Stiefellecker. Adieu. Und stoppte noch einmal. Wenn er gelogen habe, könne er nicht mehr gehen, ohne zu befürchten, dass er gleich stürze. Lügen ruiniert bei mir den Gleichgewichtssinn. Also sage ich Ihnen jetzt noch, dass ich gerade gelogen habe. Nicht aus irgendeinem im Moralischen beheimateten Reinheitsdrang gestehe ich das, sondern, weil ich eben, wenn ich gelogen habe, stolpere und stürze. Und das war die Lüge: Dass es überhaupt keine schlechten Gedichte gibt, das habe nicht ich erkannt, sondern Innozenz der Große. Wer denn sonst! Übrigens: Er will meine Gedichte unbedingt in seine Scherblinger Anthologie aufnehmen. Ich will aber erst in eine Anthologie, wenn ich ein Buch habe, ganz allein, für mich. Ein Buch, das ist eine Säule, auf der du stehen kannst, sichtbar der Welt. Adieu. Und ging und blieb noch einmal stehen und sagte: Ich brauche Zeugen. Für meinen letzten Auftritt. Kann ich mit Ihnen rechnen?

Immer, sagte Percy.

Danke, sagte der und ging.

Percy hörte, dass der jetzt summte.

Percy fühlte sich aufgenommen, ohne zu wissen, wo und von wem. Muss man auch nicht wissen, dachte er. Besonders, wenn man sich wohlfühlt. Bei ihm ging Wohlgefühl immer in die Beine. Er warf die Füße voraus, die Fußspitzen fast grotesk nach außen...

Erscheint lt. Verlag 15.7.2011
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Erzählfragmente • Gedankenexperiment • Geheimnis • Glauben • Gottes Sohn • Mysterium • Perspektiven • Psychiatrie • Religion
ISBN-10 3-644-01241-5 / 3644012415
ISBN-13 978-3-644-01241-7 / 9783644012417
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