Kälte-Pop (eBook)

Die Geschichte des erfolgreichsten deutschen Popmusik-Exports

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
672 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-124735-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kälte-Pop - Florian Völker
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Am Ende der 1970er Jahre entstand ein ästhetisch-subjektkulturelles Konzept in der deutschsprachigen Pop-Musik, das alles 'Kalte' affirmierte: 'Kälte-Pop'. Bands wie Kraftwerk, DAF und Einstürzende Neubauten entwickelten als Gegenentwurf zum pop- wie gegenkulturell hegemonialen Wärme-Kult ein System von Motiven und Strategien, das all jene Zeichen und Prozesse der (Post-)Moderne ästhetisierte und glorifizierte, die in der bundesdeutschen Gesellschaft und vor allem im linksalternativen Milieu als negative Aspekte einer vermeintlich kalten Welt interpretiert wurden: Gefühlslosigkeit und Dehumanisierung, Industrie und Großstadt, Künstlichkeit und Entfremdung, Disziplin und körperliche Funktionalität, Schnee und Eis, Beton und Stahl sowie Computer, Maschinen und Roboter. Dabei schlugen die 'Kälte'-Akteur:innen eine Brücke zu den Historischen Avantgarden der 1920er Jahre und inszenierten sich stereotypisch als 'kalte Deutsche'. Die Arbeit analysiert unter Einbeziehung der transnationalen Verknüpfungen die 'Kälte-Welle' (1978-1983) in der deutschen Pop-Musik, ihre Bildwelten und Codes, historischen Bezüge und Rezeption, das historische Umfeld ihrer Entstehung sowie nachfolgende Erscheinungsformen 'kalter' Musik, die sich bis heute in der internationalen Pop-Musik und bei Acts wie Rammstein zeigen.

Florian Völker, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam.

2 Die Geburt des ‚Kälte-Pop‘: Vorgeschichte und Gestalt eines ästhetisch-kulturellen Konzepts


Abb. 1: Ralf Hütter und Florian Schneider auf dem Cover der Sounds (UK) vom 26.11.1977.

Gepflegte Kurzhaarfrisuren, die Kleidung in schwarz-weiß gehalten, die Hemden unter den Krawatten säuberlich zugeknöpft, die Gesichter ohne jede emotionale Regung: Ralf Hütter und Florian Schneider heißen die beiden jungen Herren, die hier am kargen Ufer des Rheins, die berühmte Stahl-Beton-Struktur der Rheinkniebrücke im nebelverhangenen Hintergrund, für das Frontcover der britischen Musikzeitschrift Sounds posieren und dabei jede gängige Rockstar-Pose vermissen lassen (Abb. 1). Weitaus bedeutender noch als die Darstellung der beiden Kraftwerk-Köpfe, die sich auf dem Cover und im dazugehörigen Interview1 ihre neusachliche und technik-positivistische Philosophie umfassend präsentieren durften, ist der Titel dieser Sounds-Ausgabe: „New Musick. The Cold Wave“.

Hier, Ende des Jahres 1977, zwischen Kraftwerks futuristisch-neusachlicher Hymne an die durch Europa rollende Zugmaschine (Trans Europa Express, 1977) und ihrem konstruktivistischen Manifest Die Mensch·Maschine (1978), wird die ‚Kälte-Welle‘ am Horizont erstmals sichtbar. 1979 erreichte sie den bundesdeutschen Popstrand und zog sich erst 1982 wieder zurück. Tatsächlich war diese ‚Kälte-Welle‘ aber nur Teil einer ganzen Reihe von Wellen, die nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in Resteuropa und Nordamerika wie eine Flut über die Popkultur hereinbrachen. In diesen vier Jahren entstanden unzählige neue Bands, pop- und subkulturelle Szenen, mediale Plattformen und Musikstile, die sich alle der New Wave bzw. dem Post-Punk zurechnen lassen. Die bundesdeutsche Bewegung, gemeinhin unter dem Oberbegriff „Neue Deutsche Welle“ gefasst, bildete wiederum den Ausgangspunkt für den ‚Kälte-Pop‘. Um dessen Gestalt und Wirken zu verstehen, ist es zunächst notwendig, die NDW-Bewegung hinsichtlich ihrer Grundcharakteristiken, Strukturen, Rahmenbedingungen, Protagonist:innen und internen Prozesse zu untersuchen, wobei der Fokus stets auf dem in der NDW entwickelten ‚Kälte-Pop‘ gerichtet bleibt. Beschränkt wird der Blick auf die NDW-Bewegung durch dieses Vorgehen keineswegs, denn wie sich zeigt, ist der ‚Kälte-Pop‘ nicht einfach ein Teilphänomen innerhalb der NDW-Bewegung, sondern Ausdruck einer über Stilgrenzen hinweg wirksamen, sich radikal wandelnden Wahrnehmung, Ästhetik und Haltung zur Welt, Gesellschaft, Popkultur und dem eigenen Subjekt. Die NDW-Bewegung ist untrennbar mit der in ihr entwickelten ‚Kälte‘ verflochten.

Einleitend widmet sich das Kapitel der NDW selbst, auch in Abgrenzung zu verwandten Bewegungen und Strömungen, und gibt einen Einblick in ihre Gestalt, in die lokalen Szenen und Labels sowie in die verschiedenen künstlerischen Wirkungsfelder. Anschließend zeichnet die Untersuchung die Wurzeln des ‚Kälte-Pop‘ nach, die bis zu den historischen Avantgarden der Zwischenkriegszeit zurückreichen und in den unterschiedlichen Ausprägungen der „New Musick“ konkrete Gestalt annahmen. Darauf folgt eine Aufschlüsselung der Bedeutung der deutschen Sprache und der Performance ‚des Deutschen‘ für die Bewegung und Entwicklung des ‚Kälte-Pop‘. Den Abschluss macht eine Analyse der Wirkmacht jener als ‚78er‘ betitelten Subjektkultur, die hinter der philosophischen, weltanschaulichen und politischen Ausgestaltung der NDW-Bewegung steht. Dafür wird der Einfluss und die Wirkmacht der szenenahen Musikpresse und einzelner Journalist:innen auf die Entwicklung und Gestalt der NDW veranschaulicht und die politische Neuausrichtung der ‚78er‘ innerhalb der linksalternativen Gegenkultur reflektiert. Wie sich zeigt, lag dem ‚Kälte-Pop‘ der NDW-Musiker:innen keine willkürliche Motivwahl zugrunde, sondern ein subjektkulturelles Programm, das nicht weniger als die Umwertung gesamtgesellschaftlich wie gegenkulturell hegemonialer Normen, Ideale und Verhaltensweisen bedeutete.

2.1 Neue Deutsche Welle(n)


„Es war wie bei einem Vulkanausbruch in der Arktis: Alles war gleichzeitig da, Glut und Eis, eine Menge Lärm, und alles reagierte blitzartig aufeinander. Punk war das Brennende an der Bewegung, die Neue Welle der kühle, elegante Rand.“2 So erinnerte sich der zur Düsseldorfer NDW-Szene gehörende Schriftsteller Peter Glaser an die Geburtsstunde der Bewegung im Jahr 1979. Anschaulich verdeutlicht Glasers Beschreibung die Gleichzeitigkeit konträrer Extreme, die jene schon zeitgenössisch unter dem Label „Neue Deutsche Welle“3 subsumierten Musiker:innen hervorbrachten. Ob Punk-Rock und Ska, Dialekt-Rock, Pop-Rock und Neo-Schlager, Electro- und Minimal-Pop, Post-Punk und Prä-Dark-Wave, Industrial, EBM und avantgardistische Noise-Collagen, oder eklektische Stilmixe, die sich jeder Kategorisierung entzogen: Nahezu alles, was deutsch sprach, zwischen 1979 und 1983 in Erscheinung trat und nicht bereits zuvor in der bundesdeutschen Musikwelt etabliert war (wie Kraftwerk, Udo Lindenberg und Nina Hagen), wurde und wird vom Großteil der Medienvertreter:innen und Forscher:innen – und zum Leidwesen der Musiker:innen – unter dem Oberbegriff „Neue Deutsche Welle“ bzw. „NDW“ zusammengeworfen. Wenig überraschend sind diesem NDW-Modell folgend nicht nur die in den Songtexten behandelten Themen und verwendeten Motive vielfältig, sondern auch die dahinterstehenden Strategien und der künstlerische wie philosophische Anspruch.

Dennoch zeichnet die NDW-Bewegung selbst bei einem engen definitorischen Rahmen, der ausschließlich die Akteur:innen der Strömungen Post-Punk und der New Wave umfasst, eine stilistische Heterogenität aus, die sie mit den angloamerikanischen Vorbildern teilte. Auch in der Bundesrepublik basierte diese Vielfalt auf dem Umstand, dass sich die Bewegung aus verschiedenen, zeitgleich entstandenen, lokalen Szenen zusammensetzte, die auf jeweils eigenen musikalischen Einflüsse bauten und unterschiedliche subjektkulturelle Ansprüche verfolgten. Damit spiegelt die NDW zugleich die beschleunigten Pluralisierungsprozesse der bundesdeutschen Gesellschaft dieser Jahre auf popkultureller Ebene wider. Wie die Historikerin Annette Vowinckel zu Recht feststellt, kann daher „kaum von einer Neuen Deutschen Welle die Rede sein“, handelt es sich hierbei doch vielmehr um verschiedene Teilphänomene, die auch heute noch unter dem NDW-Label firmieren.4 Entsprechend der auffälligen Parallelen zwischen den historischen Avantgarden und den unterschiedlichen Strömungen der New Wave ist also bereits hier einzuschränken: So wie nicht alle Vertreter:innen der Neuen Sachlichkeit ‚Kälte‘-Motive einsetzten oder die Lehren der ‚Kälte‘ verinnerlicht hatten, trifft dies auch nicht auf alle deutschsprachigen New-Wave- und Post-Punk-Künstler:innen zu. Ziel dieses Kapitels ist es daher nicht, erneut alle stilistischen Ausformungen aufzuzeigen, die gemeinhin als „NDW“ bezeichnet werden, sondern die für die Entwicklung und Ausgestaltung der ‚Kälte-Welle‘ relevanten Rahmenbedingungen, Teilphänomene, Szenen und Akteur:innen zu bestimmen.

Verortung und Kategorisierung


Hierfür ist eine Ausdifferenzierung der unter dem NDW-Begriff zwangsaddierten Strömungen mitsamt ihrer eigenen Ästhetiken, Codes und Praktiken notwendig. Dadurch soll insbesondere ein Reproduzieren der verbreiteten kulturhistorischen Einordnungen der NDW vermieden werden, die zumeist auf der retrospektiven Vermischung dieser verschiedenen Strömungen und Szenen beruhen. Statt also die tatsächlichen Post-Punk- und New-Wave-Künstler:innen, Punk-Rock-Bands (wie PVC, Male, ZK und Hans-A-Plast) sowie die szeneexternen ‚Wellenreiter‘ der frühen 1980er Jahre (wie Nena, Joachim Witt und Peter Schilling) als pop- und soziokulturelle Einheit zu begreifen, steht im Folgenden der NDW-Begriff ausschließlich für die deutschsprachigen Vertreter:innen des Post-Punk und der New Wave.

Welche Probleme bei einer undifferenzierten Vermengung von Punk, NDW und Post-NDW-Strömungen auftreten, bezeugt der Großteil der bisher zum Thema erschienenen Beiträge. Fraglos kann etwa festhalten werden, dass die NDW – wie eigentlich jede popkulturelle Strömung – Ausdruck und zu einem gewissen Grad „Spiegel ihrer Zeit“5 war, nicht zuletzt aufgrund ihrer thematischen Fokussierung auf Alltagsphänomene und individuelle Lebens- wie Erfahrungswelten. Wiederkehrende Themen in den Songtexten von NDW-Gruppen waren etwa die Konsumkultur, das moderne Leben vor dem Hintergrund einer (post-)industriellen und urbanen Kulisse, der technologische Fortschritt mitsamt seiner Exponate und schließlich auch zwischenmenschliche Beziehungen. Je nach Strömung und Stil stellten die NDW-Musiker:innen ihre Haltung zu diesen Aspekten als affirmativ, subtil kritisch und/oder gebrochen dar, gemein war ihnen allen jedoch, dass sie diese Themen in einem dokumentarisch-neusachlichen Gestus zur Sprache brachten. Pauschal als Ausdruck einer Krisenzeit, genauer als kritische Antwort auf...

Erscheint lt. Verlag 24.10.2023
Zusatzinfo 9 b/w and 47 col. ill.
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Musik
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte Kältepop • Kraftwerk • Neue Deutsche Welle • Rammstein
ISBN-10 3-11-124735-X / 311124735X
ISBN-13 978-3-11-124735-9 / 9783111247359
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