Total irre (eBook)

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2024 | 1. Auflage
100 Seiten
TULIPAN VERLAG
978-3-641-32922-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Total irre -  Jutta Nymphius
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'Karlis Familie ist eine echte Vollkatastrophe: Seine Mutter isst Unmengen an Haferkeksen, während sie lauter nutzlose Sachen erfindet, die sowieso nie funktionieren, sein Vater sitzt im Rollstuhl, möchte aber unbedingt an einem Rennen teilnehmen, was nur oberpeinlich enden kann, und seine Patentante ist sich nicht sicher, ob sie ein Mann oder eine Frau ist. Als Karli auf einer Schulparty dann noch Jona kennenlernt, die so super tanzen kann, sich aber als gehörlos herausstellt, reicht es ihm: Könnte er es einfachmal mit normalen Menschen zu tun haben? Gott sei Dank gibt es Robin, Karlis besten Freund. Der ist so normal, wie man es nur sein kann: bestes, leistungsförderndes Elternhaus, hervorragende Noten, pünktlich, zuverlässig und überhaupt ein prima Kumpel. Doch als ausgerechnet Robin eine Zwangsstörung entwickelt, wird Karlis Welt endgültig auf den Kopf gestellt ... »Mit ihrer Fähigkeit, absolut glaubhaft die Welt aus den Augen eines pubertierenden Jungen zu beschreiben und diese Welt zugleich mit allerhand vermeintlichen Hindernissen auszustatten, die sich später als nichts anderes als die Realität herausstellen, die viel zu komplex ist, als dass sie allgemeinen Regeln entsprechen könnte, hat uns Jutta Nymphius begeistert.« Aus der Laudatio der Jury zum Hamburger Literaturpreis • Vorab bereits ausgezeichnet mit dem Hamburger Literaturpreis 2021 in der Kategorie Kinder- und Jugendbuch • Eine rabenschwarze Komödie zum Thema: Was ist schon normal? • Temporeich, einfühlsam und urkomisch erzählt von Jutta Nymphius Auf der Shortlist des Literaturpreises ''Der Vielfalter - für Diversität im Kinder- und Jugendbuch 2023'' Ausgezeichnet mit dem Hamburger Literaturpreis 2021'

Jutta Nymphius arbeitete lange Zeit als Lektorin für Kinder- und Jugendbücher, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie setzt sich im besonderen Maße für die Leseförderung ein und ist Mitbegründerin der »Elbautor*innen«. Jutta Nymphius lebt in Hamburg

Junge Wilde


Frischlinge bilden nach ihrer Geburt sofort einen richtigen Schweinehaufen. Zwei bis drei Wochen bleiben sie aneinander gekuschelt in einer Bodenmulde im Wald liegen, wo man sie wegen ihrer Fellzeichnung kaum erkennen kann. Denn die Welt ist hungrig, und nichts wäre gefährlicher, als Aufmerksamkeit zu erregen.


Fasziniert starre ich auf diese Worte, so klein und unauffällig und doch mit der Wirkung eines Martinshorns, das direkt hinter dir eingeschaltet wird. Ja, die Welt ist hungrig, genau so ist es, genau so fühle ich mich in letzter Zeit! Wie ein hilfloses Opfer, ausgesetzt in einer Wildnis voller Gefahren, umkreist von zähnefletschenden Raubtieren, meist in Gestalt von Lehrern und Mädchen.

Gebannt richte ich mich auf, um den ganzen Artikel der Zeitschrift Fun und Facts, die ich mir regelmäßig von Mamas Nachttisch mopse, zu lesen. Er trägt die Überschrift: Junge Wilde – Was wir von der Tierwelt übers Erwachsenwerden lernen können. Und dann kommt es: Allgemeine Regeln sind in der Naturwissenschaft gefährlich, aber keine ist sicherer als die, dass es einem Tier selten nützlich ist, aufzufallen. Und die einfachste Art, unauffällig zu sein und nicht bemerkt zu werden, ist die Entwicklung von Farbtönen und Muster der natürlichen Umgebung.

Genau in diesem Moment dringen aus der Küche unheilvolle Geräusche. Ein Surren, ein Dröhnen, ein Quietschen. Dann, plötzlich, ein Poltern, gefolgt von Flüchen und Schreien.

»Au, verdammt!«

»Warte, noch nicht!«

»Hilfe!«

Stöhnend lasse ich mich wieder in die Kissen fallen. Die Geräusche aus der Küche nehmen zu. Inzwischen klingt es, als hätte eine hyperaktive Abrissbirne ihre Arbeit aufgenommen. Unwillkürlich strecke ich eine Hand aus, um zu prüfen, ob schon Putz von der Decke rieselt. Nein, das zwar noch nicht, aber ansonsten muss ich auf alles gefasst sein, das ist mir klar. Bestimmt hat sich Mama wieder etwas ganz Besonderes einfallen lassen, um Papa »den Alltag zu erleichtern«. Die komplette Wohnung ist voll von diesen genialen Einfällen, die leider allesamt einen klitzekleinen Nachteil haben: Sie funktionieren nicht.

Unter mir knistert es. Aus Versehen habe ich mich auf den Brief gelegt, den ich Mama und Papa eigentlich heute in einem besonders günstigen Moment geben möchte. Da lässt ein plötzliches Krachen aus der Küche die Seiten meiner Zeitschrift erzittern. Jetzt jedenfalls ist kein sehr günstiger Moment, soviel steht fest.

Zusätzlich sind Tiere sicherer, wenn sie sich in einer Gruppe aufhalten, denn schließlich kann der Beutegreifer nicht alle gleichzeitig fressen. Die Schutzwirkung für die Individuen in dieser Gruppe ist enorm groß – insbesondere für die jüngeren Mitglieder.

In der Küche wird jetzt so laut gebohrt, dass mir die Vibration sogar hier auf meinem Bett noch in den Ohren kitzelt.

Schwarz auf weiß steht es da: Wenn man nicht gefressen werden will, muss man unauffällig bleiben und sich anpassen. Und die Gruppe, in der man lebt, bietet den besten Schutz.

Und was ist, wenn diese Gruppe selbst so unauffällig ist wie eine Orchidee in einem Schweinetrog?

»Karliiiiii«, schreit jemand. »Karliiiiii, komm mal her!«

Jetzt kann ich die Küchen-Apokalypse nicht mehr ignorieren. Seufzend schwinge ich meine Beine aus dem Bett und stehe auf. Kurz zögere ich, aber dann greife ich mir doch noch den Brief und gehe in den Flur.

Der ist merkwürdig dunkel. Ach so, Mama steht im Türrahmen und füllt ihn mit ihrer massigen Gestalt fast komplett aus. Nur ein einziger, winziger Lichtstrahl quetscht sich schüchtern vorbei. »Ohne meine Haferkekse kann ich nicht nachdenken«, behauptet Mama immer, »und außerdem ist Hafer gesund.« Ob die mit dicker Schokolade überzogene Keksseite auch so gesund ist, wollte ich sie schon immer mal fragen. Außerdem denkt Mama für meinen Geschmack entschieden zu viel nach. Andere Mütter machen Yoga.

Als sie jetzt meine Schritte hört, dreht sie sich um und geht ein Stück zur Seite. »Guck mal, ich habe etwas Neues konstruiert«, verkündet sie strahlend.

Auweia. Zögernd betrete ich die Küche. Dort sitzt Papa, mit ausgestrecktem Arm hält er eine Fernbedienung. Hoffentlich verwechselt er die nicht mit seinem Smartphone, mit dem er angeblich den kompletten Haushalt vollautomatisch steuern kann, schießt es mir kurz durch den Kopf. Als Papa mich jetzt anschaut, sehe ich in seinem Gesicht das gleiche glückliche Strahlen wie bei Mama. Eines der größten Rätsel der Menschheit ist nicht, wie die Skulpturen auf die Osterinsel kamen oder wer denn nun wirklich Jack the Ripper war, sondern, woher meine Eltern immer diese unerschütterliche Zuversicht nehmen. Vor allem, wenn es um Mamas Erfindungen geht.

»Kann ich?«, fragt Papa mit einer Stimme, als würde er gleich zur Weihnachtsbescherung rufen.

Da klingelt es an der Wohnungstür. »Ich mach schon auf«, rufe ich eifrig, drehe mich rasant auf dem Absatz um und spurte aus der Küche, froh, dem Unheil noch einmal entronnen zu sein, und sei es auch nur für wenige Minuten.

»Hallöchen«, erklingt es überaus gut gelaunt, kaum dass ich die Wohnungstür geöffnet habe.

»Hallöchen, Holger«, gebe ich weniger gut gelaunt zurück. Ich weiß natürlich genau, dass mein Patenonkel Holger seinen Vornamen nicht ausstehen kann. Überhaupt kann er einiges an sich nicht ausstehen, was genau, weiß er bisher aber selbst nicht. »Ich probiere mich noch aus«, erklärt er immer. Leider probiert er sich sehr häufig bei uns zu Hause aus, obwohl er doch angeblich nur kommt, um Papa »zur Seite zu stehen«. Aber meist hat er dann mindestens ein neues Kleidungsstück an, das wir bestaunen sollen: ein Glitzer­jäckchen, einen Samtrock, Lackschuhe, so etwas. Auch wünscht er sich immer mal wieder einen anderen Namen, mit dem wir ihn anreden sollen.

»Nenne mich doch Maria«, stellt Onkel Holger auch jetzt hastig klar, als er noch im Flur seine Jacke von sich wirft und sich stolz in einer silbernen Bluse mit Puffärmeln präsentiert. »Wie findest du mich?«

»Kann ich jetzt endlich anfangen?«, ruft Papa ungeduldig herüber.

Onkel Holger ist vielleicht seltsam, aber nicht blöd. Sofort erstarrt er und guckt mich entsetzt an. »Oh Gott, hat sie wieder etwas gebaut?«, fragt er flüsternd. Und als ich düster nicke, streicht er mir tröstend über die Wange, nimmt dann gefasst Haltung an und marschiert los in Richtung Küche. »Na, dann wollen wir mal!«

Mama guckt Onkel Holger fragend an. »Hallo …?«

»Maria«, erwidert er lächelnd.

»Hallo, Maria«, wiederholt Mama. Dann breitet sie schwungvoll ihre mächtigen Arme aus. Da sie aber in einer Hand noch die Bohrmaschine hält, muss Papa in seinem Rollstuhl schnell den Kopf einziehen, um nicht ausgeknockt zu werden. »Ihr werdet jetzt Zeuge einer einzigartigen Erfindung. Dieser Küchenschrank wird sich auf Knopfdruck nicht nur absenken, sondern auch noch öffnen. Und dann …«, an dieser Stelle hebt Mama den Zeigefinger, »… werden sich zusätzlich die Schienen mit den Regalböden ausfahren, damit Sascha«, bei diesen Worten tätschelt sie Papa liebevoll die Wange, »die Teller ganz leicht herausholen kann.«

Beifall heischend dreht sie sich zu mir und Onkel Holger herum. Der lächelt tapfer und hebt ein wenig kraftlos den Daumen, während ich es einfach nicht schaffe, meinem Blick Optimismus zu verleihen. »Und was war das die ganze Zeit für ein Lärm?«, frage ich vorsichtig nach.

»Ein kleiner Fehlversuch«, erwidert Mama und wischt mit der Bohrmaschine eventuelle Bedenken beiseite, wobei Papa, jetzt schon geübt, sehr geschickt ausweicht. »Das gehört doch dazu!«

Erfolge aber auch, will ich gerade einwenden, aber da verkündet Papa schon: »Es geht los!«

Eine Familie muss nun mal zusammenhalten, auch in schwierigen Zeiten. Also fügen Onkel Holger und ich uns und starren gemeinsam mit Mama und Papa auf den Küchenschrank. Das gleiche Surren wie vorhin ertönt, dann ein leises Klicken. Jetzt beginnt der Schrank tatsächlich seine Reise nach unten. Auf Papas Brusthöhe macht er halt. Wie von Geisterhand öffnen sich die Türen geschmeidig und geben den Blick auf einige Stapel Teller frei – die guten von Oma Uschi, die wir eigentlich nur zu Weihnachten nehmen. Onkel Holger neben mir zuckt zusammen, er liebt diese Teller wegen ihres Goldrandes ganz besonders. Jetzt rumpelt es, der Schrank erzittert und entlockt den Tellern ein leises Klirren. Nun fehlt nur noch der Clou: die herausfahrbaren Schienen, die die Regalböden tragen. Ich kann nicht anders, ich halte den Atem an, greife die Hand meines Onkels und drücke sie aufgeregt. Der Clou ist immer das Gefährlichste an Mamas Konstruktionen.

Nichts tut sich. Papa drückt hektisch auf der Fernbedienung herum und dann wird das Wunder doch noch wahr: Zart summend beginnen die silbernen Metallschienen nach vorn auszufahren und mit ihnen die Böden samt Tellern! Jubelnd streckt Papa seine Arme aus, um das Geschirr so triumphal zu empfangen wie das Volk Jesus bei seinem Einzug in Jerusalem.

Doch kaum haben sich die Schienen zu voller Länge ausgefahren, beginnen sie seltsam zu zittern, erst leicht, dann immer stärker. Vielleicht hätte Mama doch nicht das komplette Geschirr von Oma Uschi daraufladen sollen. Ein kurzes, drohendes Knirschen, dann stürzt alles mit lautem Gedonner in die Tiefe. Aus dem riesigen Scherbenhaufen am Boden blinkt hier und da...

Erscheint lt. Verlag 1.8.2024
Illustrationen Irmela Schautz
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte 2024 • ab 10 • ab 12 • Behinderung • eBooks • Familie • Freundschaft • Neuerscheinung • Pubertät • Selbstwert • verrückte Familie • Zwangsstörung
ISBN-10 3-641-32922-1 / 3641329221
ISBN-13 978-3-641-32922-8 / 9783641329228
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