Belle und Sébastien (eBook)
256 Seiten
Atlantis Kinderbuch (Verlag)
978-3-7152-7017-3 (ISBN)
Cécile Aubry, geboren 1928 als Anne-José Bénard in Paris, wurde zur Tänzerin ausgebildet und begann mit zwanzig Jahren eine kurze, aber glamouröse Karriere als Schauspielerin, die sie bis nach Hollywood führte. Ihre Arbeit vor der Kamera gab sie bald auf, um sich dem Schreiben von Kinder- und Jugendbüchern zu widmen. »Ich habe schon von klein auf Geschichten erfunden. Die waren nicht immer für Kinder, aber was mich am meisten interessiert, ist das Erzählen über Kinder, die sich in außergewöhnlichen Situationen befinden, wie Sébastien.« Aubry schrieb rund fünfzig Kinder- und Jugendbücher, darunter die bekannte Kinderbuchreihe »Belle und Sébastien«, die Aubry selbst fürs Fernsehen adaptierte, mit ihrem Sohn Mehdi El Glaoui in der Hauptrolle. Sie starb 2010 in Dourdan in der Nähe von Paris.
Cécile Aubry, geboren 1928 als Anne-José Bénard in Paris, wurde zur Tänzerin ausgebildet und begann mit zwanzig Jahren eine kurze, aber glamouröse Karriere als Schauspielerin, die sie bis nach Hollywood führte. Ihre Arbeit vor der Kamera gab sie bald auf, um sich dem Schreiben von Kinder- und Jugendbüchern zu widmen. »Ich habe schon von klein auf Geschichten erfunden. Die waren nicht immer für Kinder, aber was mich am meisten interessiert, ist das Erzählen über Kinder, die sich in außergewöhnlichen Situationen befinden, wie Sébastien.« Aubry schrieb rund fünfzig Kinder- und Jugendbücher, darunter die bekannte Kinderbuchreihe »Belle und Sébastien«, die Aubry selbst fürs Fernsehen adaptierte, mit ihrem Sohn Mehdi El Glaoui in der Hauptrolle. Sie starb 2010 in Dourdan in der Nähe von Paris.
1
Niemand hatte die Frau beachtet, die durch Saint-Martin hastete. Wer hätte denn auch ahnen können, dass sie hinauf zum Pass wollte? Sie war gekleidet wie eine Gitana. Ihre Halbschuhe waren durchlöchert. Der lange Schal, der ihr vom Kopf bis zur Hüfte reichte, war ihr einziger Schutz vor der eisigen Kälte. Seit dem frühen Morgen regnete es ununterbrochen. Wer draußen noch etwas zu tun hatte, lief mit gesenktem Kopf durch die Straßen des Dorfes, um schnell wieder ins Trockene zu gelangen. Bei einem so furchtbaren Januarwetter gab es hier nichts zu sehen, niemand hob den Blick.
Gegen Mittag drehte sich der Wind und brachte Schnee mit sich. Am Ortsausgang nahm die Frau die Abkürzung, die zur Schutzhütte des Berges Baou und zur Grenze führt. Auf dem üblichen Weg wäre sie am Steinhaus des alten César vorbeigekommen, und dort hätte Angelina sie bestimmt bemerkt. Der Anblick der so notdürftig gekleideten Frau, die ganz allein zum Baou hinaufstieg, hätte Angelina sicher tief bewegt. Sie hätte die Frau aufgefordert, sich bei ihr in der Stube am Feuer aufzuwärmen und auf besseres Wetter zu warten. Ja, Angelina hätte sie gerne aufgenommen, sie und das Kind, das sie sehr bald zur Welt bringen würde. Doch die Frau eilte die Abkürzung hinauf. Schon bald erfasste sie der Schnee. Der weiße, lautlose Feind umschloss sie ganz in seiner unerbittlichen Sanftheit.
Mühsam schleppte sie sich weiter. Der Sturm brachte sie ins Taumeln. Bei jedem Schritt sank sie bis zu den Knien ein. Langsam ließen ihre Kräfte nach. Wieder und wieder raffte sie sich auf und wollte weiter. Wohin? Das sollte niemand je erfahren. In der Nähe der steinernen Schutzhütte am Fuße des Baou sank sie ein letztes Mal ein. Sie war nur noch ein kleiner schwarzer Fleck in dieser unendlichen weißen Landschaft.
Johannot und Berg, die beiden Zöllner, kehrten gerade von ihrem Kontrollgang zurück. Schon seit Jahren hatten sie gemeinsam Dienst, und so waren aus ihnen gute, aber immer noch sehr verschiedene Freunde geworden. Berg war klein und dünn und hatte ein schmales Gesicht, aus dem zwei wasserblaue Augen schauten. Seine Bissigkeit ärgerte den großen und ruhigen Johannot schon lange nicht mehr. Johannot war der Ältere von den beiden.
»Eine Frechheit, dass sie uns bei diesem Wetter auf Patrouille schicken! Man sieht ja keine zehn Meter weit!«, murrte Berg.
Johannot zuckte schicksalsergeben mit den Schultern. »Dienst ist Dienst«, meinte er nur.
Er sprach wenig, und wenn, dann nur in kurzen, eindeutigen Sätzen. Mit dem Kopf deutete er auf einen grauen Schatten, der durch das dichte Schneegestöber auf sie zuschritt. »Sieht aus wie César, da drüben!«
Jetzt wurde der Schatten deutlicher.
»He, César!«, rief Johannot. Obwohl es auf der Hand lag, fügte er hinzu: »Was für ein Sauwetter!«
César blieb neben den beiden stehen. Er mochte Johannot gern. Nur selten konnte er jemanden gut leiden. »Das beste Wetter für die Fuchsjagd«, erklärte er.
Seine grauen Barthaare verrieten, dass er ein alter Mann war, aber er war so zäh, dass er jünger wirkte. Auch sein nachdenklicher und kühner Blick gab sein richtiges Alter nicht preis. Man hätte ihn auf Ende vierzig geschätzt, in Wirklichkeit war er aber schon über sechzig.
»Immer noch auf der Jagd?«, fragte Berg und deutete auf das Gewehr des alten Mannes.
»Nein, nein! Heute gehe ich nur spazieren!«, antwortete César.
Voller Abscheu blickte Berg über die endlos scheinende Schneedecke und durch die weißen Flocken, die sich vor dem dunkelgrauen Himmel deutlich abzeichneten. »Jeder, wie er will«, sagte er. Es klang aber eher wie: »Verrückter Alter, scher dich zum Teufel mit deiner unbeirrbaren Liebe zu den Bergen!« Bevor er sich zum Gehen wandte, fügte er noch hinzu: »Los, wir wollen zum Grenzposten zurück!«
César tippte mit einem Finger an seine Pelzmütze. »Macht’s gut.«
Johannot erwiderte seinen Gruß. »Danke. Grüß Angelina und Jean.«
Dann stapfte er mühselig hinter Berg zur Schutzhütte des Baou hinauf. Der Weg zum Grenzposten führte sie an der Hütte vorbei. César hingegen stieg hinab Richtung Tal.
Sie näherten sich der Hütte. Johannot entdeckte den schwarzen Fleck als Erster. »Berg, schau mal, was ist denn das da drüben?«
Berg hielt den Kopf gesenkt. Er versuchte, das Gesicht so gut es ging vor der schneidenden Kälte zu schützen. In Gedanken saß er schon am glühenden Ofen im Grenzhäuschen. »Was?«, fragte er.
Johannot hatte die ausgetretene Spur bereits verlassen und hastete auf den schwarzen Fleck zu. Unter dem Schnee war er kaum noch zu erkennen.
»Sieht fast aus wie ein Mensch«, brummte er. Er bemühte sich, schneller durch den weichen Schnee zu laufen.
Berg stapfte ihm langsam hinterher. Johannot kniete sich hin und brachte unter dem Schnee ein Gesicht zum Vorschein. Dann drehte sich Johannot um und rief den Hügel hinab: »César, he! César!«
Jetzt versuchte auch Berg zu rennen.
Als César Johannot hörte, kehrte er um. Er konnte zwar die Stimmen der beiden Männer nicht mehr genau unterscheiden, doch ihre Rufe klangen so ängstlich, dass er sofort zurücklief. Bald schon konnte er zwei graue Umrisse erkennen. Vor dem endlosen weißen Hintergrund beugten sie sich über eine dunkle Form. Er beschleunigte seinen Schritt. Dann sah er, dass es eine Frau war, deren Kopf Johannot stützte. Er versuchte, ihr einige Tropfen aus seiner Feldflasche einzuflößen. Die Unglückliche öffnete die Augen. César kniete sich neben sie.
»Wir müssen sie ins Dorf bringen«, sagte Johannot. »Du hilfst uns doch, nicht wahr, César?«
»Wie konnte sie nur bei diesem Wetter und in so einem Zustand hier heraufsteigen?«, murmelte Berg.
Johannot zuckte mit den Schultern. Im Augenblick wusste er nur eins: Die Frau musste so schnell wie möglich ins Dorf zu Doktor Guillaume gebracht werden. Doch bei diesem Sturm und in ihrer Verfassung war das leichter gesagt als getan.
»Beeilen wir uns! Schnell!«
»Sieht aus wie eine Gitana«, meinte Berg. »Wenn ich mich richtig erinnere, haben letzten Monat Gitanos ihr Lager im Tal aufgeschlagen.«
Die Frau stöhnte leise. Johannot legte ihr eine Hand auf die Stirn und redete verzweifelt auf sie ein: »Nur ruhig, meine Liebe. Keine Angst, wir sind ja bei dir.«
Er richtete sich auf und befahl: »Berg, du nimmst ihre Beine, und César und ich fassen sie unter den Armen. Wir müssen sie so schnell wie möglich ins Tal bringen. Und zwar vorsichtig!«
Doch César schüttelte den Kopf. »Dazu ist es zu spät. Wenn ein Mutterschaf erst einmal so dreinschaut wie diese Frau, dann weicht der Schäfer nicht mehr von seiner Seite.«
Mit dem Kopf deutete er auf die Schutzhütte: »Bringen wir sie besser dorthin. Bis ins Dorf ist es zu weit.«
Sie taten, was César gesagt hatte. Berg nahm die Beine, César und Johannot fassten sie unter den Armen. Sie kamen nur schwer voran, und die bewusstlose Frau wimmerte bei jedem Schritt. Ihr Schal war heruntergerutscht. Ihre langen braunen Haare hinterließen eine feine Spur im Schnee. In der Schutzhütte legten die Männer sie behutsam auf den fest gestampften Boden. Hier war sie wenigstens vor den Windstößen geschützt. Jetzt erst sahen sie, wie jung die Frau war. Mitleid versetzte den drei Männern einen Stich ins Herz.
César zog seine Jacke aus Schafsfell aus und schob sie vorsichtig unter den Körper der Frau.
»Bleib bei ihr, César!«, bat Johannot. »Berg und ich laufen ins Dorf und holen den Doktor.«
Als das Schneegestöber ihre Umrisse schon verwischt hatte, rief César ihnen noch nach: »Bringt meine Enkelin Angelina mit! Sie ist zwar noch jung, aber wahrscheinlich kann sie dem Doktor besser helfen als wir. Und denkt an alles für die Mutter … und für das Kind!«
Die letzten Worte hatte er etwas leiser und bedeutungsschwerer hinzugefügt. Es war, als hätte er schon jetzt voll und ganz die Verantwortung für Sébastien übernommen, auch wenn der noch nicht einmal auf der Welt war. Und das tat César nicht aus einer Laune heraus, sondern weil er ein menschliches Gewissen hatte. Nachdenklich schaute er Berg und Johannot hinterher, bis er sie nicht mehr sah. Dann ging er zurück in die Hütte. Es schneite nur noch wenig, aber der Sturm blies umso erbarmungsloser. Rund um die Hütte tobte der Kampf zwischen den Bergen und den Elementen. Seit den Anfängen der Welt war es der ewig gleiche Kampf: Mit schrecklichem Gebrüll schlug der Wind gegen die Felsmassen.
In der Hütte spielte sich ein anderer Kampf ab. César musste tatenlos zusehen. Während der Tod bereits die Hand nach der Frau ausstreckte, gebar sie ein neues Leben. Wieder einmal geschah das größte aller Wunder auf unserer Welt: Ein kleines Kind schickte seinen ersten, verzweifelten Schrei zum Himmel.
Der alte Mann machte nun dieselben Bewegungen, mit denen er auch schon so vielen Mutterschafen bei der Geburt ihrer Lämmer geholfen hatte. Dann nahm er die Jacke und wickelte das Neugeborene in das mollige Schafsfell. Die Mutter brauchte es nicht mehr …
Als die anderen aus dem Tal zurückkehrten, sahen sie César mit einem Bündel im Arm auf der Schwelle der Hütte stehen. Der Wind hatte sich gelegt. Die tiefe Stille, die jeder Schneefall mit sich bringt, erstreckte sich über die Berge. Stimmen und Geräusche drangen durch die Luft. Deutlich vernahmen sie alle den zornigen Schrei des Neugeborenen. Angelina war mit ihren vierzehn Jahren sehr leicht und erreichte die Hütte deshalb als Erste. Der junge Arzt folgte ihr auf dem Fuße.
»Du kommst zu spät,...
Erscheint lt. Verlag | 22.6.2023 |
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Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre |
Schlagworte | Abenteuer • Alpen • Berg • Dorf • Frankreich • Freundschaft • Hund • Waise |
ISBN-10 | 3-7152-7017-9 / 3715270179 |
ISBN-13 | 978-3-7152-7017-3 / 9783715270173 |
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