Die Smartphone-Waisen 1: Das Schloss der Smartphone-Waisen (eBook)
224 Seiten
Carlsen Verlag Gmbh
978-3-646-93665-0 (ISBN)
Salah Naoura, geboren 1964 in Berlin, studierte Germanistik und Skandinavistik in Berlin und Stockholm. Seit 1995 arbeitet er als freier Übersetzer und Autor und erhielt mittlerweile zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Deutschen Jugendliteraturpreis.
Salah Naoura, geboren 1964 in Berlin, studierte Germanistik und Skandinavistik in Berlin und Stockholm. Seit 1995 arbeitet er als freier Übersetzer und Autor und erhielt mittlerweile zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Deutschen Jugendliteraturpreis. Kai Schüttler wurde 1988 in Münster geboren. Dort studierte er später auch Design mit dem Schwerpunkt Illustration an der FH Münster. Seit 2017 lebt und arbeitet er als freiberuflicher Illustrator in Steinfurt.
2.
Noch ein Waisenkind
Vier Jahre später wohnte Marla nicht mehr bei Frau Kolokowski und ihrem stinkenden Hund, sondern in einem kleinen Haus mit schiefem Giebeldach, mitten in Berlin. Es stand in einem Hinterhof, angelehnt an eine hohe Mauer. Rings um das Haus lagen ein paar Gemüsebeete mit labberigen Salatköpfen und verwelkten Möhren, eingerahmt von einem weißen Holzzaun. Und nicht sehr weit vom Zaun entfernt parkten rostige Fahrräder und rollbare Mülltonnen.
Manchmal fiel der Sturm über den Hof her wie ein wildes Tier, dann zitterten die dünnen Wände des Hauses und die Fensterscheiben klirrten wie bei einem Erdbeben. Stell dir vor, du sitzt in deinem Zimmer und hast Angst, dass jeden Moment das Dach wegfliegt! Marla hielt sich die Ohren zu, wenn die Dachziegel klapperten und der kalte Wind durch alle Ritzen pfiff. Ja, bei Sturm war das kleine Hinterhofhaus wabblig wie ein Wackelpudding, im Sommer heiß wie eine Sauna und im Winter kalt wie eine Tiefkühltruhe. Aber Marla liebte es trotzdem und war sehr stolz darauf – besonders auf das große Messingschild an der Tür, auf dem in schnörkeligen Buchstaben zu lesen stand:
Es gibt nämlich leider noch mehr Leute, die manchmal ein bisschen unvorsichtig werden, wenn sie ein Telefon in der Hand halten. Das war nicht nur bei Marlas Eltern so gewesen. Seit ihrem Umzug nach Berlin hatte Marla mehrere Kinder kennengelernt, denen es ganz ähnlich ergangen war wie ihr. Und weil diese Kinder keine lieben Omas hatten, die sich um sie kümmerten und Torten backten, hatte Marla dort in dem kleinen Hinterhofhaus ein Wohnheim für Smartphone-Waisen gegründet. Vormittags, wenn die Kinder in der Schule waren, arbeitete sie in der Konditorei und leitete die Kirschbombenabteilung, und nachmittags, wenn die Kinder nach Hause kamen, leitete sie das Wohnheim.
Das kleine Waisenhaus im Hinterhof entwickelte sich prächtig. Marla arbeitete mit dem Jugendamt zusammen, und vier Jahre lang lief alles glatt und ohne Probleme – bis eines Tages … tja, bis eines Tages dieser schreckliche Brief im Postkasten lag. So ist das manchmal. Alles funktioniert fantastisch, und man denkt, so sollte es jetzt bleiben, die Zeit müsste anhalten, die Uhren müssten stehen bleiben, damit sich bloß nichts ändert. Und dann bekommt man einen einzigen Brief, und schon ändert sich alles! Ärgerlich, so was.
Der Brief kam einen Tag vor Beginn der Sommerferien. Er war vom Vermieter des kleinen Hinterhofhauses, und darin stand:
Liebe Frau Madelhuber,
Sie wissen, wie sehr ich mich immer über Ihr kleines, feines Waisenhaus bei uns im Hof gefreut habe, aber inzwischen ist das Gebäude so alt und baufällig, dass es nicht mehr renoviert werden kann, sondern abgerissen werden muss. Ein halbes Jahr haben Sie noch Zeit, dann müssen Sie leider ausziehen. Ich hoffe sehr, dass Sie schnell ein anderes geeignetes Haus finden!
Mit den besten Grüßen
B. Meyer
Marla erschrak. Ein halbes Jahr klang zwar recht lang, aber in Berlin, das wusste sie, war es fast unmöglich, ein neues Zuhause für sich und ihre Waisenkinder zu finden. Vor allem ein bezahlbares. Was würden sie dazu sagen, dass sie ihr kleines geliebtes Hinterhofhaus verlassen mussten? Wie sollte Marla es ihnen beibringen? Und wann? Ach, der Tag hatte so gut begonnen! Und dann das!
Sie wollte gerade ins Wohnzimmer gehen, um den Kindern von dem Brief zu erzählen – da klingelte es an der Tür.
Draußen stand Frau Jaletzke, die Frau vom Jugendamt, unter deren linkem Arm wie immer eine riesige geblümte Tasche klemmte, wodurch sie ständig so aussah, als wäre sie gerade unterwegs zum Strandbad. In Wirklichkeit aber befanden sich in ihrer großen Tasche keine Badesachen, sondern Aktenordner. An ihrer rechten Hand hielt sie, ebenfalls wie immer, ein Kind. Diesmal einen kleinen Jungen, der Marla durch die Gläser seiner Brille mit großen, ernsten Augen anguckte. Er wirkte ungewöhnlich ordentlich. Sein Haar war sorgfältig gescheitelt und gekämmt, und er trug einen altmodischen Wollanzug aus braunschwarzem Fischgrätenstoff, faltenfrei und sauber, wie eben erst gewaschen und gebügelt. Neben ihm stand sein Gepäck, ein kleiner brauner Aktenkoffer mit zwei goldglänzenden Schnappschlössern. Mehr nicht.
»Das ist Karl-Friedrich«, sagte Frau Jaletzke.
»Kalli«, verbesserte der Junge.
»Karl-Friedrich hat …«
»Kalli.«
»Verzeihung, Kalli hat leider keine Eltern mehr. Seine Mutter ist schon lange verschwunden, und sein Vater wurde vor ein paar Tagen von Bord eines Schiffes geweht, während er telefonierte … Ein trauriger Unfall. Sie haben doch noch ein Plätzchen für ihn, Frau Madelhuber? Das hier ist einfach das allerbeste Wohnheim für Smartphone-Waisen, das ich kenne … Und auch das einzige.«
Marla wusste genau, was sie eigentlich hätte tun sollen, aber manchmal meldet sich in solchen Situationen ja diese kleine, vorlaute Stimme der Unvernunft, die einen überredet, genau das Gegenteil von dem zu tun, was man müsste. So wie wenn du einen Teller mit gesunden Möhrchen und Brokkoli vor dir stehen hast, ihn wegschiebst und dir dann lieber leckere Pizza mit Döner und zum Nachtisch Eis bestellst.
Eigentlich hätte Marla Frau Jaletzke ja von dem schrecklichen Brief erzählen sollen, den sie gerade bekommen hatte, aber als sie sah, wie Kalli sie so hoffnungsvoll und traurig anblickte, flüsterte diese kleine, vorlaute Stimme der Unvernunft ihr ins Ohr, was sie sagen sollte, nämlich: »Natürlich haben wir noch ein Plätzchen für dich frei, Kalli. Du kommst genau im richtigen Moment, denn die anderen Kinder sind gerade von der Schule nach Hause gekommen, da kannst du sie gleich kennenlernen.«
Da griff Kalli nach seinem Aktenkoffer und betrat das Wohnheim, und Frau Jaletzke rief ihm noch hinterher, die erste Woche wäre auf Probe und dass sie ihm am nächsten Tag noch ein paar Anziehsachen aus seinem Kleiderschrank vorbeibringen würde …
Als Kalli mit seinem Köfferchen ins Wohnzimmer kam, erblickte er vier Kinder, die alle sehr beschäftigt waren. Das älteste war ein elf- oder zwölfjähriger Junge, der mit verknoteten Beinen in einem alten Sessel hockte und an einem Schal strickte. Seine blonden Haarsträhnen wippten bei jeder Handbewegung auf und ab, seine Stricknadeln klapperten, und die Augen hatte er halb zusammengekniffen und starr auf die Maschen gerichtet. Er war so vertieft in seine Arbeit, dass er nicht einmal den Kopf hob.
Die beiden Mädchen am Tisch waren in Kallis Alter und schienen Hausaufgaben zu machen. Die eine hatte braune Haut und schwarze Locken, die andere war sehr blass, und ihre langen roten Haare waren zu Zöpfen geflochten, die links und rechts von ihrem Kopf herabhingen wie zwei dicke rote Taue.
Das jüngste Kind war ein braunhäutiger, schwarzhaariger Junge, der auf dem Wohnzimmerteppich lag. Seine Lippen produzierten blubbernde Motorengeräusche, während er ein Spielzeugauto hin und her schob.
»Alle mal herhören«, sagte Marla. »Das hier ist unser neuer Mitbewohner, Kalli.«
Die vier Kinder drehten die Köpfe.
»Also, Kalli: Der Stricker auf dem Sofa ist Leo. Die beiden am Tisch sind Tara und Bhavani. Und der auf dem Teppich ist Bodhi, Bhavanis kleiner Bruder.«
»Aha.« Kalli stellte seinen Aktenkoffer ab. »Was ist denn mit euren Eltern passiert?«
Marla musste lächeln, weil tatsächlich jedes neue Kind diese Frage stellte. Vielleicht nicht ganz so fix wie Kalli, aber auf jeden Fall wollten die Kinder immer sehr schnell wissen, wie die anderen Smartphone-Waisen ihre Eltern verloren hatten.
»Meine Mutter fiel von einer Pyramide«, sagte Leo und strickte weiter.
»Von einer Pyramide?« Kalli runzelte die Stirn. »Wie kann man denn von einer Pyramide fallen? Wie kommt man überhaupt da hoch?«
»Es war eine mexikanische Stufenpyramide«, erklärte Leo. »Man steigt 91 Stufen hinauf, dann ist man oben.«
Leos Mutter war Influencerin gewesen und hatte im Internet Werbung für ungewöhnliche Kleider und Schuhe gemacht. Als sie in Mexiko die Pyramide hinaufstieg, trug sie flache Turnschuhe und ein rotes Kleid mit zwei langen Bändern, die im Wind tanzten wie rote Schlangen. Oben angekommen, zog sie für ihr Selfie rote Lackschuhe mit hohen Absätzen an, die passten gut zu ihrem Kleid. Doch als ihre Handykamera klickte, verfing sich eins der Bänder im Absatz ihres linken Schuhs, und Leos Mutter stürzte rückwärts von der Pyramide.
»Bei uns war es ein Zugunglück«, erzählte Bhavani. »Wir waren noch sehr klein und unser Vater wollte uns mit dem Rad zum Kindergarten bringen. Wir saßen hinten im Anhänger.«
»Papa hatte Kopfhörer auf und hörte Musik!«, rief der kleine Bodhi. »Deswegen hat er den Zug nicht bemerkt.«
Bodhis und Bhavanis Vater war an einem unbeschrankten Bahnübergang über die Gleise gefahren und vom Zug erfasst worden, aber der Anhänger mit Bodhi und Bhavani darin löste sich zum Glück und rollte rückwärts die Straße hinunter. »Genau in meine Arme«, erzählte Marla.
Als sie damals erfuhr, dass die Kinder niemanden mehr hatten, beschloss sie, sich selbst um die beiden zu kümmern. Aber es hatte mehrere Jahre gedauert, bis die Behörden es erlaubten. Und außerdem hatte es sehr viel Streit mit Frau Kolokowski gegeben, die weder Männer noch Kinder in ihrem Haus haben wollte. (Und natürlich keine Katzen, wegen ihrem stinkenden Hund.)
Doch dann, nach drei langen Jahren, fand Marla endlich das kleine, feine Haus im Hinterhof und konnte bei Frau Kolokowski und...
Erscheint lt. Verlag | 28.11.2022 |
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Reihe/Serie | Die Smartphone-Waisen | Die Smartphone-Waisen |
Illustrationen | Kai Schüttler |
Zusatzinfo | Schwarz-weiß illustriert |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre |
Schlagworte | Abenteuer ab 8 • Berlin • Bücher für Jungs ab 8 • Bücher für Jungs und Mädchen • Bücher für Mädchen ab 8 • Bücher über Freundschaft • Großstadtabenteuer • Großstadtmärchen • illustriert • Kinderkrimi • lustige Kinderbücher • Lustige Kinderbücher ab 8 • Matti und Sami und die drei größten Fehler des Universums • Preisgekrönter Autor • spannende Kinderbücher ab 8 |
ISBN-10 | 3-646-93665-7 / 3646936657 |
ISBN-13 | 978-3-646-93665-0 / 9783646936650 |
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