Everlove - Bis übers Ende dieser Welt hinaus (eBook)
464 Seiten
Fischer Sauerländer Verlag
978-3-7336-0528-5 (ISBN)
Tanya Byrne wurde in London geboren und lebt heute mit ihrem Hund Frida in Brighton, England. Als queere Autorin aus der Arbeiterklasse setzt sie sich leidenschaftlich dafür ein, das Verlagswesen für alle offener zu machen. Besonders wichtig ist ihr, Autor*innen aus Randgruppen zu ermutigen, ihre eigenen Geschichten zu erzählen.
Tanya Byrne wurde in London geboren und lebt heute mit ihrem Hund Frida in Brighton, England. Als queere Autorin aus der Arbeiterklasse setzt sie sich leidenschaftlich dafür ein, das Verlagswesen für alle offener zu machen. Besonders wichtig ist ihr, Autor*innen aus Randgruppen zu ermutigen, ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Stefanie Frida Lemke studierte Literaturwissenschaften in Hannover und Bristol. Nach verschiedenen Stationen im Lizenz-, Scouting- und Agenturbereich in München und New York lebt und arbeitet sie seit 2010 als Literaturübersetzerin aus dem Englischen in Berlin. Besonders gern übersetzt sie Bücher queerer Autor:innen.
Liebe
Alice Anderson ist genau da, wo Deborah sagte, dass sie sein würde: auf dem Kliff in Saltdean, den Blick aufs Meer gerichtet. Obwohl ich sie in ihrem pinken Pelzmantel gar nicht hätte übersehen können. Es ist die Art von Kleidungsstück, das ich im Laden sofort ansteuern, mich aber nie zu kaufen trauen würde. Ich würde ihn anprobieren, ein Selfie machen und ihn dann wieder weghängen und etwas Schlichteres kaufen. Etwas Schwarzes, das ich zur Schule tragen kann, ohne nachsitzen zu müssen.
Das ist mit das Schwerste daran, wie schrecklich normal sie sind. Alice könnte aus meinem Jahrgang sein oder das Mädchen hinter mir in der Umkleideschlange bei Primark. Eine x-beliebige Person, der ich schon mal auf der Straße begegnet bin, ohne dass sie mir vor heute Abend aufgefallen wäre.
Im Dunkeln ist es nicht so leicht zu sagen, aber ich schätze, sie ist in meinem Alter – sechzehn, vielleicht siebzehn. Der Wind weht ihr die blonde Lockenmähne aus dem Gesicht, so dass ich ihr Profil sehen kann. Die Augenfarbe kann ich nicht erkennen, aber die geschwungene Linie ihres Kiefers und die hübsche Stupsnase und dass ihr Lippenstift dieselbe Farbe hat wie der Mantel.
Dem knielangen Kleid und den Absatzschuhen nach zu urteilen war sie heute Abend aus. Es ist viel zu kalt für nackte Beine, aber vielleicht wollte sie ein Taxi nehmen, hat ihr Portemonnaie verloren und musste doch laufen. Oder sie hatte einen Streit mit ihrem Freund und wollte von hier aus lieber weiter zu Fuß nach Hause gehen, als sich von ihm auch nur ein Stück weiter mit dem Auto fahren zu lassen.
Ich weiß nicht, warum ich das mache, warum ich mir immer Geschichten zu ihnen ausdenke. Das geht wohl vorbei. Vielleicht in ein paar Monaten, wenn ich das hier so oft gemacht habe, dass ich mich nicht mal mehr an ihre Namen erinnere.
Doch bislang frage ich mich jedes Mal warum.
Warum sie?
Das Meer ist heute Abend rau, die tosende Brandung reißt euch einfach um und zieht euch rein, wenn ihr zu nah rangeht. Nicht dass mir das passieren könnte. Seit ich denken kann, habe ich Angst vorm Meer, und Abende wie heute rufen mir wieder ins Gedächtnis warum. Die Wellen sind so laut, dass Alice mich nicht kommen hört. Mit etwas Abstand bleibe ich stehen, denn ich sehe sie zittern.
Dieser Moment ist besonders, der benommene Zustand, wo du hier und doch nicht mehr hier bist und alles auf einmal fühlst – Angst, Freude, Hoffnung. Einen ganzen Schwall, eine Flut an Emotionen, es fühlt sich an, als würdest du ertrinken, als würde dir wer den Kopf unter Wasser drücken, und wenn du nur den Weg zurück an die Oberfläche findest, wird alles gut sein.
Es ist grausam, dieser Bruchteil einer Sekunde, in dem du glaubst, es geschafft zu haben, und vor Erleichterung wird dir ganz schwindelig. Ähnlich dem Moment, wenn du zum ersten Mal wen küsst und du dich fühlst, als würdest du schweben, als könntest du fliegen und den Himmel berühren. In genau dem Moment komme ich ins Spiel und stelle sicher, dass du es nicht tust.
Ich lasse Alice einen Augenblick Zeit, sich zu fangen, sehe zu, wie sie die Augen schließt und tief Luft holt. Sie erschaudert, und ich frage mich, ob das der Moment ist, wo ihr klar wird, dass da nichts ist.
Schließlich dreht Alice sich um, ihre blonden Locken wirbeln im Wind, und als sie mich sieht, weicht sie einen Schritt zurück.
Ich warte eine Sekunde, dann noch eine.
»Alice Anderson?«
Die Falte zwischen ihren hellen Augenbrauen vertieft sich. »Woher weißt du, wie ich heiße?«
»Ich bin Ash.«
Sie starrt mich an, und ich hebe kurz das Kinn. Sie braucht einen Moment, doch als sie begreift, dass ich ihr andeute, über die Kliffkante zu sehen, tut sie es, und dann gibt sie einen Schrei von sich, woraufhin die Möwen aufgeschreckt in alle Richtungen davonfliegen. Stolpernd tritt sie von der Kante zurück und schlägt sich die Hände vor den Mund. Als sie sich wieder umdreht, würde ich am liebsten weglaufen, denn was ist, wenn sie will, dass ich es ihr erkläre?
Sie will garantiert von mir hören, dass alles gut wird.
Aber das kann ich ihr nicht sagen.
Doch sie fragt nichts, und ich bin froh, dass sie nicht wissen will wie oder warum oder irgendeine andere Frage stellt, die ich nicht beantworten kann. Vielleicht will sie wissen wann. Das kann ich ihr sagen. Wenn ich eins hierbei gelernt habe, dann, dass in dem Moment, in dem all die Jahre, von denen du dachtest, du hättest sie noch vor dir, sich in wenige Sekunden auflösen, das Warum nicht mehr wichtig ist. Wichtig ist, wen du zurücklässt, und das verstehe ich am allerbesten, glaubt mir.
Wie gesagt, dieser Moment ist besonders. Die ganzen Dinge, die du getan und nicht getan, gesagt und nicht gesagt hast, plötzlich siehst du alles mit absoluter, erstaunlicher Klarheit. Manche Menschen warten ihr Leben lang auf diesen Moment. Sie klettern auf Berge und schwimmen durch Meere und lesen Bücher, in der Hoffnung, ihn zu finden. Ein paar Glücklichen gelingt es, aber den meisten von uns – Leuten wie mir und Alice Anderson und all denjenigen, die vor uns gingen und noch kommen werden – nicht, nicht bis es zu spät ist, und … Gott, es ist grausam, oder? Wenn du keine Zeit mehr hast, weißt du auf einmal genau, was du mit ihr hättest anfangen sollen.
Als Alice den Blick hebt und mir zum ersten Mal in die Augen sieht, frage ich mich, ob es das jetzt ist. Ob sie es weiß und alles aus ihr herausströmen wird. Alles, was sie hätte tun sollen. Die Lügen, die sie erzählt, und die Geheimnisse, die sie für sich behalten hat. Sie kann sie nicht mitnehmen, also wird sie sie bei mir zurücklassen. Alles, was sie sich gewünscht hat, als sie ihre Geburtstagskerzen ausgepustet hat. Ich bin da, und das hier ist ihre letzte Chance zu sagen, was ihr leid tut, wen sie liebt oder gern um Verzeihung bitten würde.
All die Male, die sie sich etwas hätte trauen sollen und es nicht getan hat. All die Menschen, die sie hätte küssen sollen und es nicht getan hat. All die Zeit, die sie verschwendet hat, indem sie zu vorsichtig oder zu höflich oder zu ängstlich war, wenn letztendlich nichts beängstigender ist als zu sehen, wie dein ganzes Leben zu einem einzigen Moment zusammenschrumpft, der gleich vorbei sein wird, ob du bereit bist oder nicht.
Vielleicht werde ich es gleich sehen – das Bedauern –, wie es von ihr ausstrahlt, durch ihre Kleidung hindurchbrennt, und sie wird nie wieder so lebendig wirken. Sie wird lachen und weinen und schreien, jede Emotion bis zur Erschöpfung völlig aufbrauchen, wie eine Glühbirne, die ein letztes Mal aufflackert und dann erlischt.
Doch Alice tut nichts davon. Sie erzählt mir keine Geheimnisse oder von ihrem Hund Chester, der nachts an ihrem Fußende schläft. Oder von dem Lippenstift, den sie letztes Jahr bei Boots geklaut hat, dem roten, der nicht mehr abgehen wollte, selbst als sie so fest daran rieb, dass ihr Mund sich tagelang wund anfühlte.
Mir sollte es eigentlich recht sein, dann muss ich nichts erklären, und wir können einfach gehen. Aber ich will es. Ich will, dass Alice mich fragt, wer ich bin. Wenn sie es täte, würde ich ihr sagen, dass ich Ashana Persaud heiße und sechzehn Jahre alt bin. Ich würde ihr erzählen, dass mein Lieblingssong »Rock Steady« ist, weil er meine Eltern bei jeder Hochzeit auf die Tanzfläche bringt, und mein Lieblingsfilm Dilwale Dulhania Le Jayenge, auch wenn ich immer behaupte, es sei The Shining, weil das einfacher ist. Ich würde ihr die Narbe an meinem Kinn zeigen, die ich habe, seit ich mit sechs von der Schaukel gefallen bin, und ihr von dem Tattoo erzählen, das ich mir mit achtzehn stechen lassen wollte. Ich würde ihr erzählen, dass ich Angst vorm Meer und vor Clowns habe und davor, angekotzt zu werden, und dass ich von hier aus sehen kann, wo ich vor zwei Wochen meinen letzten Kuss hatte, gleich da am Strand. Und vor allem würde ich ihr sagen, dass es nicht gerecht ist.
Es ist nicht gerecht, dass sie gehen kann, während ich hierbleiben und das hier machen muss.
Sie fragt aber nicht, und so stehen wir einfach da, an der Kante des Kliffs, der Mond wacht über uns, und unter uns lockt das Meer, bis sie schließlich sagt: »Der Mond sah so schön aus. Ich wollte nur ein Foto machen. Mir war nicht klar, dass ich so nah am Rand stehe, und dann …«, sie macht eine Pause und blickt hinauf zum Mond, »… dann war da auf einmal nichts mehr.«
Eine von Mascara gefärbte Träne läuft ihr über die Wange, und da bemerke ich, dass ihre Augen unter dem verschmierten Eyeliner braun sind, wie meine, aber das Licht dahinter ist verschwunden, und ich frage mich, wie sie wohl vorher aussahen. Bevor ich hierhergekommen bin. Und wer zu Hause auf sie wartet. Ob ihre Eltern noch wach sind und Newsnight gucken, damit es nicht so aussieht, als hätten sie auf sie gewartet. Ihre Mutter in einen dicken Morgenmantel gewickelt, das Telefon in der Hand, und ihr Vater achtet auf das Quietschen des Tors, gefolgt von Alice’ vorsichtigen Schritten, während sie in ihren Absatzschuhen über den Kiesweg balanciert.
Nur kommt sie nicht mehr nach Hause, nicht wahr? Bei dem Gedanken würde ich am liebsten abhauen und ins Meer rennen, mich vom Wasser runterziehen und hintragen lassen, wo auch immer mein Platz ist. Doch das kann ich nicht. Ich kann sie nicht hier zurücklassen. Also gehe ich zu ihr, stelle mich neben sie und blicke über die Kante. Es ist dunkel, aber ich sehe sie – Alice Anderson – unten auf dem Weg, ihre Glieder in unnatürlichen Winkeln auf dem Beton abgespreizt, eine Lache frisches Blut unter...
Erscheint lt. Verlag | 12.10.2022 |
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Übersetzer | Stefanie Frida Lemke |
Zusatzinfo | 5 sw Abbildungen |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Afterlove • Afterlove Tanya Byrne deutsch • Alice Oseman • Bisexuelle Schwule Transgender LGBTQ+ Lovestory Liebesgeschichte • Booktok • Emotionen • erste große Liebe • Gay Love • grim reaper • Jugendbücher Bücher Geschenkbücher ab 14 Jahren • Jugendbücher Jugendbuch über Queerness Diversity LGBTQ+ • Jugendbücher Jugendliteratur über Homosexualität Transgender • Jugendbücher Jugendroman Liebe Freundschaft Gefühle Sexualität • Jugendbuch Jugendroman Coming of Age Coming out Selbstvertrauen Selbstfindung • Jugendroman Fantasy Fantasie magische Liebesgeschichte Magic Romance • Loveless • neue Jugendbücher Jugendbuch Neuerscheinungen Bestseller 2022 • Unfalltod • Young Adult Romance Lovestory Liebesgeschichte |
ISBN-10 | 3-7336-0528-4 / 3733605284 |
ISBN-13 | 978-3-7336-0528-5 / 9783733605285 |
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