Das Glück in tausend Worten (eBook)

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2021 | 1. Auflage
320 Seiten
Dragonfly (Verlag)
978-3-7488-5045-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Glück in tausend Worten - Maria Andreu
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Liebe kennt keine Sprachbarrieren
Ana ist 16 und kommt aus Argentinien. Als ihr Dad sie und ihre Mutter zu sich nach New Jersey holt, weiß sie, dass sie sich glücklich schätzen müsste. Doch was soll sie tun, wenn im Unterricht die Sprache wie ein Rauschen an ihr vorbeizieht und sie kaum etwas versteht? Erst als sie den griechischen Jungen Neo kennenlernt, der an einem Wörterbuch über Glück arbeitet, findet auch Ana einen Umgang mit ihrer Fremdheit. Schon bald merkt sie, dass Sprache viel mehr bedeutet als einzelne Begriffe oder Sätze. Und dass sie mit ihren Gedichten andere im Innersten erreichen kann.
Dieser berührende Roman erzählt davon, wie man in der Fremde eine eigene Stimme finden kann

»Ich möchte dieses Buch allen Wörtersammlern und -sammlerinnen ans Herz legen und all denen, die das Spiel mir der Sprache lieben.« Andrea Wedan, Buchkultur, 12.2021

»Es ist ein stiller, aber eindringlicher Roman über Fremdsein, Nähe und Verstehen.« Rita Dell'Agnese, Jugendbuch-Couch, 01.2022

DAS EIS BRECHEN

Mein zweiter Schultag läuft nur geringfügig besser als der erste. Ich weiß, wo mein Schließfach ist, und ich weiß definitiv, dass ich in Mathe unter keinen Umständen nach vorn an die Tafel gehe. Wie ich zu meinen Kursen komme, weiß ich einigermaßen.

Ich schiebe mich gerade auf meinen Stuhl in EaZ, als Mr. T den Unterricht mit der Frage eröffnet: »Okay, wer von euch fand die Stunde gestern langweilig?«

Eins der Mädchen trägt eine rührend adrette Strickjacke. Ob ich wohl auch so aussehe, als wollte ich unbedingt gefallen? Ein anderes Mädchen in Jeans und Kopftuch starrt auf seinen Tisch. Ein Junge mit wirren braunen Haaren lehnt sich zurück.

Das ist eindeutig eine Fangfrage. Auch die anderen haben Mr. T durchschaut, denn niemand hebt die Hand.

»Na schön. ########## ### ###### #### Eisbrechern.«

Eisbrechern? Das habe ich bestimmt falsch verstanden. Hier ist nirgendwo auch nur die geringste Spur von Eis. Und überhaupt wüsste ich nicht, warum wir es brechen sollten. Mir schießt ein verrücktes Bild durch den Kopf, wie Mr. T einen riesigen Eisblock hereinschleppt und uns alle mit Stöcken darauf einschlagen lässt, als wäre es eine piñata, bis überall auf dem Boden kalte Splitter verteilt liegen. Das würde mir tatsächlich gefallen.

Offenbar spürt er die allgemeine Verunsicherung, denn er fügt hinzu: »Eisbrecher! Übungen, um ########### ############. Um uns besser kennenzulernen. Die hier heißt ›Die bewegte #########‹.« Er hält ein Blatt Papier hoch. Eine Anleitung aus dem Internet, die er sich ausgedruckt hat. »Erst einmal teilen wir uns in vier Gruppen auf, nach den ################# unserer Vornamen. A bis G hierhin. Los geht’s!«

Niemand bewegt sich. Wir schauen einander an, suchen nach Hinweisen.

»Du.« Mr. T deutet auf einen Jungen mit pechschwarzen Haaren, eisblauen Augen und drahtigem Körper. Verrate uns mal deinen Namen. »Wie heißt du?«

»Neophytos«, antwortet der Junge. Ich weiß, wie man den Namen schreibt, weil er auf dem Notizbuch auf seinem Tisch steht und ich ihn von hier aus erspähen kann. Neophytos trägt sein Hemd ordentlich in die Stoffhose gesteckt. Er ist genauso overdressed wie ich. »Neo«, ergänzt er knapper.

»Neo, okay, super. Dann bist du noch nicht dran. Du?«, fragt er den Jungen mit dem Turban neben Neo. Er hat echt schöne braune Augen und die coolste Handyhülle überhaupt. Sie sieht aus wie ein altmodischer Kassettenspieler.

»Bhagatveer«, antwortet er.

»Sehr gut, mit B, oder?« Der Junge nickt. »Hier rüber. Sagst du mir noch einmal, wie man den Namen ausspricht?«

»Bhagatveer«, murmelt der Junge.

Mr. T wiederholt es lächelnd. Anschließend zeigt er auf mich. »Und du?«

»Ana.«

Er wirkt sichtlich erleichtert, dass mein Name so kurz ist. »Ana. Zu den Bs.« Ich stelle mich zu Bhagatveer.

Mr. T geht den Rest der Leute durch, bis wir in vier Grüppchen zusammenstehen.

»Wunderbar. Seht ihr? Das ist schon mal eine Sache, die wir gemeinsam haben. Jetzt kommen alle zu mir, die etwas Blaues anhaben.«

Wir spielen mehrere Versionen davon durch, Farben, die wir tragen, ob wir lieber schwimmen oder Fahrrad fahren. Immer bilden sich andere Konstellationen. Ich schätze mal, das soll uns zeigen, dass uns mit jedem etwas verbindet.

»Die Jahreszeit, in der ihr Geburtstag habt. Frühling, Sommer, Herbst, Winter.« Er deutet auf vier unterschiedliche Bereiche des Zimmers.

»In welche Land?«, frage ich.

Er schaut mich verwirrt an. »Wann hast du Geburtstag, Ana?«

»Juli«, antworte ich.

»Okay, also Sommer. Da rüber.«

Ich pike mir mit dem Zeigefinger in die Brust. »In meine Land, Juli ist Winter.«

Langsam geht ihm ein Licht auf. »Hm? Ach ja, stimmt. Südhalbkugel. Gut, dann Winter.« Er deutet zum Jungen mit den schwarzen Haaren und eisblauen Augen. Neo.

»Schön, schön. Sieht aus, als wären wir ziemlich ########### ########. Was super ist, weil wir für die nächste Übung Zweiergruppen brauchen. Ihr stellt eurem Partner Fragen und findet etwas Interessantes über sie oder ihn heraus, das ihr anschließend mit dem Rest von uns teilen könnt. Alles klar?«

Ich starre den Jungen an. Unsere Wintergeburtstage haben uns zusammengewürfelt, was irgendwie unfair wirkt, immerhin haben wir in völlig unterschiedlichen Wintern Geburtstag. Glaube ich zumindest. Der Junge starrt zurück. Sein Blick ist wach, und er hat eine Sturmfrisur, wie jemand, der viel Zeit im Freien verbringt. Seine Haut ist sonnengebräunt, und seine markanten Augenbrauen geben bestimmt jede seiner Gefühlsregungen preis. Ich weiß nicht einmal, welche Sprache er spricht oder ob er überhaupt ein Wort Englisch kann. Nicht, dass ich so viel mehr könnte.

»Hi«, versuche ich es.

»Hallo«, antwortet er mit starkem Akzent.

Ich sage ihm, wo ich herkomme. »Und du?« Er zuckt die Schultern, und ich frage mich, ob er die Aufgabenstellung verstanden hat.

Ich hole mein Handy raus und öffne eine Weltkarte.

Dann deute ich auf ihn. »Deine Land?«, frage ich und reiche ihm das Handy.

»Ki-prosch«, sagt er und zeigt dabei auf seine Brust. Das hilft kein bisschen weiter. Er versucht ranzuzoomen, aber die Karte lässt sich nicht so weit vergrößern, wie er es gern hätte. Am Ende deutet er einfach irgendwo aufs Mittelmeer und runzelt die verräterischen Augenbrauen, was meinen Verdacht von eben bestätigt. Er gibt mir mein Handy zurück, holt sein eigenes raus und googelt.

Schließlich zeigt er mir sein Display. Dort ist eine Insel in der Form eines Lammkoteletts abgebildet. Zypern steht darauf.

»Sprichst du Griechisch?«, frage ich. Zu Hause in Argentinien haben wir Zypern in Erdkunde durchgenommen. Es liegt ganz im Osten des Mittelmeers, ist winzig und sieht aus, als würde es von Norden, Osten und Süden her von einem Maul aus Landmasse verschlungen. Ich erinnere mich noch, dass dort Griechisch gesprochen wird. Und Türkisch, glaube ich, auf einem Teil der Insel. Auf Spanisch heißt sie Chipre, was wie Vogeltschilpen klingt. Ich wünschte, ich könnte Neo das alles mitteilen. Um ihm zu sagen: Ich sehe dich. Ich weiß, dein Land ist klein, aber ich kenne es.

Er nickt als Antwort auf meine Frage. Ja zu Griechisch.

Ich schaue mich um. Die anderen Gruppen lachen, zeichnen Dinge füreinander. Im Vergleich dazu wirkt mein Partner, als würde ich ihn gegen seinen Willen verhören.

Ich warte auf eine Frage von ihm. Vergeblich. Das Schweigen zieht sich wie Kaugummi.

Irgendwann gebe ich auf. »Gut, ich erzähle dich von mir.« Ich denke an meinen Englischunterricht zu Hause in Argentinien zurück. »Ich schreibe Gedichte. Ich mag meine Familie und … Reisen.« Das ist nicht wirklich, was ich sagen wollte. Zumindest nicht alles. Ich mochte den Flug hierher, aber Reisen klingt, als hätte ich schon Erfahrung damit. Dabei ist es eigentlich ein Wunsch für die Zukunft. Ich will die ganze Welt sehen.

Noch mehr Schweigen. Er scannt mein Gesicht so gründlich wie ein Roboter. Erneut warte ich auf eine Frage von ihm. Vergeblich.

Schließlich versammelt der Lehrer uns wieder in der Mitte des Raums und lässt uns nacheinander berichten, was wir rausgefunden haben.

»Neo mag Autos«, lüge ich, nur um eine Reaktion von ihm zu provozieren. Vergeblich.

Mr. T nickt in Neos Richtung und sagt: »Super. Erinner mich dran, dir von meinem ersten Auto zu erzählen. ######################### #### Mustang. Ich bring dir Bilder mit. Und was hast du über deine Partnerin erfahren?«

Ist das ein Hauch Farbe auf seinen Wangen? Ein Funkeln in seinen Augen? »Ana mag die Fliegen«, sagt er.

Der Lehrer lacht, zusammen mit ein paar anderen, die offenbar verstehen, wie lächerlich diese Aussage ist. Ich drehe mich zu Neo und wünschte, ich hätte genug Worte, um ihn zu fragen, was zur Hölle das sollte. Er deutet ein verlegenes Lächeln an, sein allererstes bisher. Wie sich herausstellt, hat er ein Grübchen.

Mr. T erholt sich wieder. »Tja, jeder hat seine Vorlieben. Gut.« Er wendet sich dem nächsten Team zu.

Ich beuge mich zu Neo und flüstere: »Die Fliegen?«

Er streckt die Arme zur Seite wie Flügel. »Aeroplano.«

»Reisen? Flugzeug? Das ist nicht ›die Fliegen‹!«

»Tut mir leid«, sagt er, wirkt aber überhaupt nicht so. »Ich vergessen Wort.« Seine unwirklich blauen Augen scheinen mich anzulächeln.

Mr. T befragt die übrigen Grüppchen. Ich erfahre, dass Bhagatveer Eis mag und ein Mädchen namens Adira Videospiele. Schließlich bleiben nur noch zehn Minuten, bis die Stunde vorbei ist. »Okay …« Mr. T klatscht in die Hände. »Zeit für freies Schreiben. Ran an die Tagebücher.«

Kollektives Stöhnen, während alle ihre Notizbücher herauskramen. Ich blättere zu einer leeren Seite.

In den letzten vierundzwanzig Stunden habe ich schon drei Seiten gefüllt: mit Wörtern, die ich auf dem Schulflur aufgeschnappt habe, dem Namen des Songs, der im Radio lief, als mein Vater mich gestern abgeholt hat, und sogar mit ein paar Begriffen aus der Post, die ich gestern Abend aus dem Briefkasten gefischt habe und die meine Mutter direkt weggeworfen hat, weil nichts davon an uns adressiert war. Zuerst fand ich die Idee mit dem Tagebuch dämlich und hätte nicht gedacht, dass ich es überhaupt benutzen würde. Aber an einem Ort, an dem ich mich kaum zu sprechen traue, fühlt Schreiben sich gut an.

...

Erscheint lt. Verlag 21.9.2021
Übersetzer Katrin Segerer, Hanna Christine Fliedner
Sprache deutsch
Original-Titel Love in English
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte Erste Liebe • Fremdsein • Integration • Interkulturell • Jugendbuch • Jugendbuch ab 12 • Jugendbücher • Jugendbücher ab 12 • Jugendbücher ab 12 Mädchen • Jugendbücher für Mädchen • Jugendbücher Liebe • jugendbücher liebesromane • Jugendbücher Mädchen • jugendbücher mädchen ab 12 • jugendbücher roman • jugendbücher romane • jugendbücher romantik • Jugendbuch Liebe • Jugendbuch Liebesroman • Jugendbuch Mädchen • Jugendbuch realistisch • jugendbuch roman • Kulturelle Identität • Nicola Yoon • Poesie • Poetry Slam • Poet X • Sprache • Stimme finden • wer bin ich
ISBN-10 3-7488-5045-X / 374885045X
ISBN-13 978-3-7488-5045-8 / 9783748850458
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