Ein Häuptlingssohn am Ende der Welt
Gadla Henry Mandela ist ein Mann von aufrechter Haltung, unbeugsam und dickköpfig. Er kann zwar weder lesen noch schreiben, dafür aber wunderbare Reden halten. Gelegenheiten dazu hat er genug: Als hoch geachteter Thembu-Häuptling leitet er die wichtigsten Familienzeremonien im Dorf – Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen. Auch das Schlichten von Streitigkeiten gehört zu seinen Aufgaben. Ein reicher Mann ist Gadla Henry, vier Frauen kann er sich leisten. Jede Woche besucht er eine andere von ihnen und beaufsichtigt die Erziehung seiner 13 Kinder. Stolz blickt der Vater auf seine Nachkommen. Sie alle sind von königlichem Geblüt, denn Gadla Henry selbst stammt aus dem Haus der Thembu-Könige, wenn auch nur aus dem Zweig zur »linken Hand«, der nicht den König selbst stellt, sondern seine Berater.
Thembuland liegt an der östlichen Küste Südafrikas und ist Teil der Transkei, ein Gebiet etwa so groß wie die Schweiz.
Zu Beginn des letzten Jahrhunderts leben dort dreieinhalb Millionen Xhosa, zu deren Volk auch die Thembu im Norden gehören. Ihr König regiert das kleine Land mit Hilfe von vielen Häuptlingen, deren Ernennung er von seinem Kolonialherren, dem Magistrat, bestätigen lassen muss. Denn die schwarze Selbstverwaltung steht in allen Teilen Südafrikas unter weißer Oberaufsicht.
In Thembuland sind die Täler das ganze Jahr über grün, weil sie von unzähligen klaren Bächen und Flüssen durchzogen werden. Wie sanfte Wellen breiten sich die grasbewachsenen Hügel über das Land aus.
In dem kleinen Dorf Mvezo am Ufer des Mbashe-Flusses kommt Nelson Mandela zur Welt, am 18. Juli 1918. Gadla Henry nennt seinen Sohn Rolihlahla, was wörtlich übersetzt heißt: »Am Ast eines Baumes ziehen« oder sinngemäß: »Unruhestifter«.
Rolihlahla ist das älteste Kind von Gadlas dritter Frau, Nosekeni Fanny, und noch ein Kleinkind, als die Familie ihre Privilegien verliert. Ein Streit mit dem Magistrat kostet Gadla Henry die Häuptlingswürde und damit auch den größten Teil seines Vermögens – Land und Vieh. Nosekeni Fanny zieht mit ihren Kindern fort von Mvezo nach Qunu, 30 Kilometer von der Thembu-Hauptstadt Umtata entfernt. Dort lebt ihre Familie, die sie nach afrikanischer Sitte hilfsbereit in ihrer Mitte aufnimmt. Gadla Henry behält den Besucherrhythmus bei und wohnt einmal im Monat für eine Woche bei ihr und den Kindern.
In Qunu spielt sich das Leben seit Generationen nach demselben Muster ab. Die wenigen hundert Dorfbewohner leben in runden Lehmhütten, deren Grasdächer oben spitz zulaufen. Durch eine niedrige Öffnung gelangt man in die Hütte hinein und wird von Dunkelheit umfangen, denn Fenster gibt es nicht. Der Boden besteht aus zerstampfter Erde und wird regelmäßig mit frischen Kuhfladen geglättet. Rolihlahlas Familie besitzt drei Hütten, die von einem Zaun umschlossen einen Kraal, ein Gehöft, bilden. Die erste Hütte dient zum Lagern der Lebensmittel, in der zweiten wird gekocht und, wenn es draußen zu kalt ist, auch gegessen. Als Herd dient eine Feuerstelle in der Mitte der Hütte, darin steht ein dreibeiniger eiserner Topf. In der dritten Hütte legen sich die Familienmitglieder zum Schlafen auf dünne Matten nieder, die Köpfe betten sie auf ihre Ellenbogen.
Rolihlahla wächst in einer afrikanischen Großfamilie auf, in der keine Unterscheidung des Verwandtschaftsgrades gemacht wird, denn die Xhosa-Sprache kennt die Wörter »Tante«, »Onkel«, »Neffe« oder »Cousine« nicht. Alle Kinder aus einer Sippe sind Brüder und Schwestern und nennen die Erwachsenen Vater und Mutter.
Thembuland ist wunderschön, aber arm, der Boden karg und das Vieh mager. Auf den Weiden rings um das Dorf grasen Schafe, Ziegen, Rinder und Pferde. Qunu besitzt zwei kleine Grundschulen mit je einem Klassenzimmer, einen Kaufladen und ein großes Tauchbecken, in dem das Vieh der Dorfgemeinde von Zecken und Krankheiten befreit wird.
Das Leben ist einfach. Die Jungen, in ockerfarbene Wolldecken gewickelt, hüten das Vieh, das den Menschen viel bedeutet: Sie nutzen es nicht nur als Fleisch- und Milchlieferanten, sondern auch als Tauschmittel für andere Waren. So lässt sich an der Größe einer Herde der Wohlstand einer Familie ablesen. Auch der traditionelle Brautpreis, die lobola, wird mit Vieh bezahlt, und nur ein Mann, der Tiere besitzt, kann überhaupt heiraten.
Die Frauen und Mädchen kümmern sich um das Essen, das aus Mais, Hirse, Bohnen oder Kürbissen besteht. Nur wenige können sich ab und zu den Genuss so exotischer Luxusgüter wie Zucker, Kaffee oder Tee leisten, und Rolihlahlas Familie gehört nicht mehr zu den Reichen. Für die Hauptmahlzeit, meistens ist es Maisgrütze, kommt die Familie am Abend vor der Hütte zusammen und isst gemeinsam aus einem Topf. Das Wasser zum Kochen und Waschen schleppen die Frauen und Kinder täglich aus dem Fluss zum Kraal.
Wo aber sind die Männer des Dorfes? Die meisten von ihnen arbeiten in den Minen bei Johannesburg, hoch im Norden Südafrikas. Dort holen sie unter unmenschlichen Bedingungen die Schätze des Landes, Kohle, Erze und Gold, ans Tageslicht und schlafen in den für Wanderarbeiter errichteten Baracken. Früher waren sie alle Bauern und Selbstversorger, doch dann haben die weißen Kolonialherren eine Kopf- und Hüttensteuer erfunden, die es nötig machte, woanders Geld zu verdienen. Manche der Arbeiter kommen nur zweimal im Jahr zurück ins Dorf, um ihre Felder zu pflügen.
Rolihlahla ist mit fünf Jahren alt genug, um wie seine Freunde auf die Schafe und Kälber aufzupassen. Das ist keine schwierige Aufgabe und die Jungen haben viel Zeit zum Spielen auf dem veld. Sie bringen sich gegenseitig bei, mit der Steinschleuder auf Vögel zu schießen oder in den Bächen zu schwimmen und Fische zu fangen. Wenn sie durstig sind, trinken sie die Milch direkt aus den Eutern der Kühe, und gegen den Hunger gibt es Wurzeln und wilden Honig. Meistens bleiben die Jungen für sich, aber manchmal kommen auch die Mädchen mit aufs veld, dann spielen sie zusammen Verstecken, Fangen oder kheta – »Wähle, wen du magst« –, wobei die Jungen um die Bewunderung der Mädchen ringen.
Das Lieblingsspiel der Jungen aber ist thinti, der Kampf mit dem Stock. Rolihlahla träumt wie jeder afrikanische Junge davon, ein großer Krieger zu sein, und übt jeden Tag das Parieren von Schlägen, das Täuschen des Gegners und das schnelle Zuschlagen. Die Mannschaften von zwei Dörfern treten gegeneinander an, um ihre Kräfte im Stockspiel zu messen. Wer sich hier auszeichnet, gilt als Held, als Nachfahre der berühmten Xhosa-Krieger.
Sitte, Ritual und Tabu weisen den Menschen im Dorf einen sicheren Weg durch den Alltag. Mädchen lernen von ihren Müttern, welchen Platz das Leben für sie vorgesehen hat, Jungen von ihren Vätern. »Wie alle Xhosa-Kinder eignete ich mir Wissen hauptsächlich durch Beobachtung an. Wir sollten durch Nachahmen lernen, nicht durch Fragerei. Als ich später die Häuser von Weißen besuchte, war ich anfangs verblüfft über die Anzahl und die Art der Fragen, die Kinder ihren Eltern stellten – und über die ausnahmslose Bereitschaft der Eltern, diese Fragen zu beantworten. Bei uns galten Fragen als lästig; Erwachsene gaben Kindern Erklärungen, die sie für notwendig hielten.«
1 Wer die Grenzen nicht akzeptiert, muss mit dem Zorn der Ahnen rechnen. Um das schreckliche Leid abzuwenden, das die aufgescheuchten Geister anrichten, braucht es die Vermittlung der traditionellen Heiler oder der Stammesältesten. Besser ist es, so lernt Rolihlahla früh, sich streng an die Stammesregeln zu halten.
Vage sind seine Vorstellungen über die Weißen. Wer sind sie? Sind es Götter? Wenn nicht, warum haben sie so viel Macht? Ob es Ladenbesitzer sind, Magistrate, Polizisten oder die wenigen Reisenden, die sich in die Gegend verirren: Man schuldet ihnen Respekt, aber wer weiß schon, warum? Klarer erscheint ihm die Abgrenzung zu anderen Stämmen. Ein Xhosa heiratet zum Beispiel keine Sotho.
Im Dorf wohnen auch Angehörige der amaMfengu, die vor vielen Jahren als Flüchtlinge ins Land der Xhosa kamen und damals die Arbeiten verrichteten, die ein Xhosa verachtet hätte: Sie dienten den Weißen und wurden häufig zum Christentum bekehrt. Aus dem Kontakt zu den Missionsstationen aber erwuchs ihnen ein Bildungsvorsprung und zur Zeit von Rolihlahlas Kindheit verkörpern die amaMfengu den fortschrittlichen Teil der Gemeinde. Sie sind Geistliche, Dolmetscher, Lehrer, Beamte, Polizisten und sie tragen westliche Kleidung. Die Thembu beneiden sie ein wenig und halten sich von ihnen fern.
Gadla Henry, der sich wenig um Stammeszugehörigkeiten kümmert, hat zwei Freunde unter den amaMfengu, die Brüder Mbekela, von denen der eine Lehrer, der andere Polizist ist. Unter ihrem Einfluss lässt sich seine Frau Nosekeni Fanny zum Christentum bekehren. Auch Rolihlahlas Lebensweg wird von den beiden Männern beeinflusst, als sie Gadla Henry dazu raten, seinen aufgeweckten Sohn zur Schule zu schicken. Der Vater überlegt nicht lange. Warum sollte Rolihlahla eigentlich nicht lesen und schreiben lernen? Die Häuptlingswürde kann er zwar nicht erben, die geht an den ältesten Sohn seiner Hauptfrau. Aber vielleicht kann er ja später einmal Berater des Königs werden und dafür braucht er eine gute Ausbildung. Rolihlahla wird bei der Missionsschule der Methodisten angemeldet.
Am Abend vor dem ersten Schultag schenkt Gadla Henry seinem Sohn feierlich eine seiner eigenen Hosen. Er schneidet sie in Kniehöhe ab und zieht ein Stück Schnur durch die Schlaufen, damit sie nicht hinunterrutscht. »Ich muß einen komischen Anblick geboten haben, doch nie habe ich ein...