Das Wenige und das Wesentliche (eBook)

Ein Stundenbuch

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
208 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-8265-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Wenige und das Wesentliche -  John Düffel
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Ein Neujahrsmorgen im ligurischen Hinterland. Ein klösterliches Zimmer. Eine Landschaft, die zugleich karg ist und grün. In dieser stillen Umgebung, an diesem Tag des Anfangs und des Endes stellt sich die älteste Frage von allen noch einmal neu: Wie lebe ich richtig? Es beginnt ein Gedankengang durch die Stunden des Tages von vor Sonnenaufgang bis nach Sonnenuntergang, von den Anfängen der Lebensbetrachtung bis in die Gegenwart und darüber hinaus. Dieses Buch ist eine Einladung, die Suche nach der richtigen Richtung mitzugehen: im Nachdenken über Sinn und Sein, über die Lebensregeln des Wenigen und Wesentlichen sowie die klassischen Imperative der Schönheit, des Maßes und der Selbsterkenntnis. Der Romanautor und promovierte Philosoph John von Düffel hat mit diesem Brevier keine Geschichte im herkömmlichen Sinn geschrieben, sondern eine kleine Chronik des Klarwerdens darüber, wie sich ein Leben erzählt. Sprachlich verdichtet legt er einen lebensphilosophischen, literarischen Text vor. Die Antwort auf alles liegt in der gesellschaftlichen und zugleich ganz persönlichen Frage: In welcher Geschichte bin ich? An welchem Punkt dieser Geschichte? Und wie gehe ich weiter?

JOHN VON DÜFFEL, geb. 1966 in Göttingen, studierte Philosophie in Stirling, Schottland, und Freiburg im Breisgau und promovierte über Erkenntnistheorie. Er arbeitet als Dramaturg am Deutschen Theater Berlin und ist Professor für Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Seit 1998 veröffentlicht er Romane, Erzählungsbände sowie essayistische Texte bei DuMont, u. a. >Vom Wasser< (1998), >Houwelandt< (2004), >Wassererzählungen< (2014), >Klassenbuch< (2017), >Der brennende See< (2020), >Wasser und andere Welten< (Neuausgabe 2021), >Die Wütenden und die Schuldigen< (2021) sowie >Das Wenige und das Wesentliche. Ein Stundenbuch< (2022). Seine Werke wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem aspekte-Literaturpreis und dem Nicolas-Born-Preis.

JOHN VON DÜFFEL, geb. 1966 in Göttingen, studierte Philosophie in Stirling, Schottland, und Freiburg im Breisgau und promovierte über Erkenntnistheorie. Er arbeitet als Dramaturg am Deutschen Theater Berlin und ist Professor für Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Seit 1998 veröffentlicht er Romane, Erzählungsbände sowie essayistische Texte bei DuMont, u. a. ›Vom Wasser‹ (1998), ›Houwelandt‹ (2004), ›Wassererzählungen‹ (2014), ›Klassenbuch‹ (2017), ›Der brennende See‹ (2020), ›Wasser und andere Welten‹ (Neuausgabe 2021), ›Die Wütenden und die Schuldigen‹ (2021) sowie ›Das Wenige und das Wesentliche. Ein Stundenbuch‹ (2022). Seine Werke wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem aspekte-Literaturpreis und dem Nicolas-Born-Preis.

DIE ZEHNTE STUNDE

Die Geschichte, in der ich bin (Vor- und Zurückgehen)

Ich bleibe einen Augenblick stehen

Auf dem Grat

Der Bergrücken erstreckt sich

Kilometerlang

Es gibt keinen Gipfel zu erklimmen

Kein Plateau

Das als Ziel herhalten könnte

Die Bergspitzen in der Ferne

Sind unerreichbar

Auf einer von ihnen liegt Schnee

Würde ich anders gehen

Wenn ich wüsste, wie viele Schritte

Und Wege noch vor mir liegen

Würde ich anders leben

Wenn ich wüsste, wie viele Tage

Oder Jahre mir bleiben

Was würde ich tun

Wenn ich wüsste, dass morgen

Die Welt untergeht

Oder dass sie gestern schon

Untergegangen ist

Unbemerkt

Wenn ich etwas ändere

Ändert das etwas?

Die Frage, die ich dem Orakel

Stellen würde, wenn ich könnte, wäre

In welcher Geschichte bin ich?

Wenn das Leben ein Buch ist

Wie man sagt, dann ist es eins

Das nicht weitergeht

Als bis zu dieser Stunde, bis jetzt

Das macht es so schwer zu verstehen

Wir sind in einer Geschichte

Und zugleich im Geschehen

Versuchen, unser Leben zu leben und zu lesen

Alles zur selben Zeit

Ohne die Möglichkeit, vorzublättern

Zu den letzten Seiten

Und schon einmal den Schluss zu lesen

Um zu wissen, wie es ausgeht

Wir sind gefangen

In der Unaufhörlichkeit der Gegenwart

Fortlaufend

Wo komme ich her

Wo stehe ich

Wo gehe ich hin

Die drei Fragen der Lebenserzählung

Sind eng miteinander verknüpft

Ihr Zusammenhang ergibt die Geschichte

Da aber die Antwort aus der Zukunft fehlt

Sind auch die Antworten

Der Gegenwart und der Vergangenheit

Immer nur vorläufig

Niemand weiß, wo er steht

Ohne den ganzen Weg zu kennen

Auch wenn er weit gekommen ist

Stellt sich die Frage

Geht es weiter hinauf

Geht es abwärts

Oder bleibt es auf dieser Höhe

Mehr oder weniger

Wie soll ich meinen Standort bestimmen

Wenn ungewiss ist, ob ich am höchsten Punkt

Meines Weges bin oder ob er

Schon hinter mir liegt

Jeden Morgen die Frage

Kommt das Beste noch

Ist es das jetzt

Oder sind sie das schon gewesen

Die besseren Tage

Jeden Abend keine Antwort

Vielleicht ist die Frage falsch

Und es wird weder besser noch schlechter

Sondern immer nur anders

Und auch wieder nicht

Vielleicht bleibt sich im Grunde alles

Mehr oder weniger gleich

In welcher Geschichte bin ich?

Manchmal, wenn ich vorausschaue

Erscheint mir nichts schlimmer als die Ungewissheit

Angesichts dessen, was kommt

Manchmal erscheint mir meine Ahnungslosigkeit

Im Rückblick wie ein seliger Zustand der Unschuld

Gemessen daran, wie es gekommen ist

Manchmal weiß ich nicht, was schwerer auszuhalten ist

Die Frage, wie lebe ich richtig

Geht einher mit der Frage

Wie lese ich mein Leben

(Richtig)

Die Geschichte, in der ich bin

Zu verstehen, ist nicht nur schwer

Es scheint zum Verzweifeln unmöglich

Weil der entscheidende Teil fehlt

Die wichtigsten Kapitel sind ungeschrieben

Nemo ante mortem beatus

Niemand ist vor dem Tod selig zu nennen

Klarer lässt sich die Vorläufigkeit jeder Lebenserzählung

Nicht auf den Punkt bringen

Dem steilen Aufstieg

Folgt ein noch tieferer Fall

Glück schlägt um in Unglück

Ruhm in Vergessenheit

Ein großer Name wird Schall und Rauch

Bevor das Spiel nicht zu Ende gespielt ist

Kann sich alles in sein Gegenteil verkehren

Wenn wir die Leben anderer lesen

Gibt es Enden, Lebensenden

Die so zwingend erscheinen

So zwangsläufig, als wären sie

In der Vergangenheit angelegt und

Gewissermaßen immer schon da gewesen

So wie das Ende des Ödipus

Es scheint in seinem Anfang enthalten

Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen

Von unserem Tod

Wir erkennen ihn nur nicht

Obwohl er immer um uns ist

Wir sind blind für unser Ende

Todesblind

Doch womöglich entsteht der Eindruck, dass es

So kommen musste, so und nicht anders

Erst im Nachhinein, in der Rückschau

Wir lesen das Ende, wenn wir es kennen

Ins Leben hinein

Wenn wir den Tod einmal gesehen haben

Sehen wir ihn überall

Oft heißt es »tragisch«

Wenn am Ende ein schlimmer Tod steht

Doch ein tragischer Tod macht aus einem Leben

Noch lange keine Tragödie

Wir lesen die meisten Geschichten vom Ende her

So wie wir das Geschehen meist vom Ende her beurteilen

Als ginge es um ein Ergebnis, um die Summe

Von etwas, eine Lebensbilanz nach dem Motto

Abgerechnet wird zum Schluss

Es gibt kein Maß, keinen Maßstab für

Die Bewertung eines Lebens als Erfolgsgeschichte

Oder als eine Geschichte des Scheiterns

Man kann seine Ziele verfehlen

Enttäuschungen erleben, Rückschläge, Brüche

Doch was heißt es, sein Leben zu verfehlen?

Eine Richtung haben

Und aus der Bahn geworfen werden

Ist das ein Ende oder der Anfang

Einer tieferen, gründlicheren Suche

Einer Suche unter anderen Voraussetzungen

In anderen Richtungen

Und so unaufhörlich wie die Gegenwart

Ich ertappe mich dabei, den Tag zu bewerten

Die Bilanz einer Woche, eines Jahres zu ziehen

Ständig beurteile ich mein Leben, anstatt es zu beschreiben

Dabei ist die Beurteilung die schlechteste Erzählung

Und die Bewertung die schlechteste Beschreibung

In welcher Geschichte werde ich gewesen sein?

So wie die Frage nach dem richtigen Leben

Ist die Frage nach der Geschichte, in der ich bin

Eine des Lesens, der Lesart, des Standpunkts

Von wo aus und wie betrachte ich mich?

Lese ich mein Leben vom Ende her

Stelle ich mir vor, wie ich es sehen und

Verstehen werde auf dem Strebebett

Oder lese ich meine Geschichte

Aus dem Geschehen heraus

Im Moment des Erlebens

Nicht, dass ich die Wahl hätte

Auch die letzte Stunde auf dem Sterbebett

(Von der ich nicht wissen kann, ob es wirklich die letzte ist)

Wird nur eine Aneinanderreihung von Momenten sein

Ein Geschehen, dessen Geschichte ich mir

Zusammenreimen muss

Auch wenn das Ende ganz nah ist

Werde ich nicht wissen, wie es kommt

Und wann genau

Auch auf dem Sterbebett

Bleibt das Ende eine Fiktion

Eine sehr mächtige

Aber eine Fiktion bis zuletzt

Beim Lesen des eigenen Lebens

Gibt es keinen Standpunkt außerhalb

Keine Lesart vom Ende her

Nie werde ich das Ende wissen

Wenn es geschieht, ist es um mich geschehen

Ich habe keine andere Wahl

Als im Geschehen die Geschichte zu erkennen

In der ich bin und immer sein werde

In unaufhörlicher Gegenwart

Wenn das Ende gekommen ist

Bin ich nicht mehr da

Niemand ist vor seinem Tod selig zu nennen

Das Leben und Sterben der anderen lässt sich

Leicht überblicken, über die letzte Stunde hinaus

Das Ende gilt. Es kommt nichts mehr

Geschehen wird Geschichte

Abgeschlossene Vergangenheit

Die man beschreiben und bewerten kann

Unter Einrechnung dessen, was bleibt

So viel Abstand hat der Erzähler

Seiner Geschichte im Geschehen nicht

Er ist gefangen in der Vorläufigkeit seines Lebens

Und wird es auch noch auf dem Sterbebett sein

Selbst wenn ihm ein friedlicher Abschied vergönnt ist

Eine Rückschau mit einer inneren Ruhe

Die dem Blick von außen nahe kommt

Selbst dann gibt es keine Gewähr, keine Gewissheit

Dass sich im nächsten Moment nicht doch

Ein Abgrund auftut, wenn (falls)

Der Schleier weggezogen wird und enthüllt

Was keiner so hatte kommen sehen

Der Erzählende in seiner Erzählung zuallerletzt

Das Ende wird immer von anderen erzählt

Seine innere Wahrheit bleibt verschlossen

Sie kann tief sein und erschütternd

Doch auch sie ist immer jetzt, im Moment

Mit allen Störungen und Widerständen

Allen Unzulänglichkeiten der Gegenwart

Einem Kissen, das drückt, einer Stelle

Die schmerzt, einem Gedanken

Der mir entfällt

Warum sollte mein letzter Moment

Endgültig sein, warum mehr gelten

Als tausend andere Momente meines Lebens

In denen ich besser bei Kräften bin

Klarer sehe und denke

Warum sollte mein letzter Satz

Mehr über mich aussagen

Mehr Wahrheit enthalten

Nur weil ihm kein nächster folgt

Warum sollte die Rückschau

Die ich auf dem Sterbebett halte

Die Summe meines Lebens umfassen

Wenn mir schon vorher so vieles entglitten

Und für immer verloren gegangen ist

Nur weil ich nach diesem Blick zurück

Nicht mehr die Augen aufschlage

Es gibt beim Lesen des eigenen Lebens

Keinen ultimativen Standpunkt

Keine zeitlose Wahrheit

Keine Weisheit

Auf die es sich zu warten lohnt

Was mir in diesem Moment

Endgültig erscheint

Muss es im nächsten Moment

Nicht mehr sein

In der Vorläufigkeit meines Lebens

Schreibe ich mein Ende nicht selbst

Der letzte...

Erscheint lt. Verlag 15.11.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Geisteswissenschaften
Schlagworte Achtsamkeit • asketisch • Brevier • Einkehr • Erkenntnis • Gedanken • Italien • Klarheit • Lebensbetrachtung • Lebensphilosophie • Lebenssinn • Lebensweise • Maß • Meditation • Minimalismus • Nachdenken • persönlich • Philosoph • Philosophie • Reflexion • Regeln • Selbstbesinnung • Selbsterkenntnis • Stundenbuch • Suche • Tag • Tagebuch • wer bin ich • wesentlich
ISBN-10 3-8321-8265-9 / 3832182659
ISBN-13 978-3-8321-8265-6 / 9783832182656
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