Seneca - Epistulae morales ad Lucilium - Liber VIII Epistulae LXX - LXXIV (eBook)
96 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7557-5083-3 (ISBN)
Der Autor Michael Weischede hat Geschichte an der Ruhruniversität in Bochum studiert und arbeitet zurzeit als freier Schriftsteller in Dortmund.
Buch 8 – Brief 70
Seneca grüßt seinen Lucilius,
(1) Nach langer Zwischenzeit habe ich dein Pompeji besucht. Beim Anblick wurde ich in meine Jugend zurückversetzt; es schien mir, dass ich alles, was ich dort als junger Mann getan hatte, weiterhin tun kann und vor kurzem getan habe.
(2) Wir sind am Leben vorbeigesegelt, Lucilius, und wie auf dem Meer, um es mit unserem Vergil zu sagen,
[und] Länder und Städte entschwinden,
so haben wir in diesem Lauf der sehr flüchtigen Zeit zuerst die Kindheit aus dem Blick verloren, anschließend die Jugend, dann all jenes, das, an der Grenzlinie der beiden befindlich, zwischen der Jugend und dem Greisenalter liegt, schließlich die besten Jahre des eigentlichen Greisenalters; jüngst beginnt das allgemein übliche Ende des Menschengeschlechts sichtbar zu werden.
(3) Völlig verblendet denken wir, dass jenes die Klippe ist: es ist der Hafen, den man eines Tages aufsuchen muss, den man sich niemals verweigern darf; wenn irgendeiner innerhalb der ersten Lebensjahre in ihn hineingetrieben worden ist, darf er sich ebenso wenig beklagen, wie einer, der schnell gesegelt ist. Den einen nämlich, wie du weißt, necken und fesseln träge Winde und ermatten ihn zugleich aus Überdruss an untätiger Ruhe, den anderen lässt ein unablässig wehender Wind sehr schnell das Ziel erreichen.
(4) Idem evenire nobis puta: alios vita velocissime adduxit quo veniendum erat etiam cunctantibus, alios maceravit et coxit. Quae, ut scis, non semper retinenda est; non enim vivere bonum est, sed bene vivere. Itaque sapiens vivet quantum debet, non quantum potest.
(5) Videbit ubi victurus sit, cum quibus, quomodo, quid acturus. Cogitat semper qualia vita, non quanta sit. [sit] Si multa occurrunt molesta et tranquillitatem turbantia, emittit se; nec hoc tantum in necessitate ultima facit, sed cum primum illi coepit suspecta esse fortuna, diligenter circumspicit numquid illic desinendum sit. Nihil existimat sua referre, faciat finem an accipiat, tardius fiat an citius: non tamquam de magno detrimento timet; nemo multum ex stilicidio potest perdere.
(6) Citius mori aut tardius ad rem non pertinet, bene mori aut male ad rem pertinet; bene autem mori est effugere male vivendi periculum. Itaque effeminatissimam vocem illius Rhodii existimo, qui cum in caveam coniectus esset a tyranno et tamquam ferum aliquod animal aleretur, suadenti cuidam ut abstineret cibo, 'omnia' inquit 'homini, dum vivit, speranda sunt'.
(4) Bedenke, dass uns dasselbe widerfährt: die einen hat das Leben besonders schnell dorthin versetzt, wohin selbst die Zaudernden kommen mussten, die anderen hat es mürbe gemacht und abgehärmt. Wie du weißt, muss es nicht allezeit bewahrt werden; denn zu leben ist kein Gut, sondern tugendhaft zu leben. Daher lebt der Weise, so lange wie er muss, nicht so lange er kann.
(5) Er wird erwägen, wo er, mit wem er, auf welche Weise er leben, [und] was er tun will. Stets bedenkt er, wie das Leben beschaffen, nicht wie lang es ist. Wenn ihm viele beschwerliche und seinen Frieden störende Dinge entgegentreten, gibt er sich frei; und er tut dies nicht nur in der äußersten Not, sondern sobald das Schicksal anfängt, bei ihm Verdacht zu erregen, überlegt er gewissenhaft, ob er bei dieser Gelegenheit ablassen soll. Er glaubt, dass es für ihn keineswegs von Wichtigkeit ist, ob er das Ende setzt oder es entgegennimmt, ob es später eintritt oder früher: er ist [darüber] nicht besorgt wie über einen großen Verlust; tropfenweise kann niemand viel verlieren.
(6) Es tut nichts zur Sache, schneller oder langsamer zu sterben, wichtig ist es, gut oder schlecht zu sterben. Gut zu sterben, heißt aber, der Gefahr zu entgehen, schlecht zu leben. Daher halte ich den Ausspruch von jenem Rhodier für ausgesprochen weibisch, der, nachdem er vom Tyrannen in einen Käfig getrieben worden war und man ihn wie irgendein wildes Tier gefüttert hat, demjenigen, der ihm den Rat gab, sich der Nahrung zu enthalten, sagte: „Solange er lebt, muss sich der Mensch auf alles Hoffnung machen."
(7) Ut sit hoc verum, non omni pretio vita emenda est. Quaedam licet magna, licet certa sint, tamen ad illa turpi infirmitatis confessione non veniam: ego cogitem in eo qui vivit omnia posse fortunam, potius quam cogitem in eo qui scit mori nil posse fortunam?
(8) Aliquando tamen, etiam si certa mors instabit et destinatum sibi supplicium sciet, non commodabit poenae suae manum: sibi commodaret. Stultitia est timore mortis mori: venit qui occidat, exspecta. Quid occupas? quare suscipis alienae crudelitatis procurationem? utrum invides carnifici tuo an parcis?
(9) Socrates potuit abstinentia finire vitam et inedia potius quam veneno mori; triginta tamen dies in carcere et in exspectatione mortis exegit, non hoc animo tamquam omnia fieri possent, tamquam multas spes tam longum tempus reciperet, sed ut praeberet se legibus, ut fruendum amicis extremum Socraten daret. Quid erat stultius quam mortem contemnere, venenum timere?
(7) Auch wenn dies wahr sein mag, muss man das Leben nicht um jeden Preis erkaufen. Obgleich manches bedeutend, obgleich manches gewiss ist, werde ich trotzdem nicht durch ein schimpfliches Eingeständnis der Schwäche dahin gelangen: sollte ich eher erwägen, dass bei einem, der lebt, das Schicksal alles vermag, als ich erwägen sollte, dass das Schicksal bei einem, der zu sterben weiß, nichts vermag?
(8) Gleichwohl aber, selbst wenn der Tod unzweifelhaft bevorsteht und er weiß, dass die Hinrichtung für ihn beschlossen ist, wird [der Weise] die Hand nicht für seine Bestrafung ausborgen: er würde sie sich selbst gewähren. Torheit ist es, aus Furcht vor dem Tod zu sterben: er, der tötet, hat sich genähert – erwarte ihn. Warum reißt du ihn an dich? Weshalb nimmst du die Besorgung fremder Grausamkeit auf dich? Missgönnst du sie etwa deinem Henker? Oder schonst du ihn?
(9) Sokrates hätte seinem Leben durch Nahrungsverweigerung ein Ende bereiten und eher durch Hunger als durch Gift sterben können; doch er brachte in Erwartung des Todes dreißig Tage im Kerker zu; nicht in einem solchen Übermut, als ob alles [noch] werden könne, als ob eine so lang dauernde Zeit große Hoffnungen zulasse, sondern um die gesetzlichen Bestimmungen entgegenzunehmen, [und] um den Freunden zu gestatten, sich zum letzten Mal an Sokrates zu erfreuen. Was wäre törichter gewesen, als den Tod zu verachten, [aber] das Gift zu fürchten?
(10) Scribonia, gravis femina, amita Drusi Libonis fuit, adulescentis tam stolidi quam nobilis, maiora sperantis quam illo saeculo quisquam sperare poterat aut ipse ullo. Cum aeger a senatu in lectica relatus esset non sane frequentibus exsequis - omnes enim necessarii deseruerant impie iam non reum sed funus -, habere coepit consilium utrum conscisceret mortem an exspectaret. Cui Scribonia 'quid te' inquit 'delectat alienum negotium agere?' Non persuasit illi: manus sibi attulit, nec sine causa. Nam post diem tertium aut quartum inimici moriturus arbitrio si vivit, alienum negotium agit.
(11) Non possis itaque de re in universum pronuntiare, cum mortem vis externa denuntiat, occupanda sit an exspectanda; multa enim sunt quae in utramque partem trahere possunt. Si altera mors cum tormento, altera simplex et facilis est, quidni huic inicienda sit manus? Quemadmodum navem eligam navigaturus et domum habitaturus, sic mortem exiturus e vita.
(12) Praeterea quemadmodum non utique melior est longior vita, sic peior est utique mors longior. In nulla re magis quam in morte morem animo gerere debemus. Exeat qua impetum cepit: sive ferrum appetit sive laqueum sive aliquam potionem venas occupantem, pergat et vincula servitutis abrumpat. Vitam et aliis approbare quisque debet, mortem sibi: optima est quae placet.
(10) Scribonia, eine angesehene Frau, war die Tante von Drusus Libo, eines ebenso törichten wie vornehmen jungen Mannes, der sich Bedeutenderes erhoffte, als irgendeiner in jener Zeit oder er selbst in irgendeiner [Zeit] erhoffen konnte. Nachdem er in einer Sänfte in einem nicht sonderlich dicht gedrängten Trauerzug von einer Senatsversammlung krank nach Hause gebracht worden war – alle Vertrauten hatten ihn nämlich, nun nicht mehr als einen Beschuldigten, sondern als einen Todesfall, pflichtvergessen aufgegeben –, begann er Rat einzuholen, ob er den Tod freiwillig wählen, oder ihn erwarten soll. Ihm sagte Scribonia: „Warum macht es dir Freude, ein fremdes Geschäft zu betreiben?" Sie hat ihn nicht überzeugt: er legte Hand an sich – und nicht ohne guten Grund. Denn wer aufgrund eines Urteils des Feindes nach dem dritten oder vierten Tag sterben soll, betreibt ein fremdes Geschäft, wenn er am Leben bleibt.
(11) Möglicherweise kann man daher bei dieser Sache nicht im Allgemeinen entscheiden, ob, falls eine fremde Macht drohend den Tod ankündigt, ihm zuvorgekommen oder er erwartet werden soll; es gibt nämlich vieles, das zu beiden Seiten verleiten kann. Wenn der eine Tod von Folter begleitet, der andere natürlich und leicht ist, warum sollte man sich nicht letzteren zueignen? Gleichwie ich ein Schiff auswählen kann, um zu reisen, und ein Haus, um zu wohnen, so den Tod, um aus dem Leben zu scheiden.
(12) Wie überdies ein längeres Leben nicht unbedingt das bessere ist, so ist ein längerer Tod jedenfalls der schlechtere. Bei keiner...
Erscheint lt. Verlag | 21.2.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Geschichte der Philosophie |
ISBN-10 | 3-7557-5083-X / 375575083X |
ISBN-13 | 978-3-7557-5083-3 / 9783755750833 |
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