Hallo Angst! (eBook)
288 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-44078-3 (ISBN)
Selbst seit zwei Jahrzehnten von Angststörungen betroffen, weiß Katharina Altemeier, Jahrgang 1976, am besten, wie ein erfülltes Leben mit der Angst möglich ist. Sie setzte sich mit ihrer Angst zusammen, lernte sie richtig gut kennen und machte ihre Angststörung einfach beruflich zu ihrem Schwerpunkt. Heute lebt sie mit Angst, Mann und Sohn in München und im Chiemgau.
Selbst seit zwei Jahrzehnten von Angststörungen betroffen, weiß Katharina Altemeier, Jahrgang 1976, am besten, wie ein erfülltes Leben mit der Angst möglich ist. Sie setzte sich mit ihrer Angst zusammen, lernte sie richtig gut kennen und machte ihre Angststörung einfach beruflich zu ihrem Schwerpunkt. Heute lebt sie mit Angst, Mann und Sohn in München und im Chiemgau.
1.1 Wie die Angst sich in mein Leben einschlich
Es war alles gut, fast perfekt und doch stimmte irgendetwas gar nicht. Dieses Etwas verunsicherte mich, weil es spürbar, aber nicht greifbar war. Schon damals, in meiner frühen Kindheit, als ich ungefähr fünf Jahre alt war, kam ES in Abständen plötzlich über mich. Meistens in ruhigen Momenten. Abends im Bett vor dem Einschlafen, morgens im Halbschlaf, auf Autofahrten, beim Anstehen in Schlangen oder in Momenten, in denen es besonders schön war. Zum Beispiel, wenn ich an einem heißen Sommertag im Garten meiner Oma x-mal durch den Wassersprenger gerannt war, pitschnass und glücklich, mich dann mit einem Mini Milk in der Hand im Halbschatten auf einem Handtuch niederließ, das moosige Gras unter mir, in Gesellschaft gurrender Tauben, die ich nie zu sehen bekam, ihnen aber gerne zuhörte. Im Hintergrund: Geräusche meiner Oma, die im Haus hin und her stöckelte, das Teigrührgerät, die Kaffeemaschine oder das Radio, aus dem Udo Jürgens trällerte. Ein Augenblick, den ich als so geborgen empfand, dass ich schon in dem Augenblick Angst hatte, dass dieses Gefühl irgendwann einmal vorbei sein könnte. Ein normaler Gedanke in diesem Alter, in dem Kinder zum ersten Mal die Endlichkeit allen Seins erkennen. Doch bei mir blieb es nicht bei dem Gedanken, es kam eine körperlich spürbare Traurigkeitswelle über mich. Von einer Sekunde auf die andere. Ein diffuses Gefühlschaos von Angst, Unsicherheit und der Ahnung, dass sich schon bald alles auflösen könnte. Wie ein kleiner, gemeiner Pikser, der mitten in mein Glück stach und sagen wollte: »Es ist gar nicht so schön, wie du denkst. In Wirklichkeit ist alles schrecklich.«
Heute weiß ich, dass es nicht schrecklich war, aber eben auch nicht so schön, wie es schien: Als meine Mutter mit mir schwanger war, waren meine Eltern eigentlich schon nicht mehr zusammen. Insofern war ich auch nicht wirklich geplant. Meine Mutter verbrachte die Schwangerschaft allein, also ohne meinen Vater, der sich in eine andere Frau verliebt hatte. Sie wollte schon immer ein Kind und war entschlossen, das Ganze auch ohne ihn durchzuziehen. Trotzdem ging es ihr nicht gut und wie sie mir später erzählte, musste sie sehr viel weinen in dieser Zeit. Als ich schließlich am 10. Juni 1976 auf die Welt kam, kam auch mein Vater wieder zurück. Meine Eltern beschlossen, es noch einmal miteinander zu versuchen. Eine nachvollziehbare und anerkennenswerte Idee, die aber nicht funktionierte. Am wenigsten für mich, wegen der sie ja überhaupt auf diese Idee gekommen waren.
Familienspiele
Und so gaben wir nach außen das Bild der gutbürgerlichen Familie. Meine Mutter Lehrerin, mein Vater Arzt, wir spielten Tennis, fuhren in den Ferien nach Sylt oder nach Italien. Zum Einkaufen ging es in die nächstgrößte Stadt, denn in der westfälischen Kleinstadt, in der wir wohnten, war die Auswahl nicht wirklich groß. Das So-tun-als-ob-Spiel meiner Eltern gipfelte darin, dass sie fanden, es sei jetzt an der richtigen Zeit, ein Haus zu bauen. Ein ziemlich großes, in das wir am Ende allein einzogen. Meine Mutter und ich. Mein Vater schenkte uns einen Hund, einen Bobtail. Vermutlich als Ersatz oder einfach nur zur Aufheiterung.
Ich wusste zu diesem Zeitpunkt – ich war sechs – nicht, was dazu geführt hatte, dass mein Vater doch nicht mit uns zusammenleben konnte. Noch wusste ich, wer das entschieden hatte. Meine Mutter erzählte mir erst vor Kurzem, dass sie es war, die nicht mehr wollte, dass er mit uns lebt. Ich war intuitiv immer davon ausgegangen, dass mein Vater uns verlassen hatte. Keiner sprach offen mit mir so, dass ich es ansatzweise hätte verstehen können. Und so brannte sich bei mir vor allem eins ein: Meine Familie gibt es nicht mehr. Vielleicht hat es sie auch nie gegeben? Meine kurzen, diffusen Sorgenanfälle und der damit verbundene Instinkt, dass irgendetwas nicht stimmt, machten Sinn. Denn tatsächlich stimmte ja etwas nicht.
Dass dieses diffuse Unsicherheitsgefühl im Grunde richtig war, konnte ich als sechsjähriges Mädchen nicht erfassen. Im Gegenteil, es verwirrte mich und war mir vor mir selber unangenehm. Also versuchte ich, ES wegzudrängen. Selbst mit meiner geliebten Oma, bei der ich sehr viel Zeit verbrachte, die so etwas wie mein Sicherheitsanker war, habe ich nicht darüber gesprochen. Denn in dieser angespannten Situation wollte ich keine zusätzlichen Probleme verursachen.
Als sich meine Eltern endgültig trennten und auch scheiden ließen, war das für mich keine Überraschung, verstehen konnte ich es trotzdem nicht. Zumal uns mein Vater in unserem Haus sehr häufig nachmittags zum Teetrinken besuchen kam. An sich schön, weil ich meinen Vater immer trotz allem – trotz was eigentlich? – sehr lieb hatte. Doch kurz nachdem er uns ja, so wie ich dachte, verlassen hatte, konnte ich nicht nachvollziehen, warum er dann doch immer wieder zu uns kam und sich mit meiner Mutter auch noch wunderbar verstand. Warum konnte er dann nicht bei uns bleiben?
Die Situation wurde klarer, als wir zwei Jahre später nach München zogen. Meine Mutter hatte im Urlaub einen Bayern kennengelernt, der in unserem westfälischen Nest schnell von sich reden machte, weil er samstagmorgens schon mal gerne mit Gamsbarthut zum Brötchenholen ging, die Bäckereifachangestellte mit einem herzhaften »Grüß Gott« willkommen hieß und sie dann aufklärte, dass er keine Brötchen, sondern Semmeln wolle. Meine Mutter verliebte sich in ihn und fasste den mutigen Entschluss, alles hinter sich zu lassen. Ich bin ihr sehr dankbar für diesen Schritt, denn der Abstand zu diesen ganzen Verwirrungen tat auch mir sehr gut. Es fiel mir leicht, in der neuen Umgebung Fuß zu fassen, Freundinnen zu finden und auch meine kleinen schmerzhaften Pikser wurden weniger. Mein Vater heiratete die Frau, die er schon vor langer Zeit kennen- und lieben gelernt hatte und bekam noch ein Kind mit ihr. In den Sommerferien und an Ostern verbrachten wir Zeit miteinander, fuhren zum Skifahren nach Österreich oder an den Strand nach Dänemark. Die neue Familie meines Vaters, vor allem meine Halbschwester, die ich einfach nur wunderschön, fantastisch und zum Knuddeln fand, war für mich ein großer Gewinn. Langsam begann ich zu verstehen, dass es so für alle Beteiligten besser war.
Alles stinknormal?
Bis sich das wirre Angstgefühl aus meiner Kindheit wieder meldete, verging einige Zeit. Bis zur Pubertät. Die Phase, in der sich Angsterkrankungen sowieso besonders häufig entwickeln. Bis dahin war ich sehr sportlich, die »Leichtathletik-Queen«, was mir natürlich auch die Bewunderung vieler Jungs einbrachte. Ich war stark, galt als mutig, war bis auf Mathe gut in der Schule, schaute die Musiksendung Formel Eins, nahm wöchentlich die Bayern3-Top-Ten mit dem Kassettenrekorder auf und war großer Madonna- und (peinlich!) Boris-Becker-Fan. Alles stinknormal.
Bis eines Nachmittags Freunde meiner Eltern zu uns zu Besuch kamen. Ein einschneidendes Kaffeekränzchen, denn sie hatten auch ihren 14-jährigen Sohn dabei, den ich immer schon bewunderte. Er war schlau, traute sich, die heftigsten Fahrgeschäfte auf dem Oktoberfest zu fahren und er wusste irgendwie, was gerade angesagt war. Nach dem Kuchen lotste er mich in mein Zimmer, eine kleine Auswahl an Schallplatten unter dem Arm, die er mir unbedingt vorspielen müsse, sagte er. Wissend, dass es hier eben nicht nur um ein paar Platten ging, sondern um ein ganzes Universum namens PUNK. Es handelte sich um Platten der kalifornischen Band Dead Kennedys, der britischen Variante The Exploited, eine von den Ärzten und ganz wichtig, eine mit dem Titel »Porsche, Genscher, Hallo HSV« von vier Typen aus Hamburg, die sich die Goldenen Zitronen nannten und in mir etwas anzettelten, das so schnell nicht mehr in Schach zu halten war. PUNK war für mich der Stoff, von dem ich mehr haben wollte, der – neben dem altersbedingten Hormonschub – mein Leben durcheinanderwirbelte und alles infrage stellte, was bis dato galt. Ich fand Sport uncool (»Militärischer Drill«), Lehrer überflüssig (»Linke Spießerhippies« oder »Nazi-Faschos/Alt-Nazis«), arbeitende Menschen trostlos (»Marionetten des Kapitals«), der Staat und seine Regeln waren sowieso eine Zumutung und wie die rotzigste aller Punkbands Slime war ich davon überzeugt, dass Deutschland sterben müsse, damit wir endlich leben könnten. Ich färbte meine Haare erst wasserstoffblond, dann hennarot (keine gute Idee, weil die Endstufe oranges Haar bedeutete), ich trug Docs und sprühte No Future auf sie, kaufte ausschließlich auf Flohmärkten oder im Kleidermarkt ein – gerne Samtblazer oder Schlafanzughemden – ich fing an zu rauchen, auf Konzerte zu gehen und abends im Englischen Garten abzuhängen. Ich fuhr richtig gerne schwarz und setzte mich zu den Punks, die sich seinerzeit gerne um Brunnen in Fußgängerzonen versammelten. Boris Becker kam auf meine Liste der meistgehassten Personen – gleich nach Thomas Anders von Modern Talking. Ich fing an, das Musikmagazin Spex zu lesen, obwohl ich nur die Hälfte verstand, ging in alternative Plattenläden, um weitere Bands zu entdecken, und ich ließ mich allen Ernstes um 3 Uhr nachts wecken, weil dann die außergewöhnliche Independent-Musiksendung Off Beat im Fernsehen lief. Ich ging das Punk-Thema eher intellektuell an, nicht wie viele andere Menschen, mit denen ich mich umgab, zu deren Punk-Dasein auch Drogen gehörten. Aber vor Drogen, vor allem vor psychedelischen hatte ich viel zu viel Angst.
Punk war für mich ein Weg, meine Wut zu kanalisieren – auch ohne Drogen. Punk gab mir das Gefühl, vor nichts und...
Erscheint lt. Verlag | 13.4.2022 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Agoraphobie • Analyse • Angst • Angst annehmen • Ängste • Angsterkrankung • Ängste überwinden • angstfrei • Angststörung • angstzustände • Anxiety • Blockaden lösen • Burn-out • Coaching • Erfahrungsbericht • Erzählendes Sachbuch • Hilfe zur Selbsthilfe • Kreativität • Lebenshilfe • Memoir • Mut • Panik • Panikanfall • Panikattacke • Panik überwinden • Panikzustände • Phobien • Psychische Störung • Selbstheilung • Selbsthilfe • Selbstmitgefühl • Selbstsicherheit • Selbstwertgefühl • sich seinen Ängsten stellen • Sorgen • Sorgenfrei • systemische Berater • Systemische Beratung • Therapie • Verhaltenstherapie • Vertrauen • Zukunftsangst |
ISBN-10 | 3-423-44078-3 / 3423440783 |
ISBN-13 | 978-3-423-44078-3 / 9783423440783 |
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