Handbuch Jüdische Studien (eBook)
557 Seiten
Böhlau Verlag
978-3-412-52139-4 (ISBN)
Christina von Braun ist Prof. em. für Kulturwissenschaft und Co-Direktorin des Zentrums Jüdische Studien an der HU zu Berlin.
Christina von Braun ist Prof. em. für Kulturwissenschaft und Co-Direktorin des Zentrums Jüdische Studien an der HU zu Berlin.
Die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft
Christina von Braun
„Jude ist, wer eine Jüdin zur Mutter hat“ – die Gleichsetzung jüdischer Identität mit einer matrilinearen Deszendenz kannte das Alte Israel nicht.1 Die Geschichten der Bibel erzählen von einer langen Kette von Vater-Sohn-Erbschaften, wie sie in der Antike auch bei den anderen Völkern rund ums Mittelmeer üblich waren. Auch der in den christlichen Evangelien aufgeführte „Stammbaum“ Jesu mit seinen 78 Generationen in rein männlicher Erbfolge ist ein typisches Beispiel für eine agnatische Linie. Weil König David laut Hebräischer Bibel von Gott die Zusage der „ewigen Thronfolge“ erhalten hatte (2 Sam 7,12f), konstruieren das Lukas- und Matthäus-Evangelium für Jesus einen Stammbaum in rein männlicher Erbfolge, die ihn – der Weissagung entsprechend (Jes 11,1) – zum späten „Wurzelspross“ des königlichen Hauses David macht. Die vier „Stammmütter“, die in dieser Genealogie auftauchen, verdanken ihre Erwähnung nur dem Aussterben einer agnatischen Linie. Eine Ausnahme bildet einzig die unmittelbar letzte Generation, wo Jesus „aus dem Schoß einer Jungfrau“ geboren, also ohne einen leiblichen Vater gezeugt worden ist. Hier handelte es sich um eine Unterbrechung der Vater-Sohn-Erbfolge, die allerdings erst ab dem 3. Jahrhundert konstruiert wurde und letztlich ein Mittel darstellte, mit dem die Christen einerseits an der biblischen Patrilinearität festhalten, andererseits aber auch der rabbinischen Matrilinearität Rechnung tragen wollten und den Widerspruch schließlich durch eine göttliche Herkunft lösten.
Der Gegensatz von Judentum und Christentum, manchmal auch die Gemeinsamkeiten von Judentum und Hellenismus in der Antike, spielten eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft ab dem 1. Jahrhundert. Der interreligiöse und interkulturelle Kontext ist entscheidend für die Entstehung eines neuen Judentums. Das Jahrhundert, in dem das Christentum geboren wurde, markiert auch den Beginn der jüdischen Diaspora. Ab diesem historischen Moment musste die jüdische Gemeinde neue Formen des Zusammenhalts finden. Viele der Entscheidungen, die nun getroffen wurden, waren wiederum beeinflusst von der Abgrenzung gegen das Christentum wie auch vom Dialog mit der Kirche (siehe hierzu auch die Beiträge von Liliana Feierstein, S. 101 und Joachim Valentin, S. 127).
Welche neuen Formen des Gemeinschaftszusammenhalt gab es? Erstens die Hebräische Bibel, der heilige Text, der ab dem 6. Jahrhundert v. u. Z. allmählich kanonisiert, d. h. endgültig stillgelegt wurde. Die Entstehung der Heiligen Schrift begann mit Josija, König von Juda (638–608 v. u. Z.), wurde dann im babylonischen Exil um 587 v. u. Z. fortgesetzt und verwandelte die dann entstehende jüdische Gemeinschaft allmählich in die weltweit erste „textual community“2: Sie definierte sich weder durch ein bestimmtes Territorium noch durch eine erbliche Herrscherdynastie, sondern durch einen heiligen Text. Die hohe Bedeutung, die ihm beigemessen wurde, schlug sich auf unterschiedliche Weisen nieder: zunächst dadurch, dass mit den „Erzählungen“ der Bibel zugleich Gesetze formuliert wurden. Die fünf Bücher Mose, die Tora, hatten einen normativen Charakter (das war der Aspekt Gesetz). Ihnen wurden prophetische und Weisheits-Schriften zur Seite gestellt. Um etwa 100 u. Z. wurde endgültig festgelegt, welche hebräischen Schriften zum dreiteiligen Tanach gehörten (siehe hierzu auch den Beitrag von Elisa Klapheck, S. 83). Zunächst blieben noch griechisch übersetzte Bibelversionen neben dem Tanach bestehen, sie wurden später verworfen. Die Schrift war auch in anderer Hinsicht von Bedeutung: einerseits als heiliger Text, andererseits setzten die Mystiker, vor allem die Kabbalisten des Mittelalters, die Tora mit Gott gleich (siehe hierzu den Beitrag von Karl Grözinger, S. 193). Für andere repräsentierte die Heilige Schrift „das Leben“. Eine Tora, selbst wenn sie zerlesen und zerrissen ist, darf nie „weggeworfen“ werden; sie wird bestattet wie ein menschlicher Körper. Die Gleichsetzung von Tora und Leben findet auch etwa darin ihren Ausdruck, dass manche kinderlose Paare der Gemeinde zum Ersatz eine Torarolle spenden: Durch diesen Beitrag soll das „Fortleben“ der Gemeinde in der Schrift gesichert werden.
Der zweite Faktor des Zusammenhalts waren die Ritualgesetze: Sie lassen die vielen einzelnen Körper zu einem „Gemeinschaftskörper“ zusammenwachsen. Die Vorstellung, dass Menschen zu einer „Verwandtschaftsgruppe“ werden, weil sie die Nahrung teilen oder diese auf demselben Herd zubereiten, kannten viele vorschriftliche Gemeinschaften; sie findet sich bis heute in einigen Kulturen.3 Hier jedoch wurde ein ganzer Kodex von Verhaltensmustern festgehalten und, das vor allem, er wurde verschriftet. Viele der 613 mosaischen Vorschriften richten sich an die Leiblichkeit: Das gilt insbesondere für die Beschneidung, die für die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft von zentraler Bedeutung ist. Es gilt aber auch für die Speisegesetze, den Umgang mit Sexualität, Niederkunft, Krankheit und Tod, und es gilt für die nidda-Gesetze, die sich auf das weibliche Blut (während der Menstruation und nach der Niederkunft) beziehen. Manche der Regeln (z. B. die zur Beschneidung und zur Reinheit) haben eine hochaufgeladene Symbolik, mit der sich Anthropologen wie Mary Douglas,4 Kulturhistoriker wie David Biale5 und viele Religionswissenschaftler auseinandergesetzt haben. Einige Vorschriften – vor allem die Sexualgesetze – zielen auf die Regulierung der Fortpflanzung und den physischen Erhalt der Gemeinschaft ab: Das Regelwerk der Sexualität unterstand dem wachsamen Auge der Priester, später der Rabbinen (siehe hierzu auch den Beitrag von Tamara Or, S. 257).
Drittens beruhte der Zusammenhalt auf der Bestimmung der Herkunft. In dieser Hinsicht setzte sich mit dem Beginn der Diaspora im 1. Jahrhundert u. Z. ein grundlegender Wandel durch, der den sonstigen Entwicklungen in der antiken Welt zuwiderlief: Das Judentum entschied sich für das Prinzip der Matrilinearität, d. h. eine Art der Vererbungskette, die in weiblicher Linie – von Mutter zu Tochter – verläuft. Bei diesen Entwicklungen wirkten mehrere Faktoren zusammen: 1. die Kommunikationsmittel zur Herstellung der Gemeinschaftskohäsion; 2. die Charakteristika patrilinearer Erblinien und die sich davon abgrenzenden Eigenschaften jüdischer Matrilinearität; 3. das Verhältnis von Judentum und antiker Welt. Die Abgrenzung gegen Hellenismus und Rom ging später in die Abgrenzung gegen das Christentum über. Da bei jeder Form von Identitätskonstruktion – ob sie normiert ist oder nicht – die Abgrenzung gegen andere Identitäten von zentraler Relevanz ist, umfasst die Zugehörigkeitsdefinition auch immer das, was außerhalb der eigenen Grenzen liegt. Was für die Reinheit gilt – es gibt keine positiven Reinheitsbestimmungen, sondern nur solche, die definieren, was „unrein“ ist6 – gilt auch für Zugehörigkeitsregeln. Um die bestimmende Rolle der drei oben genannten Faktoren – Kommunikationsform, Erblinien, Beziehungsmuster – zu verstehen, bedarf es deshalb einer Betrachtung der gleichzeitig sich vollziehenden Entwicklungen in der nichtjüdischen Welt.
Kommunikation
Entscheidend für den Faktor Kommunikation war das Schriftsystem. Die Heiligen Schriften aller drei monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam (Der Koran nennt sie die „Religionen des Buches“) – sind in alphabetischen, also phonetischen Schriftsystemen geschrieben: Im Gegensatz zu logographischen Schreibweisen, bei denen Bilder Worte oder Ideen repräsentieren, überträgt diese Schriftart gesprochene Laute in visuelle Zeichen. Der Vorgang impliziert einen kaum zu überschätzenden Abstraktionsschub, weil das Alphabet die gesprochene Sprache dem Körper entreißt und den „Lebenssaft“ der gesprochenen Sprache, der nicht nur eine Gemeinschaft zusammenhält, sondern auch die psychische, emotionale und intellektuelle Verfasstheit des Sprechenden prägt, auf eine körperferne Weise zirkulieren lässt. Nicht durch Zufall entstand mit diesem Schriftsystem, das im semitischen Alphabet seine früheste Ausgestaltung fand, auch zum ersten Mal ein Gott, der jenseits der physischen Welt verortet wird und der sich einzig in den Buchstaben der Schrift offenbart. Die Entwicklung des Alphabets begann um ca. 1500 und war um 1000 v. u. Z. voll entwickelt. In der Bibelforschung gelten die Geschichte von Moses und Exodus heute als „Erzählungen“, mit denen nicht reale historische Ereignisse, sondern eine neue Weltinterpretation angeboten – oder ein Mentalitätswandel vollzogen – wurde. Trotz intensiver Forschung gibt es weder für eine Versklavung des jüdischen Volkes in Ägypten noch für eine Massenauswanderung archäologische Belege. (An Orten wie auf Elephantine, einer Flussinsel des Nil, gab es jüdische Siedlungen innerhalb...
Erscheint lt. Verlag | 11.10.2021 |
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Co-Autor | Inka Bertz, Daniel Boyarin, Liliana Feierstein, Cilly Kugelmann, Philipp Lenhard, Charlotte E. Fonrobert, Johannes Becke, Karl Erich Grözinger, Jenny Hestermann, Walter Homolka, Rainer Kampling, Nathan Kaplan, Elisa Klapheck, Gertrud Koch, Irmela von der Lühe, Michael A. Meyer, Jascha Nemtsov, Tamara Or, Sina Rauschenbach, Ilka Schneider-Quindeau, Julius H. Schoeps, Stefan Schreiner, Christoph Schulte, Stefanie Schüler-Springorum, Werner Treß, Joachim Valentin, Norbert Waszek |
Verlagsort | Göttingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie ► Judentum |
Schlagworte | Antijudaismus • Aschkenas • Geschichte des Judentums • Judentum • Jüdische Studien • Postzionismus • Zionismus |
ISBN-10 | 3-412-52139-6 / 3412521396 |
ISBN-13 | 978-3-412-52139-4 / 9783412521394 |
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