Der einarmige Pianist (eBook)

Über Musik und das Gehirn

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
448 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00090-2 (ISBN)

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Der einarmige Pianist -  Oliver Sacks
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«Dies ist Literatur, wie sie nur wenige, Freud vielleicht und C.G. Jung, schreiben konnten, und es ist zugleich sachliche Information.»«DIE ZEIT» über Oliver Sacks

Oliver Sacks, geboren 1933 in London, war Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Columbia University. Er wurde durch die Publikation seiner Fallgeschichten weltberühmt. Nach seinen Büchern wurden mehrere Filme gedreht, darunter «Zeit des Erwachens» (1990) mit Robert de Niro und Robin Williams. Oliver Sacks starb am 30. August 2015 in New York City. Bei Rowohlt erschienen unter anderem seine Bücher «Awakenings - Zeit des Erwachens», «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte», «Der Tag, an dem mein Bein fortging», «Der einarmige Pianist» und «Drachen, Doppelgänger und Dämonen». 2015 veröffentlichte er seine Autobiographie «On the Move».

Oliver Sacks, geboren 1933 in London, war Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Columbia University. Er wurde durch die Publikation seiner Fallgeschichten weltberühmt. Nach seinen Büchern wurden mehrere Filme gedreht, darunter «Zeit des Erwachens» (1990) mit Robert de Niro und Robin Williams. Oliver Sacks starb am 30. August 2015 in New York City. Bei Rowohlt erschienen unter anderem seine Bücher «Awakenings – Zeit des Erwachens», «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte», «Der Tag, an dem mein Bein fortging», «Der einarmige Pianist» und «Drachen, Doppelgänger und Dämonen». 2015 veröffentlichte er seine Autobiographie «On the Move». Hainer Kober, geboren 1942, lebt in Soltau. Er hat u.a. Werke von Stephen Hawking, Steven Pinker, Jonathan Littell, Georges Simenon und Oliver Sacks übersetzt. 

Vorwort


Wie merkwürdig doch der Anblick einer ganzen Spezies ist – Milliarden von Menschen, die mit bedeutungslosen Tonmustern spielen und ihnen lauschen, die einen großen Teil ihrer Zeit mit etwas beschäftigt sind, was sie Musik nennen und darin völlig versinken. Das war zumindest eine der menschlichen Eigenschaften, die die hochintelligenten Außerirdischen, die Overlords, in Arthur C. Clarkes Roman Childhood’s End (deutsch: Die letzte Generation, Berlin-Schöneberg 1960) verwirrte. Die Neugier, ein Konzert zu besuchen, führt sie auf die Erde, sie hören höflich zu und gratulieren dem Komponisten am Ende zu seinem «großen Einfallsreichtum» – finden die ganze Sache aber völlig unverständlich. Sie können sich einfach nicht vorstellen, was in Menschen vorgeht, wenn sie Musik spielen oder hören, weil in ihnen nichts vorgeht. Sie selbst sind eine Spezies, der Musik völlig fehlt.

Wir können uns vorstellen, wie sich die Overlords, zurück in ihren Raumschiffen, weiter den Kopf zerbrechen. Diese Sache, die sogenannte Musik, das müssten sie zugeben, übt irgendeine Wirkung auf die Menschen aus, ist von zentraler Bedeutung für das menschliche Leben. Trotzdem hat sie keine Begriffe, macht keine Aussagen; es fehlt ihr an Bildern, Symbolen, dem Stoff, aus dem die Sprache ist. Sie hat kein Darstellungsvermögen. Sie hat keine zwingende Beziehung zur Welt.

Es gibt vielleicht einige wenige Menschen, denen, wie den Overlords, der neuronale Apparat für die Wertschätzung von Klängen oder Melodien fehlt. Aber auf praktisch alle von uns übt Musik eine große Macht aus, egal ob wir uns nun für besonders «musikalisch» halten oder nicht. Die Neigung zur Musik, die «Musikophilie», zeigt sich schon im Säuglingsalter, ist in jeder Kultur greifbar und von zentraler Bedeutung und reicht wahrscheinlich in die frühesten Anfänge unserer Art zurück. Sie mag von den Kulturen, in denen wir leben, durch die Lebensverhältnisse oder durch individuelle Begabungen oder Schwächen, die uns als Individuen eigen sind, gefördert oder geprägt werden – doch sie ist so tief in der menschlichen Natur verwurzelt, dass wir versucht sind, sie als angeboren zu betrachten, ganz so, wie es E.O. Wilson von der «Biophilie» meint, unserem Verbundenheitsgefühl gegenüber anderen Lebewesen. (Vielleicht ist die Musikophilie ja eine Form der Biophilie, empfinden wir doch die Musik selbst fast wie ein Lebewesen.)

Während der Gesang der Vögel offenbar adaptiven Zwecken (Balz, Aggressivität, Abstecken der Reviergrenzen etc.) dient, ist er doch in seiner Struktur relativ im Nervensystem der Vögel weitgehend festgelegt (obwohl es einige wenige Singvögel gibt, die scheinbar improvisieren oder im Duett singen). Der Ursprung menschlicher Musik ist weniger leicht zu begreifen. Darwin selbst war offenbar verwundert, schreibt er doch in der Abstammung des Menschen: «Da dem Menschen weder das Vergnügen an der Erzeugung musikalischer Töne noch die Fähigkeit zu ihrer Erzeugung von geringstem Nutzen sind … müssen sie den geheimnisvollsten Eigenschaften zugerechnet werden, mit denen er begabt ist.» Und heute nennt Steven Pinker die Musik einen «auditiven Käsekuchen» und fragt: «Was für einen Nutzen könnte es haben, Zeit und Energie mit der Herstellung klimpernder Geräusche zu verschwenden? … Was die biologischen Wirkungszusammenhänge angeht, so ist Musik bedeutungslos … sie könnte der Menschheit verloren gehen, und der Rest ihrer Lebensweise bliebe praktisch unverändert.»

Obwohl Pinker selbst hochmusikalisch ist und sein Leben ohne Musik sicherlich als viel ärmer empfände, glaubt er dennoch nicht, dass es sich bei der Musik oder anderen Künsten um direkte evolutionäre Anpassungsfunktionen handelt. In einem Aufsatz gibt er 2007 zu bedenken, dass

viele der Künste womöglich gar keine adaptive Funktion haben. Es könnte sich um Nebenprodukte zweier anderer Eigenschaften handeln: der Motivationssysteme, die Lust auslösen, sobald wir Signale wahrnehmen, die mit adaptiven Folgen korrelieren (etwa Sicherheit, Sex, Wertschätzung, informative Umgebungen) sowie dem technischen Know-how, um bereinigte und konzentrierte Dosen dieser Signale zu erzeugen.

Pinker (und andere) glauben, dass zumindest einige unserer musikalischen Fähigkeiten zustande kamen, indem Systeme des Gehirns, die bereits zu anderen Zwecken entwickelt worden waren, benutzt, herangezogen oder hinzugezogen wurden. Dies hätte möglicherweise damit zu tun, dass es kein eigentliches «Musikzentrum» im menschlichen Gehirn gibt, stattdessen aber die Beteiligung eines Dutzends über das ganze Gehirn verteilter Netzwerke. Stephen Jay Gould, der als Erster die vieldiskutierte Frage nonadaptiver Veränderungen direkt anging, spricht in dieser Hinsicht nicht von Adaptationen, sondern von «Exaptationen» – und er bezeichnet die Musik als eindeutiges Beispiel für eine solche Exaptation. (William James schwebte offenbar etwas Ähnliches vor, als er schrieb, unsere Empfänglichkeit für Musik und andere Aspekte «unserer höheren ästhetischen, moralischen und intellektuellen Lebensäußerungen» hätten sich «durch die Hintertür» Eingang zu unserem Geist verschafft.)

Doch unabhängig von all diesen Erwägungen – von der Frage, inwieweit die musikalischen Fähigkeiten und die musikalische Sensibilität des Menschen im Gehirn verdrahtet oder das Nebenprodukt anderer Fähigkeiten und Neigungen sein mögen –, die Musik ist und bleibt in jeder Kultur von fundamentaler und zentraler Bedeutung.

Wir Menschen sind nicht weniger eine musikalische Spezies als eine sprachliche. Das zeigt sich auf vielfältige Weise. Jeder von uns kann (mit sehr wenigen Ausnahmen) Musik wahrnehmen: Töne, Klangfarben, Tonintervalle, melodische Figuren, Harmonien und (was vielleicht am elementarsten ist) Rhythmus. Alle diese Elemente fügen wir in unserem Geist zusammen und «konstruieren» Musik, indem wir verschiedene Teile des Gehirns verwenden. Zu diesem weitgehend unbewussten strukturellen Musikverständnis gesellt sich häufig noch eine intensive und tiefe emotionale Reaktion auf Musik. «Die unaussprechliche Tiefe der Musik», schrieb Schopenhauer, «so leicht zu verstehen und doch so unerklärlich, ist dem Umstand zu verdanken, dass sie alle Gefühle unseres innersten Wesens nachbildet, jedoch vollkommen ohne Wirklichkeit und fern allen Schmerzes … Musik drückt nur die Quintessenz des Lebens und seiner Ereignisse aus, nie diese selbst.»

Musik hören ist nicht nur ein akustischer und emotionaler Vorgang, sondern auch ein motorischer: «Wir hören Musik mit unseren Muskeln», schrieb Nietzsche. Wir schlagen den Takt zur Musik, unwillkürlich, selbst wenn wir nicht bewusst auf sie achten, und unser Gesicht und unsere Körperhaltung spiegeln die «Erzählung» der Melodie sowie die Gedanken und Gefühle wider, die sie hervorruft.

Vieles von dem, was geschieht, während man Musik wahrnimmt, kann auch geschehen, wenn Musik «im Geiste gespielt wird». Selbst bei relativ unmusikalischen Menschen ist die Vorstellung von Musik in der Regel bemerkenswert naturgetreu, nicht nur im Hinblick auf die Melodie und Stimmung des Originals, sondern auch auf Tonhöhe und Tempo. Das liegt an der außerordentlichen Beharrlichkeit des musikalischen Gedächtnisses, die bewirkt, dass vieles von dem, was wir in frühen Jahren gehört haben, für den Rest unseres Lebens ins Gehirn «eingemeißelt» bleibt. Unser Gehör, unsere Nervensysteme, sind nämlich ausgezeichnet auf Musik eingestellt. Allerdings wissen wir noch nicht, inwieweit das an den besonderen Merkmalen der Musik selbst liegt – ihrem komplexen Klangteppich, in die Zeit eingebetteten Klangmustern, ihrer Logik, ihrem Schwung, ihren unauflöslichen Sequenzen, ihren eindringlichen Rhythmen und Wiederholungen, der geheimnisvollen Weise, in der sie Gefühl und «Willen» verkörpert – und inwieweit an bestimmten Resonanzen, Synchronisationen, Schwingungen, wechselseitigen Erregungen oder Rückkoppelungen in dem ungeheuer komplexen, vielschichtigen neuronalen Schaltkreis, der der musikalischen Wahrnehmung und Wiedergabe zugrunde liegt.

Doch dieser wundervolle Apparat ist – vielleicht gerade weil so komplex und hoch entwickelt – für verschiedene Verzerrungen, Auswüchse und Pannen anfällig. Die Fähigkeit, Musik wahrzunehmen (oder sich vorzustellen), kann durch bestimmte Hirnschädigungen beeinträchtigt werden; es gibt viele Formen der Amusie. Auf der anderen Seite kann die musikalische Einbildungskraft exzessiv und unkontrollierbar werden, sodass es zur pausenlosen Wiederholung von Ohrwürmern oder sogar zu musikalischen Halluzinationen kommt. Bei einigen Menschen kann Musik Krampfanfälle auslösen. Es gibt spezielle neurologische Risiken, «Fertigkeitsstörungen», denen Berufsmusiker ausgesetzt sind. Unter gewissen Umständen kann sich die normale Verbindung von Intellekt und Emotion auflösen, sodass der Betroffene Musik einwandfrei wahrzunehmen vermag, doch gleichgültig und ungerührt bleibt oder, umgekehrt, leidenschaftlich bewegt ist, obwohl er sich nicht in der Lage sieht, irgendeinen «Sinn» in dem Gehörten zu erkennen. Manche Menschen – sogar eine überraschend große Zahl – «sehen» Farben oder haben verschiedene «Geschmacks-», «Geruchs-» oder «Tasterlebnisse», während sie Musik hören – obschon eine solche Synästhesie wohl eher als Begabung und nicht als Symptom anzusehen ist.

William James sprach von unserer «Empfänglichkeit für Musik»: Während Musik in der Lage ist, uns alle zu...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2021
Übersetzer Hainer Kober
Zusatzinfo Mit s/w Abb.
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Schlagworte Biopsychologie • Fallgeschichten • Gehirn • Krankheit • Musikalität • Neurologie • Populärwissenschaftlich • Psychiatrie
ISBN-10 3-644-00090-5 / 3644000905
ISBN-13 978-3-644-00090-2 / 9783644000902
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